Leitsatz (amtlich)

Zu den Voraussetzungen, unter denen die Beschwerdekammer im Unterbringungsverfahren eines ihrer Mitglieder mit der Anhörung des Betroffenen beauftragen kann (im Anschluss an BGH v. 22.3.2017 - XII ZB 358/16, FamRZ 2017, 996; v. 15.6.2016 - XII ZB 581/15, FamRZ 2016, 1446).

 

Normenkette

FamFG §§ 26, 68 Abs. 3 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Paderborn (Beschluss vom 23.01.2018; Aktenzeichen 5 T 8/18)

AG Lippstadt (Entscheidung vom 28.12.2017; Aktenzeichen 11 XVII 228/09 K)

 

Tenor

Dem Betroffenen wird als Beschwerdeführer für das Verfahren der Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt beigeordnet (§§ 76 Abs. 1, 78 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 ZPO).

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des LG Paderborn vom 23.1.2018 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.

 

Gründe

Rz. 1

Die angefochtene Entscheidung, mit der das LG die Beschwerde des seit dem Jahr 2009 in einer geschlossenen Einrichtung lebenden Betroffenen gegen die betreuungsgerichtliche Genehmigung seiner Unterbringung für ein weiteres Jahr zurückgewiesen hat, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Rz. 2

1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das LG den Betroffenen im Beschwerdeverfahren rechtsfehlerhaft nur durch ein beauftragtes Mitglied der Beschwerdekammer angehört hat.

Rz. 3

a) Allerdings muss die Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht zwangsläufig durch alle Mitglieder der Beschwerdekammer erfolgen. Dies folgt bereits aus § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG, wonach das Beschwerdegericht von einer Anhörung absehen kann, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurde und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Die Beschwerdekammer hat im Rahmen der ihr obliegenden Amtsermittlung nach § 26 FamFG darüber zu befinden, ob es für ihre Entscheidung wegen der Besonderheiten des Falles darauf ankommt, dass sich die gesamte Kammer einen eigenen Eindruck von dem Betroffenen verschafft, oder ob der Kammer durch eine vom beauftragten Richter durchgeführte Anhörung eine ausreichende Grundlage für die zu treffende Entscheidung vermittelt wird. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Anhörung durch den beauftragten Richter nur in ihrem objektiven Ertrag und als dessen persönlicher Eindruck verwertet werden darf (vgl. etwa BGH v. 22.3.2017 - XII ZB 358/16, FamRZ 2017, 996 Rz. 12 m.w.N.; v. 15.6.2016 - XII ZB 581/15, FamRZ 2016, 1446 Rz. 17 m.w.N.).

Rz. 4

b) Gemessen hieran ist es vorliegend mit § 26 FamFG unvereinbar, dass das LG den Betroffenen lediglich durch die beauftragte Richterin angehört hat. Über Art und Umfang der vorzunehmenden Ermittlungen entscheidet zwar grundsätzlich der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen. Das Rechtsbeschwerdegericht hat jedoch u.a. nachzuprüfen, ob das Beschwerdegericht die Grenzen seines Ermessens eingehalten hat, ferner, ob es von zutreffenden Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist (BGH, Beschl. v. 15.6.2016 - XII ZB 581/15, FamRZ 2016, 1446 Rz. 19 m.w.N.).

Rz. 5

Dieser Nachprüfung hält die angefochtene Entscheidung nicht stand. Es kann dahinstehen, ob bereits der objektive Ertrag der Anhörung im Beschwerdeverfahren ausgereicht hätte, das vom LG gefundene Ergebnis zu begründen. Denn das LG hat dem in dieser Anhörung gewonnenen Eindruck vom Betroffenen ausweislich der Gründe des angefochtenen Beschlusses ausschlaggebende Bedeutung beigemessen, um in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen eine auch im Entscheidungszeitpunkt bestehende Abstinenzunfähigkeit des Betroffenen und eine aus zu erwartenden massiven Alkoholrückfällen folgende unmittelbare Lebensgefahr für ihn zu bejahen. Dabei hat es den mehrfachen Bekundungen des Betroffenen, zukünftig abstinent leben zu wollen, aufgrund des gewonnenen Eindrucks keinen Glauben geschenkt, weil er angesprochen auf seinen Alkoholkonsum ausweichend geantwortet und den Schwerpunkt auf seinen Freiheitswunsch und die als Unrecht empfundene Unterbringung gelenkt habe. Eine kritische Auseinandersetzung mit den lebensbedrohlichen Alkoholexzessen sowie eine nachhaltige Distanz zum Alkohol hätten nicht erkannt werden können. Mithin war der in der Anhörung gewonnene persönliche Eindruck für die Beschwerdeentscheidung ein maßgebliches Kriterium, so dass es zwingend des persönlichen Eindrucks aller drei Kammermitglieder von dem Betroffenen bedurft hätte (vgl. etwa BGH v. 15.6.2016 - XII ZB 581/15, FamRZ 2016, 1446 Rz. 19).

Rz. 6

2. Die Beschwerdeentscheidung ist daher aufzuheben und die Sache an das LG zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 5, Abs. 6 Satz 2 FamFG). Dieses wird den Betroffenen nun durch die Kammer anzuhören haben.

Rz. 7

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass sich bei einer lang andauernden Unterbringung wie der des Betroffenen Besonderheiten mit Blick auf die Feststellung der von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vorausgesetzten Gefährdung von Leib und Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung ergeben können (vgl. dazu BGH v. 14.3.2018 - XII ZB 629/17, FamRZ 2018, 950 Rz. 16 ff., zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).

Rz. 8

Sofern sich nach den nun zu treffenden Feststellungen trotz der lange währenden Unterbringung sowohl die getroffene Diagnose und die weitere Abstinenzunfähigkeit des Betroffenen bestätigen als auch ergibt, dass der dadurch bestehenden Eigengefährdung des Betroffenen auch bei engmaschiger Betreuung und Überwachung in einer offenen Wohnform nicht in vertretbarer Weise zu begegnen ist, kann bei dem in Rede stehenden Ausmaß und der Intensität der Gefährdung durchaus eine weitere Unterbringung gerechtfertigt sein. Der Betroffene leidet nach den bisherigen Feststellungen u.a. auf der Grundlage einer schweren Alkoholabhängigkeit mit chronischem Alkoholismus an einer schweren hirnorganischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, an einem amnestischen Korsakowsyndrom in Verbindung mit einer instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ mit zusätzlichen narzisstischen und paranoiden Anteilen, außerdem an alkoholtoxischer Leberzirrhose, rezidivierenden akuten Bauchspeicheldrüsenentzündungen, einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung mit Bauchspeicheldrüseninsuffizienz und daraus resultierendem labilen insulinpflichtigen Diabetes mellitus, einem epileptischen Anfallsleiden und einer Polyneuropathie. Bei akuten Alkoholentgleisungen wie der vom September 2017 (mit Aufenthalt auf der Intensivstation) drohen nach den Ausführungen des Sachverständigen u.a. lebensbedrohliche Intoxikationen und vital bedrohliche Blutzuckerentgleisungen. Bei der bislang vom LG angenommenen hohen Wahrscheinlichkeit eines entsprechenden Rückfalls außerhalb einer geschlossenen Einrichtung würde der verfassungsrechtliche Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Betroffenen seine weitere zivilrechtliche Unterbringung als Maßnahme des Erwachsenenschutzes zwingend gebieten.

Rz. 9

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 11929667

NJW 2018, 3787

FamRZ 2018, 1594

FuR 2018, 553

FGPrax 2018, 273

BtPrax 2018, 232

JZ 2018, 687

MDR 2018, 1398

FF 2018, 422

FamRB 2018, 488

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