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BSG Urteil vom 24.11.1971 - 4 RJ 279/70

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Leitsatz (amtlich)

Gewährt der Träger der Sozialhilfe einer Waise Hilfe zum Lebensunterhalt (BSHG §§ 11 ff), so erfaßt sein Ersatzanspruch (RVO § 1531 S 1), wenn die Waisenrente nicht ausreicht, auch die Witwenrente der Mutter der Waise (BSHG § 140).

 

Normenkette

RVO § 1531 S. 1 Fassung: 1931-06-05; BSHG § 140 Fassung: 1969-09-18, § 11 Abs. 1 Fassung: 1969-09-18

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Mai 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Beigeladenen die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Ersatzanspruch des Klägers, der zwei Waisen Hilfe zum Lebensunterhalt gewährte (§§ 11 ff des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -), außer den Waisenrenten, die zur Kostendeckung nicht ausreichen, auch die Witwenrente der Mutter der Waisen erfaßt (§ 1531 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Die Beigeladene und ihre beiden Kinder beziehen eine Witwenrente und Waisenrenten. Für die in Betracht kommende Zeit überwies die Beklagte dem Kläger die Waisenrenten in voller Höhe, von der Witwenrente nur einen Teil. Damit war die der Beigeladenen gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt ausgeglichen, nicht aber die den Kindern gewährte Hilfe.

Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger aus der Rentennachzahlung für die Beigeladene 194,84 DM zu zahlen (Urteil vom 14. November 1969). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 6. Mai 1970). Der Kläger - so hat das LSG ausgeführt - begehre Ersatz für monatliche Sozialhilfeleistungen, denen monatliche Rentenzahlbeträge ausreichender Höhe gegenüberständen (§ 1536 iVm § 1535 b RVO). Die Witwenrente werde erfaßt, weil § 140 BSHG die Personengleichheit herstelle.

Mit der Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung der §§ 1531 ff RVO iVm § 140 BSHG. Die Ersatzanspruchsregelung der §§ 1531 ff RVO setze eine Personengleichheit zwischen Rentenberechtigtem und Sozialhilfeempfänger voraus; § 140 BSHG könne nicht die Möglichkeit eröffnen, dem Kläger aus der für die Beigeladene festgestellten Witwenrente solche Sozialhilfeleistungen zu ersetzen, die nicht der Beigeladenen, sondern ihren Kindern gewährt worden seien.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Revision ist unbegründet.

Mit Recht haben die Vorinstanzen die Beklagte für verpflichtet erachtet, dem Kläger den durch Gesetz (§ 1536 iVm § 1535 b RVO) bestimmten Teil der Witwenrente als Ersatz für die den Waisen gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen. Richtig ist zwar, daß der Ersatzanspruch aus § 1531 Satz 1 RVO die Einheit der Person voraussetzt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III S. 970 a und 970 b; RVO-Gesamtkommentar, Anm. 5 a zu § 1531 RVO; Kommentar zur Reichsversicherungs-Ordnung, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger - Verbandskommentar - Anm. 5 zu § 1531). Hieran hat sich mit dem Inkrafttreten des BSHG (1. Juni 1962) nichts geändert. Jedoch ist auch die nach früherem Recht maßgebende einheitliche Betrachtung der Familiengemeinschaft erhalten geblieben.

Der Grundsatz der "armenrechtlichen Familieneinheit" war zwar einmal aufgegeben worden (RVA - GE Nr. 3025 - AN 1927, 247). Jedoch bestimmte § 5 der Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge, daß hilfsbedürftig ist, wer den notwendigen Lebensbedarf für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann und ihn auch nicht von anderer Seite, insbesondere von Angehörigen, erhält. Deshalb wurde das Familienhaupt immer dann als unterstützt angesehen, wenn die Fürsorgeleistung an ihn unter Berücksichtigung seines Familienstandes gewährt wurde oder wenn er zusätzlich zu seiner eigenen Unterstützung Familienzuschläge erhielt (vgl. Verbandskommentar aaO).

Von dieser Vorstellung ging die Bundesregierung in ihrem Entwurf des BSHG (BT-Drucks. III/1799; BT-Drucks. III/2673 S. 17) aus. Hilfe zum Lebensunterhalt sollte nach § 11 Abs. 1 des Entwurfs dem zu gewähren sein, der für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen den notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen könne. Der Bundestagsausschuß für Kommunalpolitik und öffentliche Fürsorge (BT-Drucks. III/2673 S. 4) befürchtete aber, daß diese Regelung zu rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten führen werde. Seine Neufassung des § 11 Abs. 1 BSHG, die nicht nur dem Haushaltsvorstand, sondern jedem Hilfsbedürftigen, also z. B. auch dem unterhaltsberechtigten Haushaltsangehörigen, einen selbständigen Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt einräumt, ist Gesetz geworden. Nach dem Wortlaut des BSHG und den Materialien dazu kann über diesen Gesetzesinhalt kein Zweifel bestehen.

Ebenso eindeutig ist aber auch, daß der Gesetzgeber die Ansprüche der Sozialhilfeträger auf Ersatz von Dritten im Verhältnis zu dem früheren Recht nicht einengte. Ausdrücklich wegen der grundlegenden Änderung des § 11 Abs. 1 BSHG wurde § 90 Abs. 1 Satz 2 BSHG eingefügt und wurde § 140 BSHG geschaffen (BT-Drucks. III/2673, S. 9 zu § 83 und S. 12 zu § 133 a). Diese Vorschriften sollen "sicherstellen, daß die den Fürsorgeträgern nach geltendem Recht gegebenen Möglichkeiten, von einem anderen Ersatz zu verlangen, trotz der Änderung des § 11 Abs. 1 auch nach dem neuen Recht in vollem Umfang gewährt bleiben". Die einheitliche Betrachtung der Familiengemeinschaft ist also für die Ersatzansprüche bestehen geblieben (vgl. Gottschick in DRV 1962, 155, 157).

Der Umstand, daß § 140 BSHG nicht im 5. Abschnitt ("Verpflichtungen anderer"), sondern im 14. Abschnitt ("Übergangs- und Schlußbestimmungen") zu finden ist, läßt nicht den Schluß zu, es handele sich nur um eine Regelung, mit der die bereits vor dem Inkrafttreten des BSHG entstandenen Ansprüche abgewickelt werden sollten. Das Gegenteil ergibt sich aus dem in den Materialien zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers, vor allem aber daraus, daß die Familiengemeinschaft auch in den Fällen des § 90 BSHG, der keine Übergangsvorschrift ist, Bedeutung hat. Den Ersatzanspruch der Sozialhilfeträger gegen die Sozialversicherungsträger (§§ 1531 ff RVO) im Verhältnis zu dem Ersatzanspruch gegen private und andere öffentlich-rechtliche Ersatzpflichtige (§ 90 BSHG) zu schmälern, wäre sinnwidrig, zumal sich § 140 BSHG auf gesetzliche Vorschriften bezieht, die dem § 90 BSHG vorgehen. Zu diesen gesetzlichen Vorschriften zählen die §§ 1531 ff RVO (BSG 21, 84, 85; Hebe in ZfS 1962, 37; Bacht in WzS 1962, 358; Mergler, Bundessozialhilfegesetz, 1963, Anm. 3 zu § 140; Sieg in SGb 1966, 161, 165 zu Anm. 53; Gottschick, Das Bundessozialhilfegesetz, 3. Auflage 1966, Anm. 1 zu § 140; Keese, Sozialhilferecht, 1969, Anm. 1 zu § 140 BSHG; Schellhorn-Jirasek-Seipp, Das Bundessozialhilfegesetz, 6. Auflage 1970, Anm. III zu § 140; Mandler in Mitt. LVA Oberfranken 1971, 58, 63). Im Schrifttum findet sich keine abweichende Meinung. Der Senat hat seine Rechtsauffassung bereits früher ausgesprochen (SozR Nr. 1 zu § 27 e des Bundesversorgungsgesetzes). Das Fehlen anderer gerichtlicher Entscheidungen läßt vermuten, daß die Sozialhilfeträger in den Fällen dieser Art bisher keine Schwierigkeiten hatten.

Die vom Senat gefundene Lösung ist sozialpolitisch gerechtfertigt. Sie schließt Doppelleistungen aus. Die unterhaltspflichtigen Rentenberechtigten sind - abstrakt betrachtet - gegenüber anderen Rentenberechtigten möglicherweise schlechter gestellt. Andererseits erfaßt der Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers von der Rente des unterhaltspflichtigen Rentenberechtigten immer nur denjenigen Anteil, der - gemessen an der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG - für die unterhaltsberechtigten Angehörigen hätte aufgewandt werden müssen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 222

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