Entscheidungsstichwort (Thema)
Pfändungsschutz. Einzelfallprüfung. Unterschiedslose Heranziehung von Berechnungsmodellen
Leitsatz (amtlich)
Die auf Antrag des Gläubigers vom Vollstreckungsgericht gem. § 850c Abs. 4 ZPO zu treffende Bestimmung hat unter Einbeziehung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalles und nicht lediglich nach festen Berechnungsgrößen zu erfolgen. Das schließt nicht aus, sich in diesem Rahmen an bestimmten Berechnungsmodellen zu orientieren. Ermessensfehlerhaft ist es lediglich, dieselbe Berechnungsformel unterschiedslos auf verschiedenartige Fallgestaltungen anzuwenden (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 21.12.2004 - IXa ZB 142/04, BGHReport 2005, 538 = FamRZ 2005, 438 = Rpfleger 2005, 201).
Normenkette
ZPO § 850c Abs. 4
Verfahrensgang
LG Nürnberg-Fürth (Beschluss vom 26.10.2004; Aktenzeichen 5 T 9354/04) |
AG Hersbruck |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Gläubigers wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des LG Nürnberg-Fürth v. 26.10.2004 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Wert: 576 EUR
Gründe
I.
Der Gläubiger betreibt gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung wegen einer Geldforderung nebst aufgelaufener Zinsen und Kosten.
Auf Antrag des Gläubigers hat das AG einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erlassen. Zeitlich hierauf hat der Gläubiger beantragt, die Ehefrau des Schuldners bei der Berechnung des pfändbaren Teils des Arbeitseinkommens nicht zu berücksichtigen. Die Ehefrau des Schuldners verfügt über eigene Einkünfte i.H.v. 410 EUR. Das AG hat gem. § 850c Abs. 4 ZPO bestimmt, dass die Ehefrau des Schuldners bei der Feststellung des unpfändbaren Einkommensteils als Unterhaltsberechtigte außer Betracht zu lassen sei. Auf die sofortige Beschwerde des Schuldners hat das Beschwerdegericht die Entscheidung des AG abgeändert und bestimmt, dass die Ehefrau des Schuldners bei der Berechnung seines pfändbaren Einkommens nur teilweise unberücksichtigt bleibe. Dem pfändbaren Betrag nach der unter Berücksichtigung der Ehefrau geltenden Tabellenstufe seien 40 % des Differenzbetrages, der sich aus der unter Berücksichtigung der Ehefrau geltenden und der vorherigen Tabellenstufe errechnet, hinzuzurechnen.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Gläubiger mit seiner zugelassenen Rechtsbeschwerde.
II.
Die gem. § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, dass der selbst über Einkommen verfügende Unterhaltsberechtigte nur dann bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens des Schuldners unberücksichtigt bleibe, wenn seine Einkünfte den Grundfreibetrag des § 850c Abs. 1 S. 1 ZPO für einen Schuldner ohne Unterhaltsverpflichtung erreichten oder überstiegen. Unterschreite das Einkommen des Unterhaltsberechtigten diesen Grundfreibetrag, entspreche es billigem Ermessen i.S.d. § 850c Abs. 4 ZPO, dem Schuldner den zusätzlichen Pfändungsfreibetrag für den Unterhaltsberechtigten mit eigenem Einkommen zu dem Bruchteil zu belassen, der sich aus dem Verhältnis des Einkommens des Unterhaltsberechtigten zum Grundfreibetrag ergebe.
2. Demgegenüber hält es die Rechtsbeschwerde mit dem AG für geboten, als Orientierungshilfe für die Ausübung des billigen Ermessens den örtlichen Sozialhilfesatz nach § 22 BSHG zu Grunde zu legen. Die Orientierung an den Regelsätzen der Sozialhilfe gewährleiste, dass die regional unterschiedlichen Bedarfssätze berücksichtigt würden. Diese regionalen Unterschiede des Lebensbedarfs kämen in dem starren bundeseinheitlichen Grundbetrag des § 850c Abs. 1 ZPO nicht zum Ausdruck. Die vom Beschwerdegericht angewandte Methode führe mithin zwangsläufig zu einer regional unterschiedlichen Bemessung, die das Prädikat "billig" nicht mehr verdiene.
3. Ab welcher Höhe ein eigenes Einkommen des Unterhaltsberechtigten seine Berücksichtigung bei der Bestimmung der Pfändungsfreibeträge aus Arbeitseinkommen des Unterhaltspflichtigen ausschließt, ist vom Gesetzgeber bewusst nicht im Einzelnen geregelt worden (BT-Drucks. 8/693, 48 f.). Nach § 850c Abs. 4 ZPO kann das Vollstreckungsgericht vielmehr auf Antrag des Gläubigers nach billigem Ermessen bestimmen, dass eine unterhaltsberechtigte Person mit eigenen Einkünften bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens ganz oder teilweise unberücksichtigt bleibt. Der BGH hat nach Erlass der angefochtenen Entscheidung des Beschwerdegerichts entschieden, dass die von Gesetzes wegen nach billigem Ermessen zu treffende Bestimmung des Vollstreckungsgerichts eine schematisierende Betrachtungsweise verbietet (BGH, Beschl. v. 21.12.2004 - IXa ZB 142/04, BGHReport 2005, 538 = FamRZ 2005, 438 = Rpfleger 2005, 201). Das Gericht hat vielmehr seine Entscheidung unter Abwägung der wirtschaftlichen Lage des Gläubigers und des Schuldners sowie der von ihm unterhaltenen Angehörigen zu treffen. Dabei können Pfändungsfreibeträge und Unterhaltstabellen Gesichtspunkte für die Ausübung des Ermessens geben; eine bloß einseitige Orientierung an bestimmten Berechnungsmodellen scheidet jedoch aus, weil sie dem Sinn des § 850c Abs. 4 ZPO widerspricht.
Dieser Entscheidung des IXa. Zivilsenats des BGH tritt der Senat bei. Eine nur einseitige Orientierung an bestimmten Berechnungsgrößen liegt jedoch nicht vor, wenn diese als Basis im Rahmen der nach § 850c Abs. 4 ZPO zu treffenden Ermessensentscheidung herangezogen werden. Denn das Zwangsvollstreckungsverfahren ist nach dem gesetzgeberischen Willen praktikabel zu gestalten (BT-Drucks. 8/693, 48 f.). Ermessensfehlerhaft ist es lediglich, dieselbe Berechnungsformel unterschiedslos auf verschiedenartige Fallgestaltungen anzuwenden.
Im Rahmen seiner Ermessensentscheidung hat das Vollstreckungsgericht zu erwägen, ob die eigenen Einkünfte des Unterhaltsberechtigten, die ihm für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung stehen, dergestalt zu berücksichtigen sind, dass dem Schuldner für den damit bereits gedeckten Bedarf des Unterhaltsberechtigten ein pfändbarer Einkommensbetrag nicht verbleiben muss. An die Überprüfung dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden, um das Vollstreckungsverfahren nicht unpraktikabel zu machen. Zu berücksichtigen ist einerseits, dass Einkünfte des Angehörigen auch nicht mittelbar zur Tilgung von Verbindlichkeiten des Schuldners dienen sollen. Andererseits muss ein vom Schuldner abhängiger Unterhaltsberechtigter gewisse Abstriche von seiner Lebensführung hinnehmen, wenn der Unterhaltsverpflichtete Schulden zu tilgen hat. Bei der Ermessensentscheidung hat das Gericht zu gewärtigen, dass der Grundfreibetrag des § 850c Abs. 1 ZPO regelmäßig auch dazu dient, zu einem erheblichen Teil die Wohnungsmiete und andere Grundkosten des Haushalts abzudecken. Diese Kosten erhöhen sich bei mehreren Personen nicht proportional zur Personenzahl. Lebt der Unterhaltsberechtigte mit dem Schuldner in einem Haushalt, ist es daher nicht gerechtfertigt, dass sich das Gericht bei seiner Ermessensentscheidung nach § 850c Abs. 4 ZPO einseitig am Grundfreibetrag des § 850c Abs. 1 S. 1 ZPO ausrichtet, wie es das Beschwerdegericht in schematischer Weise getan hat. In derartigen Fällen kommt in Betracht, bei der Berechnung des Freibetrages des Unterhaltsberechtigten die nach den sozialrechtlichen Regelungen die Existenzsicherung gewährleistenden Sätze heranzuziehen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Regelungen über die Pfändungsfreigrenzen dem Schuldner und seinen Unterhaltsberechtigten nicht nur das Existenzminimum sichern wollen, sondern eine deutlich darüber liegende Teilhabe am Arbeitseinkommen erhalten bleiben muss. Bei einer Orientierung an den sozialrechtlichen Regelungen wird daher im Rahmen der Ermessensausübung ein Zuschlag in tatrichterlicher Würdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen sein. Regelmäßig wird es nicht zu beanstanden sein, wenn das Vollstreckungsgericht diesen Zuschlag in einer Größenordnung von 30-50 % annimmt.
Führt der Unterhaltsberechtigte hingegen einen eigenen Haushalt und hat aus seinem Einkommen Mietzahlungen und die weiteren Grundkosten des Haushalts zu leisten, wird sein Lebensbedarf i.d.R. so hoch sein wie der des Schuldners selbst. In derartigen Fällen ist es nahe liegend und wird es regelmäßig billigem Ermessen entsprechen, als Orientierungshilfe den Grundfreibetrag des § 850c Abs. 1 ZPO zu Grunde zu legen (so auch Hintzen, NJW 1995, 1861 [1865]).
4. Das Verfahren ist danach an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, damit dieses unter Beachtung der oben dargestellten Rechtsgrundsätze, ggf. nach ergänzendem Vorbringen der Beteiligten, erneut über die sofortige Beschwerde des Schuldners entscheidet.
Fundstellen
Haufe-Index 1343818 |
NJW 2005, 3282 |
BGHR 2005, 1013 |
FamRZ 2005, 1085 |
NJW-RR 2005, 1239 |
JurBüro 2005, 438 |
WM 2005, 1186 |
FPR 2005, 473 |
InVo 2005, 279 |
MDR 2005, 1013 |
MDR 2006, 967 |
Rpfleger 2005, 371 |
ZInsO 2005, 887 |
FamRB 2005, 297 |
VE 2005, 131 |
ZVI 2005, 254 |
ZVI 2006, 51 |
ProzRB 2005, 176 |