Verfahrensgang
LG Kempten (Entscheidung vom 25.05.2020; Aktenzeichen 43 T 1717/19) |
AG Kempten (Entscheidung vom 23.07.2019; Aktenzeichen 1 XIV 112/19 (B)) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Kempten (Allgäu) - 4. Zivilkammer - vom 25. Mai 2020 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 23. Juli 2019 den Betroffenen im Zeitraum bis zum 30. Juli 2019 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Freistaat Bayern auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit - seit dem 17. August 2016 bestandskräftigem - Bescheid vom 14. Juni 2016 unter Androhung der Abschiebung ab. In der Folgezeit wurden zwei Asylfolgeanträge des Betroffenen als unzulässig abgelehnt. Mit Beschluss vom 16. Juli 2019 ordnete das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde vom selben Tag im Wege der einstweiligen Anordnung die Freiheitsentziehung des Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 31. Juli 2019 an. Nach seiner Festnahme zeigte Rechtsanwältin L am 22. Juli 2019 beim Amtsgericht an, den Betroffenen in dem Freiheitsentziehungsverfahren zu vertreten, und beantragte Akteneinsicht.
Rz. 2
Nach Anhörung des Betroffenen hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 23. Juli 2019 gegen diesen Haft zur Sicherung der Abschiebung bis spätestens 31. Juli 2019 angeordnet. Die dagegen vom Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen eingelegte, nach dessen Entlassung aus der Haft am 30. Juli 2019 auf Feststellung gerichtete Beschwerde hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene sein Begehren weiter.
Rz. 3
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei rechtmäßig. Es habe ein zulässiger Haftantrag vorgelegen. Die wesentlichen Förmlichkeiten und Verfahrensgarantien seien eingehalten worden. Dass die Anhörung des Betroffenen in Abwesenheit von Rechtsanwältin L durchgeführt worden sei, stelle keinen Verfahrensmangel dar. Die Nachermittlungen im Beschwerdeverfahren hätten ergeben, dass die Verfahrensbevollmächtigte jedenfalls wenige Stunden vor dem Termin von der geplanten Anhörung Kenntnis gehabt habe; gleichwohl habe sie keinen Antrag auf Terminsverlegung gestellt.
Rz. 5
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht die Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens durch das Amtsgericht.
Rz. 6
a) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen. Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen. Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (vgl. zuletzt BGH, Beschlüsse vom 25. April 2022 - XIII ZB 50/21, NVwZ-RR 2022, 885 Rn. 6; vom 28. Februar 2023 - XIII ZB 70/21, Asylmagazin 2023, 275 Rn. 9, jew. mwN).
Rz. 7
b) Diesen Maßstäben hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts nicht entsprochen.
Rz. 8
aa) Der Haftrichter hat spätestens bei der Anhörung des Betroffenen am 23. Juli 2019 Kenntnis davon erlangt, dass dieser eine Rechtsanwältin hatte, und der Betroffene hat in der Anhörung ausdrücklich geäußert, dass er deren Hinzuziehung zu dieser Anhörung wünsche. Das Amtsgericht hat der Verfahrensbevollmächtigten jedoch keine ausreichende Möglichkeit eingeräumt, an dem Termin teilzunehmen oder eine Terminsverlegung zu beantragen.
Rz. 9
(1) Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, nach der dienstlichen Stellungnahme des zuständigen Amtsrichters sei Rechtsanwältin L von dem Anhörungstermin telefonisch benachrichtigt worden. Es hat jedoch keine Feststellungen dazu getroffen, zu welchem Zeitpunkt dies geschehen ist. Aus der Beschwerdeentscheidung ergibt sich ferner, dass Rechtsanwältin L erklärt hat, erst wenige Stunden vor dem Anhörungstermin vom Betreuer des Betroffenen über diesen in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Da der Zeitpunkt, zu dem sie über den geplanten Anhörungstermin informiert war, somit nicht geklärt werden konnte, ist zu Gunsten des Betroffenen davon auszugehen, dass dies erst am Morgen des 23. Juli 2019 geschehen ist.
Rz. 10
(2) Dies wäre vor dem Hintergrund, dass Rechtsanwältin L ihren Kanzleisitz in Berlin hat und die Anhörung des Betroffenen in Kempten ausweislich des Protokolls am 23. Juli 2019 bereits um 9.00 Uhr durchgeführt wurde, nicht frühzeitig genug gewesen, um ihr eine Teilnahme an dem Termin oder auch nur das Stellen eines Verlegungsantrags zu ermöglichen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Haftrichter dem Rechtsanwalt eine angemessene Reaktionszeit für die Prüfung einräumen, ob ein Verlegungsantrag gestellt werden soll und welche Möglichkeiten dafür gegebenenfalls im Hinblick auf eine Eilbedürftigkeit der Sache oder den Terminkalender des Anwalts bestehen (vgl. BGH, NVwZ-RR 2022, 885 Rn. 8 mwN). Eine Reaktionszeit von allenfalls wenigen Stunden vor einem um 9.00 Uhr beginnenden Gerichtstermin kann nicht als angemessen angesehen werden.
Rz. 11
bb) Hatte Rechtsanwältin L demnach keine ausreichende Möglichkeit, ihre Verhinderung anzuzeigen und einen Verlegungsantrag zu stellen, durfte das Beschwerdegericht aus dem Fehlen entsprechender Erklärungen gegenüber dem Amtsgericht nicht darauf schließen, dass diese an der Anhörung nicht teilnehmen wollte. Es konnte demgemäß nicht davon ausgehen, dass der Haftrichter eine verfahrensfehlerfreie Anhörung durchgeführt hat. Nach den obengenannten Grundsätzen führt der Umstand, dass das Amtsgericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme der Verfahrensbevollmächtigten an der Anhörung vereitelt hat, ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft (vgl. BGH NVwZ-RR 2022, 885 Rn. 9).
Rz. 12
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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