Problemüberblick
Im Fall geht es um eine Wohnungseigentumsanlage, die es "baulich" noch nicht gibt. Auf dem in Wohnungseigentum aufgeteilten Grundstück gibt es nur ein teilweise abgerissenes Gebäude ("Altgebäude"). Warum? Der Bauträger, der den Erwerbern Wohnungseigentum versprochen hat, ist bereits während der Abrissarbeiten insolvent geworden. Um eine Wohnungseigentumsanlage herzustellen, müsste erstens das Altgebäude vollständig abgerissen werden. Anschließend müsste dann zweitens die Wohnungseigentumsanlage errichtet werden. Diesen Weg möchte Wohnungseigentümer K auch gehen. Die anderen Wohnungseigentümer wollen es mehrheitlich aber nicht. Fraglich ist, ob K seinen Willen gegen den Mehrheitswillen durchsetzen kann. Dazu ist zu fragen, ob § 22 WEG entsprechend anwendbar ist.
Steckengebliebener Bau
Der Anspruch auf Fertigstellung eines steckengebliebenen Baus besteht nach bislang h. M. nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 22 WEG entsprechend erfüllt sind. Dies sieht der BGH jetzt anders. Er meint, die Grenze bildeten Treu und Glauben (§ 242 BGB). Für die Praxis nennt er u. a. folgende Prüfsteine:
- Klärung des Fertigstellungsgrades der zu errichtenden Anlage.
- Die Frage, wie viel die Wohnungseigentümer bereits investiert haben und wie viel sie voraussichtlich noch investieren müssen.
- Den Rechtsgedanken des § 22 WEG, der eine gesetzgeberische Wertung enthält. Wenn die Wohnungseigentümer bei einer Zerstörung des Gebäudes von mehr als 50 Prozent für den Wiederaufbau nicht das investieren müssen, was sie schon einmal investiert haben, so kann das übertragen auf die Ersterrichtung bei einem steckengebliebenen Bau bedeuten, dass die Investition dessen, was ohnehin noch investiert werden sollte, grundsätzlich zumutbar ist. Kommt es aber zu Kostensteigerungen von über 50 Prozent des ursprünglich Kalkulierten, wird dies regelmäßig für eine Unzumutbarkeit der Ersterrichtung sprechen. Hierin liegt indes keine starre Grenze.
- Des Weiteren können Ersatzansprüche Dritter wegen bereits entstandener Schäden an Nachbargebäuden zu berücksichtigen sein.
- Steht die Zahlungsfähigkeit eines Teils der Wohnungseigentümer ernstlich in Frage – beispielsweise, weil bereits Sonderumlagen nicht bezahlt worden sind – und laufen die anderen Wohnungseigentümer Gefahr, die Kosten für die Fertigstellung jedenfalls vorschießen zu müssen und dadurch ggf. selbst in wirtschaftliche Schieflage zu geraten, kann dies ebenfalls eine Rolle spielen.
- Im Rahmen der Unzumutbarkeit können auch wirtschaftlich sinnvolle Alternativen zu betrachten sein. Findet sich etwa ein Investor, der bereit ist, alle Einheiten im derzeitigen "unfertigen" Zustand zu einem den Umständen nach angemessenen Preis abzukaufen, mag den Interessen einzelner Bauwilliger im Vergleich zu den Interessen einer verkaufswilligen Mehrheit weniger Gewicht beizumessen sein.
- Weiter wird ein eventuelles Näheverhältnis zwischen dem gegen den Mehrheitswillen bauwilligen Eigentümer und dem – im Regelfall des steckengebliebenen Baus insolventen – Bauunternehmer mit Blick auf ein eventuelles kollusives Zusammenwirken zu würdigen sein.
Was ist für die Verwaltungen besonders wichtig?
In entsprechenden Anlagen dürfte es noch keine Verwaltung geben. Wichtiger ist daher die Kenntnis von § 22 WEG. Der lautet: "Ist das Gebäude zu mehr als der Hälfte seines Wertes zerstört und ist der Schaden nicht durch eine Versicherung oder in anderer Weise gedeckt, so kann der Wiederaufbau nicht beschlossen oder verlangt werden".