Entscheidungsstichwort (Thema)
Beginn der Frist des Antrags auf Wiedereinsetzung
Leitsatz (redaktionell)
Die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO beginnt schon dann zu laufen, wenn bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkannt werden können, dass die Frist versäumt worden ist, wenn also Anlaß bestand, zu prüfen, ob das Fristende richtig festgehalten wurde. In diesem Fall ist zumindest vorsorglich ein Wiedereinsetzungsgesuch wegen der Versäumung der Frist zu stellen.
Normenkette
ZPO § 234 Abs. 1-2
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 13.10.2002; Aktenzeichen 23 U 142/03) |
LG Frankfurt am Main |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 23. Zivilsenats des OLG Frankfurt v. 13.10.2003 wird auf ihre Kosten als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert beträgt 478.300 EUR.
Gründe
I.
Das LG hat den Beklagten zur Zahlung der eingeklagten Hauptforderung und eines Teils der geltend gemachten Zinsen verurteilt. Wegen des weiter gehenden Zinsanspruchs hat es die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die am 28.5.2003 bei Gericht eingegangene Berufung der Klägerin, die behauptet, ihrem Prozessbevollmächtigten sei das Urteil am 28.4.2003 zugestellt worden. Das von diesem unterzeichnete Empfangsbekenntnis weist hingegen den 25.4.2003 als Zustelldatum aus. Dass das LG von diesem Zustelldatum ausging, erfuhr der Prozessbevollmächtigte der Klägerin durch die Zustellung einer vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils am 5.6.2003, die ihn zu einer fernmündlichen Rückfrage beim LG veranlasste. Die Klägerin hat hierauf zunächst Erinnerung gegen den Rechtskraftvermerk eingelegt und - nachdem das LG eine Kopie des streitgegenständlichen Empfangsbekenntnisses übersandt hatte, das eindeutig das Datum des 25.4.2003 ausweist - mit Schriftsatz v. 24.6.2003 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Sie hat sich darauf berufen, die fehlerhafte Angabe auf dem Empfangsbekenntnis beruhe auf einer Verwechslung der Daten durch eine Kanzleiangestellte ihres Prozessbevollmächtigten, der von diesem Versehen erst durch die ihm am 23.6.2003 zugegangene Kopie des Empfangsbekenntnisses erfahren habe. Bis dahin sei er von einem Irrtum beim LG ausgegangen.
Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin zurückgewiesen und ihre Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe nicht den Beweis erbracht, dass das Urteil an einem anderen Tag als dem im Empfangsbekenntnis angegebenen zugestellt worden sei. Die Klägerin habe zudem die Frist des § 234 ZPO versäumt, die mit der Zustellung der vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils begonnen habe. Aus dem darin enthaltenen Hinweis, dass das Urteil am 25.4.2003 zugestellt worden sei, habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin einen konkreten Anhaltspunkt dafür entnehmen können, dass das in seinen Unterlagen notierte Zustellungsdatum des 28.4.2003 falsch sein könne und habe damit zumindest vorsorglich tätig werden müssen. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 S. 4, § 238 Abs. 2 ZPO), aber unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen (BGH v. 29.5.2002 - V ZB 11/02, BGHZ 151, 42 [43] = BGHReport 2002, 745 = MDR 2002, 1266; v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [223] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; v. 7.5.2003 - XII ZB 191/02, BGHZ 155, 21 [22] = BGHReport 2003, 823 = MDR 2003, 1054; Beschl. v. 24.6.2003 - VI ZB 10/03, MDR 2003, 1128 = BGHReport 2003, 1104 = NJW 2003, 2991), sind nicht erfüllt.
1. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist eine Entscheidung des BGH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO) nicht erforderlich.
a) Mit ihrem Vortrag, das Berufungsgericht habe - gemessen an der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung - angeblich die Anforderungen an den Beginn der Wiedereinsetzungsfrist überspannt, hat die Klägerin die Voraussetzungen einer Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht ordnungsgemäß dargetan.
Allerdings erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ein Eingreifen des BGH, wenn die angefochtene Entscheidung Verfahrensgrundrechte einer Partei verletzt und darauf beruht (BGH v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 [296] = BGHReport 2003, 686 = MDR 2003, 822 zu § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO; Beschl. v. 11.5.2004 - XI ZB 39/03, WM 2004, 1407 [1408] m.w.N., zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen). Das ist etwa der Fall, wenn ein Gericht einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf Grund von überspannten Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen die Partei auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (BVerfG v. 28.2.1989 - 1 BvR 649/88, BVerfGE 79, 372 [376 f.]; v. 14.12.2001 - 1 BvR 1009/01, NJW-RR 2002, 1004; BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [227 f.] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; Beschl. v. 13.5.2003 - VI ZB 76/02, BGHReport 2003, 1032 = MDR 2003, 1131 = FamRZ 2003, 1271). Das Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verbietet es den Gerichten nämlich, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 41, 323 [326 f.]; BVerfGE 41, 332 [334 f.]; BVerfG v. 14.5.1985 - 1 BvR 370/84, BVerfGE 69, 381 [385] = MDR 1985, 816 = CR 1986, 49; v. 26.3.2001 - 1 BvR 383/00, NJW 2001, 2161 [2162]; v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [227] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207).
Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht aber nicht verstoßen. Insbesondere hat es die an die Sorgfaltspflicht eines Rechtsanwalts zu stellenden Anforderungen nicht in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise überspannt. Die Entscheidung des Berufungsgerichts entspricht vielmehr - anders als die Rechtsbeschwerde unter Hinweis auf den Beschluss des BGH (BGH, Beschl. v. 20.11.1967 - III ZB 4/67, VersR 1968, 301) geltend macht - langjähriger Rechtsprechung des BGH. Danach beginnt die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO schon dann zu laufen, wenn das Weiterbestehen des der Wahrung der versäumten Frist entgegenstehenden Hindernisses nicht mehr als unverschuldet angesehen werden kann. Das ist der Fall, sobald die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt die Versäumung hätte erkennen können, wenn also Anlass bestand zu prüfen, ob das Fristende richtig festgehalten war (st.Rspr., BGH, Urt. v. 15.3.1977 - VI ZR 104/76, VersR 1977, 643 [644]; Beschl. v. 15.1.2001 - II ZB 1/00, MDR 2001, 587 = BGHReport 2001, 436 = NJW 2001, 1430 [1431]; v. 5.3.2002 - VI ZR 286/01, BGHReport 2002, 568 = MDR 2002, 841 = NJW-RR 2002, 860; v. 16.9.2003 - X ZR 37/03, BGHReport 2004, 57 [58] = MDR 2004, 349).
Ein solcher Anlass bestand für den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits nach Zustellung der vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils. Nachdem er - bestätigt durch die telefonische Nachfrage - wusste, dass man dem Empfangsbekenntnis beim LG als Zustelldatum den 25.4.2003 entnommen hatte, hätte er nicht ohne weiteres von einem Irrtum auf Seiten des LG ausgehen, sondern auch ein mögliches Versehen in seiner Kanzlei in Erwägung ziehen und zumindest vorsorglich ein Wiedereinsetzungsgesuch wegen Versäumung der Berufungsfrist stellen müssen (BGH, Urt. v. 15.3.1977 - VI ZR 104/76, VersR 1977, 643 [644]). Soweit die Rechtsbeschwerde geltend macht, der Irrtum des Prozessbevollmächtigten der Klägerin sei durch eine Fehlinformation des LG hervorgerufen worden, ist das nicht zu berücksichtigen, da die Klägerin hierzu nicht schlüssig vorgetragen hat. Der Umstand, dass der Anwalt selbst unzutreffende Schlüsse und Konsequenzen aus der Auskunft des LG gezogen hat, genügt hierzu nicht.
b) Das Berufungsgericht hat entgegen den Rügen der Rechtsbeschwerde auch nicht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 GG verletzt. Die Rechtsbeschwerde zeigt keine besonderen Umstände auf, die zweifelsfrei darauf schließen ließen, dass das Berufungsgericht tatsächliches Vorbringen der Klägerin entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen hat (BGH v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 [300 f.] = BGHReport 2003, 686 = MDR 2003, 822 m.w.N.). Das gilt insbes. auch für die Rüge der Rechtsbeschwerde, das Berufungsgericht habe den Inhalt der eidesstattlichen Versicherungen der Kanzleiangestellten und der Rechtsanwälte nicht zur Kenntnis genommen. Die eidesstattlichen Versicherungen entsprechen vielmehr in jeder Hinsicht dem Sachvortrag der Klägerin, den das Berufungsgericht allerdings als unschlüssig erachtet hat. Gegen eine solche Bewertung des Vorbringens einer Partei gewährt Art. 103 GG aber keinen Schutz (BGH v. 1.10.2002 - XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182 [194] = MDR 2003, 104 = BGHReport 2002, 1107; Beschl. v. 19.12.2002 - VII ZR 101/02, MDR 2003, 468 = BGHReport 2003, 347 = WM 2003, 992 [994]). In Betracht kommt in einem solchen Fall allenfalls ein Verstoß gegen das Grundrecht der betroffenen Partei auf ein faires willkürfreies Verfahren, der aber in Fällen der Zurückweisung eines Vortrags als unschlüssig i.d.R. erst dann anzunehmen ist, wenn die Auffassung des Gerichts unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und daher auf sachfremden Erwägungen beruht (BGH, Beschl. v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207 = NJW 2002, 3029 [3031]; Beschl. v. 19.12.2002 - VII ZR 101/02, MDR 2003, 468 = BGHReport 2003, 347 = WM 2003, 992 [994]). Davon kann hier keine Rede sein.
c) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Berufungsgericht die Grundrechte der Klägerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz und ein willkürfreies Verfahren auch nicht dadurch verletzt, dass es in seiner Entscheidung unter Verkennung des Beweismaßes eine unumstößliche Gewissheit für die Frage, ob das Urteil der Klägerin - wie sie behauptet - am 28.4.2003 zugestellt worden ist, verlangt hat. Das Berufungsgericht hat vielmehr ausdrücklich ausgeführt, dass der von der Klägerin behauptete Irrtum bei der Ausfüllung des Empfangsbekenntnisses nicht mehr als eine Möglichkeit darstelle. Das aber genügt - wie auch die Rechtsbeschwerde nicht verkennt - zum Beweis der Unrichtigkeit der in dem Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben, an den strenge Anforderungen zu stellen sind, nicht (BGH, Beschl. v. 18.6.2002 - VI ZR 448/01, BGHReport 2003, 46 = MDR 2002, 1332 = NJW 2002, 3027 [3028] m.w.N.).
2. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Die von der Rechtsbeschwerde für grundsätzlich erachtete Frage, ob die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO auch zu laufen beginne, wenn zwar objektiv Umstände vorlägen, die auf eine Verfristung des Rechtsmittels schließen ließen, das Gericht auf eine entsprechende Nachfrage bei dem Prozessbevollmächtigten aber den Eindruck erwecke, es handele sich um einen Fehler des Gerichts und die Verfristung liege tatsächlich nicht vor, stellt sich nicht. Wie schon ausgeführt, fehlt es an schlüssigem Vortrag der Klägerin, dass ihrem Prozessbevollmächtigten von Seiten des LG eine falsche Auskunft erteilt worden ist.
Fundstellen
Haufe-Index 1209804 |
BGHR 2004, 1641 |
NJW-RR 2005, 76 |
JurBüro 2005, 112 |
MDR 2004, 1436 |
VersR 2006, 426 |
ProzRB 2005, 155 |