Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für eine Anordnung der Betreuung. Sachverständigengutachten. Persönlichkeits- und Verhaltensstörung. Anhörung. Gelegenheit zur Stellungnahme. Betreuungsbeschluss
Leitsatz (redaktionell)
Dem Betroffenen ist vor der Durchführung der Anhörung im Betreuungsverfahren das Sachverständigkeitsgutachten zur Verfügung zu stellen, um ausreichend Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben.
Normenkette
BGB § 1896; Fam FG § 37
Verfahrensgang
LG Bayreuth (Beschluss vom 29.07.2015; Aktenzeichen 42 T 109/13) |
AG Bayreuth (Beschluss vom 26.03.2013; Aktenzeichen 7 XVII 854/12) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Bayreuth vom 29.7.2015 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Feststellungsantrag des Betroffenen zurückgewiesen worden ist.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Bayreuth vom 26.3.2013 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtsgebühren für das Verfahren werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Wert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Durch Beschluss des AG vom 26.3.2013 ist für den Betroffenen eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung "bezogen auf die Abhängigkeitserkrankung", Wohnungsangelegenheiten, Gesundheitsfürsorge "bezogen auf die Abhängigkeitserkrankung", Vermögenssorge und Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen des übertragenen Aufgabenkreises angeordnet und eine Berufsbetreuerin bestellt worden. Das LG hat die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen durch Beschluss vom 19.9.2013 zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist durch Senatsbeschluss vom 12.2.2014 (XII ZB 520/13) zurückgewiesen worden.
Rz. 2
Auf die vom Betroffenen eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG durch Beschluss vom 20.1.2015 (1 BvR 665/14, FamRZ 2015, 565) festgestellt, dass die im Rechtsmittelverfahren ergangenen Beschlüsse des LG und des Senats den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt haben. Es hat die Beschlüsse aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen.
Rz. 3
Weil das AG die Betreuung bereits zuvor durch Beschluss vom 21.10.2014 aufgehoben hatte, hat der Betroffene vor dem LG die Feststellung beantragt, dass der Beschluss des AG vom 26.3.2013 in rechtswidriger Weise ergangen sei. Das LG hat seinen Feststellungsantrag dahin verstanden, dass er (erneut) auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit des landgerichtlichen Beschlusses vom 19.9.2013 erreichen wolle, und hat dem Antrag insoweit stattgegeben. Den Feststellungsantrag bezüglich der amtsgerichtlichen Entscheidung vom 26.3.2013 hat es zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, der seinen Feststellungsantrag weiterverfolgt.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG statthaft (vgl. BGH Beschl. v. 28.4.2011 - V ZB 292/10, FGPrax 2011, 200 Rz. 9 m.w.N.) und auch im Übrigen zulässig. Sie ist auch begründet.
Rz. 5
1. Das LG hat seine Entscheidung damit begründet, dass sich die Rechtswidrigkeit der amtsgerichtlichen Entscheidung nicht feststellen lasse. Nach dem Ergebnis des eingeholten Sachverständigengutachtens sei es aufgrund des jahrelangen Alkoholmissbrauchs beim Betroffenen zu einer nachweisbaren Stirnhirnatrophie gekommen, die zu Funktionseinschränkungen dieses speziellen Hirnbereichs geführt habe, welche sich in einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung ausdrückten. Aufgrund der erstinstanzlichen Äußerungen des Betroffenen und der ehemaligen Betreuerin sei es nicht zu beanstanden gewesen, dass das AG die Betreuung angeordnet habe. Da der Betroffene sich ausweislich des Akteninhalts im erstinstanzlichen Verfahren nicht gegen die Betreuung gewandt habe, habe das AG auch nicht prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine Anordnung der Betreuung gegen den freien Willen des Betroffenen vorgelegen hätten. Daher lasse sich nicht feststellen, dass der amtsgerichtliche Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt habe.
Rz. 6
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.
Rz. 7
a) Das LG ist allerdings zu Recht und übereinstimmend mit dem BVerfG (Beschl. v. 20.1.2015 - 1 BvR 665/14, FamRZ 2015, 565 Rz. 29) davon ausgegangen, dass der Betroffene seinen der Betreuung entgegenstehenden Willen erstmals im Beschwerdeverfahren geäußert hat.
Rz. 8
Die hierzu von der Rechtsbeschwerde erhobene Rüge, dass das AG seine Aufklärungspflicht nach § 26 FamFG verletzt habe, ist nicht begründet. Das AG hat den Betroffenen persönlich angehört. In der Anhörung hat dieser einen der Betreuung entgegenstehenden Willen nicht geäußert. Im Zusammenhang mit seiner näher begründeten Äußerung gegenüber dem Sachverständigen, dass er seine Probleme nicht mehr lösen könne und Hilfe brauche, konnte das AG davon ausgehen, dass der Betroffene keinen der Betreuung entgegenstehenden Willen hatte. Dass schriftsätzliche Äußerungen des Betroffenen einen Aufklärungsbedarf ergeben haben sollen, ist mangels konkreter Bezeichnung des betreffenden Vorbringens bereits nicht hinreichend spezifiziert gerügt worden. Schließlich musste das AG der protokollierten Erklärung des Betroffenen im Rahmen der Anhörung ("Was soll ich gegen Unabänderliches sagen") nicht die Bedeutung zumessen, dass er damit der von der Richterin angekündigten Betreuungsanordnung widersprechen wollte.
Rz. 9
Das LG hat daher im Ergebnis zu Recht darauf abgestellt, dass für das AG noch keine Veranlassung bestand, sich mit den Anforderungen an einen der Betreuung entgegenstehenden freien Willen gem. § 1896 Abs. 1a BGB auseinanderzusetzen.
Rz. 10
b) Die Rechtsbeschwerde rügt indessen zu Recht einen Verstoß gegen § 37 Abs. 2 FamFG, weil dem Betroffenen das Sachverständigengutachten erst in der Anhörung überlassen worden ist.
Rz. 11
Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungsgrundlage erfordert nach § 37 Abs. 2 FamFG, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat (vgl. BGH v. 16.9.2015 - XII ZB 250/15, FamRZ 2015, 2156 Rz. 15 m.w.N.; v. 6.7.2011 - XII ZB 616/10, FamRZ 2011, 1574 Rz. 11 m.w.N.). Das setzt voraus, dass der Betroffene vor der Entscheidung nicht nur im Besitz des schriftlichen Sachverständigengutachtens ist, sondern auch ausreichend Zeit hatte, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern (vgl. Prütting/Helms/Fröschle FamFG 3. Aufl., § 280 Rz. 13).
Rz. 12
Diesen Anforderungen genügt das amtsgerichtliche Verfahren im vorliegenden Fall nicht. Das Sachverständigengutachten ist dem Betroffenen erst in der Anhörung vom 26.3.2013 ausgehändigt worden, nachdem er erklärt hatte, das Gutachten bislang nicht erhalten zu haben. Dass die Richterin schon unter dem 21.3.2013 die Übersendung des Gutachtens an den Betroffenen veranlasst hatte, reicht zum Nachweis einer früheren Mitteilung des Gutachtens nicht aus (zur Bekanntgabe durch Aufgabe zur Post vgl. BGH v. 2.12.2015 - XII ZB 283/15, FamRZ 2016, 296 Rz. 22 ff.). Ausweislich des Anhörungsprotokolls ist die Richterin vielmehr ebenfalls davon ausgegangen, dass der Betroffene das Gutachten noch nicht erhalten hatte.
Rz. 13
Dem Betroffenen ist keine ausreichende Gelegenheit gegeben worden, zu dem Gutachten noch vor der Entscheidung Stellung zu nehmen und sich i.S.v. § 37 Abs. 2 FamFG zu dem Beweisergebnis zu äußern. Denn der Betreuungsbeschluss ist noch am selben Tag ergangen.
Rz. 14
Es ist auch davon auszugehen, dass die Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhte. Denn aufgrund des weiteren Verfahrensablaufs liegt es nahe, dass der Betroffene bei rechtzeitiger Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens der Anordnung der Betreuung schon vor dem AG widersprochen hätte.
Rz. 15
c) Ob auch weitere von der Rechtsbeschwerde erhobene Rügen begründet sind, bedarf keiner Entscheidung. Von einer weiteren Begründung wird nach § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
Fundstellen
Haufe-Index 9397937 |
FamRZ 2016, 1148 |
BtPrax 2016, 159 |