Leitsatz (amtlich)
Richtet sich die Anordnung zur Sicherung der Abreise gegen einen Minderjährigen, muss der Richter grundsätzlich von Amts wegen prüfen, ob dessen altersgerechte Unterbringung im Transitbereich des Flughafens oder in der sonstigen Unterkunft gewährleistet und der über 30 Tage hinausgehende Aufenthalt dort auch im Übrigen noch verhältnismäßig ist.
Normenkette
AufenthG § 15 Abs. 6 Sätze 2-3; FamFG § 26
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 03.06.2011; Aktenzeichen 2-29 T 48/11) |
AG Frankfurt am Main (Beschluss vom 24.03.2011; Aktenzeichen 934 XIV 138/11) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des LG Frankfurt/M. vom 3.6.2011 wird auf Kosten der Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Betroffene, eine marokkanische Staatsangehörige, kam mit ihrer knapp einjährigen Tochter am 24.2.2011 aus Casablanca am Flughafen Frankfurt/M. an und äußerte ein Schutzersuchen. Im Hinblick auf zwei spanische, räumlich auf die Exklave Ceuta beschränkte Visa in dem Reisepass der Betroffenen wurde beiden die Einreise verweigert und am 27.2.2011 ihre Zurückweisung nach Spanien verfügt. Am 1.3.2011 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Übernahmeersuchen an die spanischen Behörden.
Rz. 2
Auf Antrag der Beteiligten zu 2) vom 24.3.2011 ordnete das AG mit Beschluss vom selben Tag zur Sicherung der Abreise der Betroffenen und ihres Kindes deren weiteren Aufenthalt in der Asylbewerberunterkunft auf dem Gelände des Flughafens Frankfurt/M. bis zum 24.5.2011 an. Nach Ablehnung der Übernahme seitens der spanischen Behörden ist die Betroffene am 1.4.2011 aus der Unterbringung am Flughafen entlassen und in die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge weitergeleitet worden. Ihr auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringungsanordnung gerichteter Antrag ist von dem LG zurückgewiesen worden. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.
II.
Rz. 3
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ist der Betroffenen die Einreise zu Recht verweigert worden, weil Spanien nach der Dublin-II-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig gewesen sei. Da eine Übernahmezusage aus Spanien nicht vorgelegen habe und die Zurückweisung somit nicht habe vollzogen werden können, sei gem. § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG Zurückweisungshaft anzuordnen gewesen.
III.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. Das Beschwerdegericht hat den Feststellungsantrag der Betroffenen im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Dabei hat es sich nicht zu ihren Lasten ausgewirkt, dass in dem angefochtenen Beschluss mehrfach von Zurückweisungshaft die Rede ist, obwohl das AG eine Anordnung über den Transitaufenthalt nach § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG getroffen hat und es sich bei diesem, weil eine jederzeitige Abreise möglich bleibt, nicht um Zurückweisungshaft handelt (vgl. § 15 Abs. 6 Satz 1 AufenthG), sondern um eine richterlich angeordnete Aufenthaltsbeschränkung (vgl. BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rz. 9).
Rz. 5
1. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde musste das AG bei der Anordnung des Transitaufenthalts nicht prüfen, ob es sich bei dem auf die Exklave Ceuta beschränkten Visum in dem Reisepass der Betroffenen um ein Visum handelte, welches unter Art. 9 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung (Verordnung [EG] Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003) fiel, damit die Zuständigkeit Spaniens für die Prüfung ihres Asylantrags eröffnete und deshalb einer Einreise in das Bundesgebiet entgegenstand. Der Haftrichter hat als Grundlage für die Anordnung nach § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG nämlich von der Einreiseverweigerung durch die Grenzbehörde auszugehen. Rechtsschutz gegen die Einreiseverweigerung wird allein durch die - von der Betroffenen auch angerufenen - VG gewährt (vgl. Senat, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 274/10, a.a.O., Rz. 11 u. 21).
Rz. 6
2. a) An dieser Abgrenzung der Zuständigkeiten ändert sich nicht dadurch etwas, dass der Haftrichter prüfen muss, ob die Abreise des Betroffenen innerhalb der Anordnungsdauer zu erwarten ist (vgl. § 15 Abs. 6 Satz 4 AufenthG). Hinsichtlich der von den VG zu klärenden Fragen ist er lediglich gehalten, den Stand und den voraussichtlichen Fortgang eines bereits anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu ermitteln und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG NJW 2009, 2659, 2660; BGH, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 152 Rz. 24).
Rz. 7
b) Die Annahme des Haftrichters, die Abreise der Betroffenen sei innerhalb der Anordnungsdauer zu erwarten, ist entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch nicht deshalb fehlerhaft, weil Spanien die Übernahme der Betroffenen am 30.3.2011 abgelehnt hat. Bei der Prognose waren die Rechtmäßigkeit der Einreiseverweigerung und der Zurückweisung nach Spanien zu unterstellen. Unter weiterer Berücksichtigung der Darlegungen der Beteiligten zu 2), dass die Frist, innerhalb der die spanischen Behörden auf das gestellte Übernahmeersuchen antworten mussten, am 1.4.2011 ablief, und der Regelung in Art. 18 Abs. 7 der Dublin-II-Verordnung, wonach bei fehlender Reaktion innerhalb der Frist von der Stattgabe des Ersuchens auszugehen ist, konnte der Haftrichter annehmen, dass eine Abreise der Betroffenen nach Spanien innerhalb der ersten Aprilhälfte zu erwarten war. Dass sich diese Erwartung nicht erfüllt hat, macht die Prognose nicht fehlerhaft.
Rz. 8
3. Die angefochtene Entscheidung hält der Nachprüfung ferner stand, soweit eine Verletzung des Beschleunigungsgebots gerügt wird.
Rz. 9
Richtig ist allerdings, dass das in Haftsachen zu beachtende Beschleunigungsgebot auch für die den Aufenthalt des Ausländers auf den Transitbereich des Flughafens beschränkende Anordnung nach § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG gilt. Es erfordert, dass die Zurückweisung von der Grenzbehörde ernstlich und gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der größtmöglichen Beschleunigung betrieben wird, und ist beispielsweise verletzt, wenn der Betroffene ohne nachvollziehbare Gründe erst mehrere Tage nach seinem Einreiseversuch befragt wird oder wenn die für die Zurückweisung erforderlichen Maßnahmen nicht unverzüglich in die Wege geleitet werden (vgl. BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315, 316 Rz. 23 f.).
Rz. 10
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde lässt sich eine Verletzung des Beschleunigungsgebots hier jedoch nicht feststellen. Zwar ist die Betroffene erst am dritten Tag nach ihrem Einreiseversuch befragt worden. Dies geschah aber nicht ohne nachvollziehbare Gründe. Die Einreiseberechtigung der Betroffenen hing davon ab, ob die in ihrem Reisepass befindlichen Visa für die Exklave Ceuta als spanische Schengenvisa anzusehen waren. Dieser Rechtsfrage durfte die Beteiligte zu 2) zunächst nachgehen. Denn eine Befragung der Betroffenen versprach keinen Erkenntnisgewinn, solange sich die Beteiligte zu 2) noch nicht über die Bedeutung eines räumlich auf Ceuta beschränkten Visums informiert hatte und zu einer vorläufigen Einschätzung der Rechtlage gelangt war. Dass eine solche Prüfung vor der Befragung stattgefunden hatte, durfte der Haftrichter aus dem Umstand schließen, dass die Beteiligte zu 2) noch am Tag der Befragung (Sonntag, 27.2.2011) die Zurückweisung der Betroffenen verfügt und den Sachverhalt an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge übermittelt hat. Dieses ersuchte die spanischen Behörden am übernächsten Tag (Dienstag, 1.3.2011) und damit unverzüglich um die Übernahme der Betroffenen.
Rz. 11
4. Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde schließlich geltend, dass die Unterbringungsanordnung rechtswidrig war, weil die Betroffene ihr knapp einjährigen Kindes bei sich hatte.
Rz. 12
a) Ein generelles Verbot eines erzwungenen Aufenthalts von Müttern mit Kleinkindern im Transitbereich eines Flughafens besteht nicht (vgl. § 62 Abs. 1 Satz 3 AufenthG für die Abschiebungshaft).
Rz. 13
b) Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Anordnung im konkreten Fall gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat. Diesem kommt zwar besondere Bedeutung zu, wenn sich Abschiebungshaft (auch) gegen Minderjährige richtet (vgl. BGH, Beschl. v. 29.9.2010 - V ZB 233/10, NVwZ 2011, 320; Beschl. v. 17.6.2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384, 387 Rz. 27). Gleiches gilt - da das Festhalten des Betroffenen auf dem Flughafen trotz der Möglichkeit, auf dem Luftweg abzureisen, nach einer gewissen Dauer und wegen der damit verbundenen Eingriffsintensität einer Freiheitsentziehung gleichsteht (vgl. EGMR, InfAuslR 1997, 49, 51; BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315, 316 Rz. 23) - für eine Anordnung nach § 15 Abs. 6 AufenthG.
Rz. 14
Grundsätzlich ist der Haftrichter daher auch bei einer solchen Anordnung gem. § 26 FamFG von Amts wegen verpflichtet zu prüfen, ob eine altersgerechte Unterbringung des Minderjährigen gewährleistet und die über 30 Tage hinausgehende Unterbringung auf dem Flughafen auch im Übrigen noch verhältnismäßig ist. Vorliegend konnte von einer solchen Prüfung nur deshalb abgesehen werden, weil die Tochter der Betroffenen aufgrund ihres Alters noch nicht in der Lage war, die mit dem Aufenthalt im Transitbereich verbundene Freiheitsbeschränkung zu erfassen und weil die Betroffene, obwohl anwaltlich vertreten, bei ihrer Anhörung nicht geltend gemacht hat, dass ein weiterer Aufenthalt im Transitbereich angesichts der Art der Unterbringung oder der Verpflegung mit Rücksicht auf das Kleinkind nicht zumutbar sei. Damit fehlte es an konkreten Anhaltspunkten für eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die den Haftrichter insb. zu Ermittlungen über die Art der Unterbringung der Betroffenen und ihres Kindes verpflichtet hätten (vgl. BGH, Beschl. v. 10.6.2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1174 Rz. 38). Eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht wird von der Rechtsbeschwerde auch nicht geltend gemacht.
Rz. 15
c) Rechtsfehlerhaft hat es der Haftrichter allerdings unterlassen, die Dauer der Freiheitsbeschränkung mit Rücksicht auf das Kleinkind kritisch zu hinterfragen. Weder ist ein sachlicher Grund erkennbar, warum der Transitaufenthalt überhaupt bis zum 24.5.2011 angeordnet worden ist (die Frist für eine Äußerung der spanischen Behörden endete am 1.4.2011), noch kann ein solcher Zeitraum für einen Transitaufenthalt eines Erwachsenen mit einem (Klein-)Kind als verhältnismäßig angesehen werden. Dieser Fehler hat sich aber nicht zu Lasten der Betroffenen ausgewirkt, da sie den Transitbereich am 1.4.2011 verlassen konnte und der Zeitraum, den sie - gerechnet ab ihrer Ankunft in Frankfurt - dort mit ihrem Kind insgesamt verbracht hat, noch hinnehmbar ist.
Rz. 16
Für eine Feststellung, dass die darüber hinaus gehende Anordnungsdauer sie in ihren Rechten verletzt hat, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis. In Freiheitsentziehungssachen besteht nach einer Erledigung der Hauptsache zwar grundsätzlich ein Rehabilitierungsinteresse für einen Antrag, mit dem die Rechtswidrigkeit der Inhaftierung festgestellt werden soll (§ 62 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FamFG); das gilt auch für Anordnungen nach § 15 Abs. 6 Satz 2 AufenthG (BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rz. 8). An einem solchen Interesse fehlt es aber, soweit sich der Betroffene in dem von der Haftanordnung nach § 421 FamFG erfassten Zeitraum nicht (mehr) in Abschiebungshaft befunden hat (vgl. für den Fall anderweitiger Haft: Senat, Beschl. v. 7.4.2011 - V ZB 211/10, Rz. 6, juris sowie Beschl. v. 2.12.2010 - V ZB 162/10, juris). Entsprechendes gilt für eine Anordnung nach § 15 Abs. 6 AufenthG.
IV.
Rz. 17
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Dolmetscherkosten sind allerdings nicht zu erheben (vgl. BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 333 Rz. 21). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen
Haufe-Index 3515218 |
EBE/BGH 2012 |
FamRZ 2013, 215 |
NVwZ 2013, 312 |
FGPrax 2013, 38 |
InfAuslR 2013, 78 |
JZ 2013, 38 |