Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortsetzung künstlicher Ernährung gegen ärztlichen Willen und dem des Betreuers nicht durch Heimvertrag und Gewissensfreiheit der Pflege gerechtfertigt. Erledigung des Rechtsstreits durch Tod. Gegenseitige Kostenaufhebung § 91a ZPO
Leitsatz (amtlich)
a) Verlangt der Betreuer in Übereinstimmung mit dem behandelnden Arzt, dass die künstliche Ernährung des betreuten einwilligungsunfähigen Patienten eingestellt wird, so kann das Pflegeheim diesem Verlangen jedenfalls nicht den Heimvertrag entgegensetzen. Auch die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals rechtfertigt für sich genommen die Fortsetzung der künstlichen Ernährung in einem solchen Fall nicht (im Anschluss an BGH v. 17.3.2003 - XII ZB 2/03, BGHZ 154, 205 = MDR 2003, 691 = BGHReport 2003, 661 m. Anm. Vossler = GesR 2003, 207).
b) Hat sich der Rechtsstreit durch den Tod des Patienten erledigt, rechtfertigt der Umstand, dass die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren Sinn ("Hilfe zum Sterben") bislang nicht hinreichend geklärt erscheinen, eine gegenseitige Kostenaufhebung nach § 91a ZPO.
Normenkette
BGB § 1004 Abs. 1 S. 2, §§ 1896, 1901, 1904; ZPO § 91a
Verfahrensgang
OLG München (Aktenzeichen 3 U 5090/02) |
LG Traunstein |
Tenor
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Gründe
I.
Der ursprüngliche Kläger (im Folgenden: der Kläger) hatte, vertreten durch seinen Vater als Betreuer, von der Beklagten verlangt, seine künstliche Ernährung einzustellen, um ihn sterben zu lassen.
Der Kläger litt seit einem Suizidversuch am 19.7.1998 an einem apallischen Syndrom im Sinne eines Wachkomas. Er befand sich seit dem 10.9.1998 auf Grund eines von seinem Betreuer für ihn abgeschlossenen Heimvertrags im Pflegeheim A. der Beklagten. Dort wurde er von dem niedergelassenen Arzt Dr. S. behandelt und vom Pflegepersonal der Beklagten mittels einer - bereits vor der Aufnahme in das Heim eingebrachten - PEG-Sonde künstlich ernährt.
Am 14.12.2001 ordnete Dr. S. im Einvernehmen mit dem Betreuer an, die künstliche Ernährung einzustellen und die Zuführung von Flüssigkeit über die Magensonde zu reduzieren. Über die Magensonde seien nur noch 500 ml kalorienfreie Flüssigkeit pro Tag zuzuführen, denen im Einzelnen bezeichnete Medikamente beizufügen seien. Dem Kläger solle ein Vernebler vor den Mund gebracht werden. Es sollten eine intensive Mundpflege durchgeführt und ein Schmerzpflaster aufgeklebt werden.
Die Beklagte lehnte die Durchführung dieser Anordnung, bei deren Befolgung der Kläger binnen (maximal) acht bis zehn Tagen an einer Nierenvergiftung sterben würde, u.a. mit der Begründung ab, ihre Pflegekräfte weigerten sich, der ärztlichen Anordnung nachzukommen.
Mit seiner Klage hatte der Kläger von der Beklagten begehrt, seine künstliche Ernährung in jeglicher Form zu unterlassen; außerdem hatte er von der Beklagten verlangt, die Anordnung des Dr. S. sowie sämtliche weiteren, ihn betreffenden palliativmedizinischen Anordnungen des verantwortlich behandelnden Arztes, insb. zur Durstverhinderung und im Rahmen der Schmerztherapie, durchzuführen. LG und OLG wiesen die Klage ab (LG Traunstein, Urt. v. 16.10.2002 - 3 O 205/02, NJW-RR 2003, 221; OLG München, Urt. v. 13.2.2003 - 3 U 5090/02, NJW 2003, 1744). Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgte der Kläger sein erstinstanzliches Begehren weiter.
Der Kläger ist am 26.3.2004 verstorben. Die Parteien haben den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt und wechselseitig Kostenanträge gestellt.
II.
Gemäß § 91a ZPO hat der Senat nur noch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden. Diese Entscheidung hat zwar den bisherigen Sach- und Streitstand zu berücksichtigen. Sie erfolgt aber zugleich auch nach billigem Ermessen. Der Senat kann sich deshalb auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage beschränken und darauf verzichten, alle für den Ausgang des Rechtsstreits bedeutsamen Rechtsfragen zu überprüfen (BGHZ 67, 343 [345]; BVerfG v. 18.9.1992 - 1 BvR 1074/92, NJW 1993, 1060 [1061]; Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., § 91a Rz. 24). Nach dem Ergebnis dieser summarischen Prüfung waren die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben.
1. Entgegen der Auffassung des OLG war das Unterlassungsbegehren des Klägers nicht schon deshalb unbegründet, weil der mit der Beklagten geschlossene Heimvertrag einem solchen Verlangen entgegenstand oder weil die Beklagte sich auf "ein aus ihren verfassungsmäßigen Rechten abzuleitendes Verweigerungsrecht" berufen konnte.
a) Die mit Hilfe einer Magensonde durchgeführte künstliche Ernährung ist ein Eingriff in die körperliche Integrität, der deshalb der Einwilligung des Patienten bedarf (BGH, Beschl. v. 17.3.2003 - XII ZB 2/03, BGHZ 154, 205 = MDR 2003, 691 = BGHReport 2003, 661 m. Anm. Vossler = GesR 2003, 207 = FamRZ 2003, 748 [750]). Eine gegen den erklärten Willen des Patienten durchgeführte künstliche Ernährung ist folglich eine rechtswidrige Handlung, deren Unterlassung der Patient analog § 1004 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB verlangen kann. Dies gilt auch dann, wenn die begehrte Unterlassung - wie hier - zum Tode des Patienten führen würde. Das Recht des Patienten zur Bestimmung über seinen Körper macht Zwangsbehandlungen, auch wenn sie lebenserhaltend wirken, unzulässig (BGH, Beschl. v. 17.3.2003 - XII ZB 2/03, BGHZ 154, 205 = MDR 2003, 691 = BGHReport 2003, 661 m. Anm. Vossler = GesR 2003, 207 = FamRZ 2003, 748 [751]).
b) Die künstliche Ernährung des Klägers widersprach dem vom Betreuer als wirklicher oder mutmaßlicher Wille des Klägers geäußerten Willen.
aa) Der Vater des Klägers war in den Aufgabenkreisen, für die er zum Betreuer des Klägers bestellt worden war, dessen gesetzlicher Vertreter (§ 1902 BGB). Zu den ihm übertragenen Aufgabenkreisen, die u.a. die "Sorge für die Gesundheit und die Vertretung gegenüber Dritten" umfassten, gehörte auch die Entscheidung, ob und inwieweit in die körperliche Integrität des Klägers eingegriffen werden darf. Der Betreuer hat dem Willen des Klägers in eigener rechtlicher Verantwortung und nach Maßgabe des § 1901 BGB Geltung zu verschaffen (BGH, Beschl. v. 17.3.2003 - XII ZB 2/03, BGHZ 154, 205 = MDR 2003, 691 = BGHReport 2003, 661 m. Anm. Vossler = GesR 2003, 207 = FamRZ 2003, 748 [750]). Seine Anordnung, die weitere künstliche Ernährung des Klägers zu unterlassen, war deshalb ggü. der Beklagten und ihrem Pflegepersonal bindend. Eine eigene Prüfungskompetenz, ob und inwieweit die getroffene Entscheidung der von § 1901 Abs. 2 bis 4 BGB normierten Pflichtenbindung gerecht wird, stand der Beklagten nicht zu; sie ist insoweit - wie jeder andere Dritte auch - auf die Möglichkeit beschränkt, beim Vormundschaftsgericht eine Überprüfung des Betreuerhandelns mit dem Ziel aufsichtsrechtlicher Maßnahmen nach § 1908 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 1837 Abs. 1 bis 3, § 1836 BGB anzuregen.
bb) Die Weigerung des Betreuers, in eine weitere künstliche Ernährung des Klägers durch die Beklagte einzuwilligen, bedurfte im vorliegenden Fall auch keiner vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung.
Wie der Senat (BGH, Beschl. v. 17.3.2003 - XII ZB 2/03, BGHZ 154, 205 = MDR 2003, 691 = BGHReport 2003, 661 m. Anm. Vossler = GesR 2003, 207 = FamRZ 2003, 748 [754]). dargelegt hat, ist das Vormundschaftsgericht nur dann zu einer Entscheidung berufen, wenn der einen einwilligungsunfähigen Patienten behandelnde Arzt eine lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahme für medizinisch geboten oder vertretbar erachtet und sie deshalb "anbietet" und der Betreuer sich diesem Angebot verweigert. Ein solcher, die Kontrollzuständigkeit des Vormundschaftsgerichts auslösender Konflikt bestand hier nicht. Der Betreuer und der behandelnde Arzt hatten sich übereinstimmend gegen eine weitere künstliche Ernährung des Klägers entschieden. Das Beharren der Beklagten, die künstliche Ernährung entgegen der ärztlichen Anordnung fortzusetzen, begründete keine dem Widerstreit von ärztlicher Empfehlung und Betreueranordnung vergleichbare Konfliktsituation.
c) Der mit dem Kläger geschlossene Heimvertrag berechtigt die Beklagten nicht, die künstliche Ernährung des Klägers gegen seinen - durch seinen Betreuer verbindlich geäußerten - Willen fortzusetzen. Das vom Betreuer wahrgenommene Recht des Klägers zur Bestimmung über den eigenen Körper ist einem antizipierten Verzicht nicht zugänglich (Kohte, AcP 185 (1985) 105 [137 f.]; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Rz. 197; Uhlenbruck/Kern in Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 71 Rz. 1, § 81 Rz. 7). Eine einmal erteilte Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Integrität kann bis zu dessen Vornahme jederzeit widerrufen werden (BGH Urt. v. 18.3.1980 - VI ZR 115/78, NJW 1980, 1903; Wagner in MünchKomm/BGB, 4. Aufl., § 823 Rz. 673); ebenso kann der Fortsetzung einer Dauerbehandlung jederzeit widersprochen werden. Selbst wenn, wie das OLG meint, die Parteien mit dem Heimvertrag das Recht des Klägers auf Selbstbestimmung einschränken oder doch die Grenzen dieses Rechts bindend festlegen wollten, konnten sie eine solche Einschränkung oder Bindung jedenfalls rechtswirksam nicht vereinbaren. Der Widerruf einer mit dem Abschluss des Heimvertrags erteilten Einwilligung des Klägers in seine künstliche Ernährung wurde durch den Heimvertrag folglich nicht gehindert. Ohne Belang ist auch, ob sich die Beklagte in dem Heimvertrag zu einer auch die künstliche Ernährung des Klägers umfassenden Versorgung verpflichtet hatte. Denn eine solche Leistungspflicht begründete jedenfalls keine Rechtspflicht des Klägers, die von der Beklagten geschuldete Leistung anzunehmen; erst recht schuf sie keine Befugnis der Beklagten, die Annahme dieser Leistung gegen den Willen des Klägers zu erzwingen.
d) Entgegen der Auffassung des OLG stand der Beklagten ggü. dem Unterlassungsbegehren des Klägers auch kein Verweigerungsrecht zu, das sich aus den in Art. 1, 2 und 4 GG verbürgten Rechten der Beklagten oder ihrer Pflegekräfte ableiten ließe. Zwar sind die Pflegekräfte der Beklagten auch in ihrer beruflichen Tätigkeit Träger der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Das bedeutet jedoch nicht, dass damit auch ihre ethischen oder medizinischen Vorstellungen vom Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG umfasst sind oder mit dem verlangten Unterlassen in diesen Schutzbereich eingegriffen würde (vgl. Hufen in einer nicht veröffentlichten gutachtlichen Stellungnahme zu der angefochtenen Entscheidung; zum Maßstab für einen Eingriff in die Menschenwürde vgl. etwa BVerfGE 30, 1 [26]). Ein Verstoß gegen Art. 2 GG ist nicht ersichtlich; insb. fand das Selbstbestimmungsrecht der Pflegekräfte am entgegenstehenden Willen des Klägers bzw. des für ihn handelnden Betreuers - also an den "Rechten anderer" (Art. 2 Abs. 1 GG) - ihre Grenze. Die Frage, ob das Verlangen des Klägers die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) des Pflegepersonals berührte, kann letztlich dahinstehen. Soweit das Strafrecht die künstliche Ernährung eines willensunfähigen Patienten gebietet (vgl. dazu unter 2.), bedarf es eines Rückgriffs auf Art. 4 Abs. 1 GG nicht; niemand darf zu unerlaubten Handlungen gezwungen werden. Im Übrigen verleiht die Gewissensfreiheit dem Pflegepersonal aber kein Recht, sich durch aktives Handeln über das Selbstbestimmungsrecht des durch seinen Betreuer vertretenen Klägers hinwegzusetzen und seinerseits in dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen (Hufen, NJW 2001, 849 [853]). Darin liegt auch der Unterschied zur Normsituation des § 12 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz, auf den sich das OLG zu Unrecht beruft: Danach ist zwar niemand verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Die Vorschrift berechtigt aber auch niemanden, durch positives Tun in die Rechte Dritter einzugreifen, um Abtreibungen zu verhindern.
2. Das OLG hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft, ob möglicherweise strafrechtliche Verbote die Beklagte bzw. deren Organe oder Personal hinderten, dem Unterlassungsverlangen des Klägers nachzukommen. Die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren Sinn ("Hilfe zum Sterben", vgl. im Einzelnen BGH v. 13.9.1994 - 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257 = MDR 1995, 80), auf die das klägerische Verlangen zielt, erscheinen dem Senat bislang nicht hinreichend geklärt (zum Meinungsstand etwa: Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags, Ethik und Recht der modernen Medizin. Patientenverfügungen, BT-Drucks. 15/3700, 37 ff., 45). Sie sind jedoch für die Entscheidung des vorliegenden Falles von Bedeutung; denn die Beklagte kann nicht zivilrechtlich zu einem Verhalten verurteilt werden, mit dem die Organe und Beschäftigten der Beklagten Gefahr laufen, sich zu den Geboten des Strafrechts in Widerspruch zu setzen. Das vorliegende Verfahren bietet - im Hinblick auf die hier allein zu treffende Kostenentscheidung - keinen geeigneten Rahmen, die Frage nach diesen Grenzen abschließend zu beantworten. Der Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits war danach letztlich ungewiss. Dem trägt die beiderseitige Kostenlast Rechnung.
Fundstellen
Haufe-Index 1392730 |
BGHZ 2006, 195 |
NJW 2005, 2385 |
NWB 2005, 3196 |
BGHR 2005, 1254 |
FamRZ 2005, 1474 |
DNotI-Report 2005, 134 |
MittBayNot 2006, 49 |
ZAP 2005, 1175 |
ZEV 2005, 485 |
ArztR 2006, 181 |
BtPrax 2005, 190 |
DNotZ 2005, 924 |
FPR 2007, 98 |
FPR 2010, 292 |
JZ 2006, 144 |
MDR 2005, 1413 |
MedR 2005, 719 |
VersR 2005, 1249 |
FamRB 2005, 300 |
NotBZ 2005, 325 |
PflR 2005, 411 |
ZNotP 2005, 468 |
JT 2005, 250 |