Leitsatz (amtlich)
Die Abschiebungshaft kann bei einem Ausländer, von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, in einer allgemeinen Haftanstalt vollzogen werden, wenn er getrennt von Strafgefangenen untergebracht wird und diese Art des Haftvollzugs im konkreten Einzelfall verhältnismäßig ist (Anschluss an EuGH, Urt. v. 2.7.2020 - C-18/19, juris).
Normenkette
Richtlinie 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1; AufenthG § 62a Abs. 1 S. 2 aF
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 24.08.2017; Aktenzeichen 2-29 T 210/17) |
AG Frankfurt am Main (Beschluss vom 18.08.2017; Aktenzeichen 934 XIV 1167/17 B) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des LG Frankfurt/M. vom 24.8.2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein tunesischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2003 in das Bundesgebiet ein und erhielt in der Folge mehrere befristete Aufenthaltserlaubnisse. Aufgrund seiner Hinwendung zu radikal-salafistischen Kreisen und seiner Unterstützung des "Islamischen Staats" (IS) ordnete das Hessische Ministerium des Innern und für Sport wegen der vom Betroffenen ausgehenden Gefahr eines terroristischen Anschlags in Deutschland mit Verfügung vom 1.8.2017 nach § 58a Abs. 1 AufenthG seine Abschiebung nach Tunesien an. Hiergegen erhob der Betroffene Klage beim BVerwG, die er mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verband.
Rz. 2
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das AG mit Beschluss vom 18.8.2017 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung nach Tunesien bis zum 23.10.2017 angeordnet. Diese Haft wurde - wie im Antrag der Behörde angekündigt - in der allgemeinen Justizvollzugsanstalt Frankfurt/M. I in einem von Strafgefangenen getrennten Bereich vollzogen. Die gegen den Beschluss des AG gerichtete Beschwerde hat das LG mit der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene, der nach Ablauf der angeordneten Haftzeit mit der Rechtsbeschwerde die Feststellung begehrt, dass ihn die Haftanordnung in seinen Rechten verletzt habe.
Rz. 3
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu Recht angeordnet worden. Ein Haftgrund liege vor, da die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG in der hier noch maßgeblichen, bis zum 20.8.2019 geltenden Fassung (fortan: a.F.) erfüllt seien, indem die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aufgrund des vom Betroffenen beim BVerwG eingelegten Rechtsbehelfs nicht unmittelbar vollzogen werden könne. Die - von Strafgefangenen getrennte - Unterbringung des Betroffenen in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt sei nach § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. erlaubt, da von ihm, wie von dieser Vorschrift gefordert, eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgehe.
Rz. 5
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die Haftanordnung musste im Streitfall nicht im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Europäischen Union wegen einer absehbar rechtswidrigen Unterbringung des Betroffenen (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 11.7.2013 - V ZB 40/11, juris Rz. 20 [insoweit in NVwZ 2014, 166 nicht abgedruckt]; v. 25.7.2014 - V ZB 137/14, InfAuslR 2014, 441 Rz. 5; v. 25.8.2020 - XIII ZB 40/19, juris Rz. 12, jeweils m.w.N.) unterbleiben.
Rz. 6
a) Die Unterbringung des Betroffenen in der allgemeinen Justizvollzugsanstalt Frankfurt/M. I erfolgte auf der Grundlage des § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. Diese Vorschrift steht mit dem Recht der Europäischen Union, insb. mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EG Nr. L 348, 98 - "Rückführungsrichtlinie"), in Einklang.
Rz. 7
aa) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in dieser Sache auf Vorlage des BGH (Beschl. v. 22.11.2018 - V ZB 180/17, juris) mit Urteil vom 2.7.2020 (C-18/19, juris) entschieden, dass Art. 16 Abs. 1 der Rückführungslinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung getrennt von Strafgefangenen in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht werden darf, weil von ihm eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft oder für die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht.
Rz. 8
bb) Um eine solche nationale Regelung handelt es sich bei § 62a Abs. 1 AufenthG a.F. Zwar wird nach Satz 1 dieser Vorschrift Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Satz 2 der Norm erlaubt jedoch die Vollziehung der Haft in sonstigen Haftanstalten - getrennt von Strafgefangenen -, wenn von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht.
Rz. 9
b) Die in § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. angeführten Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt waren im Streitfall erfüllt. Vom Betroffenen ging eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus und er konnte in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt I getrennt von Strafgefangenen untergebracht werden.
Rz. 10
c) Die Unterbringung des Betroffenen in einer allgemeinen Haftanstalt statt in einer Abschiebungshafteinrichtung ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 11
aa) Allerdings ist eine solche Unterbringung wegen des mit ihr verbundenen Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit der Person, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschl. v. 12.4.2018 - V ZB 162/17, InfAuslR 2018, 335 Rz. 16 m.w.N.), nur dann gerechtfertigt, wenn sie trotz der Schwere des mit einer solchen Maßnahme verbundenen Eingriffs im Hinblick auf die konkrete, von dem Betroffenen ausgehende Gefahr erforderlich und angemessen ist (vgl. dazu auch Schlussanträge des Generalanwalts vom 27.2.2020 - C-18/19, ECLI:EU:C:2020:130 Rz. 96 ff.). Das war hier der Fall.
Rz. 12
(1) In Abschiebungshafteinrichtungen genießen Gefangene deutlich mehr Freiheiten als in Einrichtungen für Untersuchungs- oder Strafgefangene. Die Gefangenen können sich dort in größerem Umfang frei bewegen, haben umfangreiche Kommunikationsmöglichkeiten einschließlich fremdsprachiger nationaler und internationaler Telefonate. Das hat zur Folge, dass sie im Einzelfall schwer zu kontrollieren sind. Eine Absicherung der Einrichtung gegen Übergriffe von außen ist zudem nur bis zu einem gewissen Grad gewährleistet (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 18/12415, 15; Ausschussempfehlungen zu dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BR-Drucks. 179/1/17, S. 15; Schlussanträge des Generalanwalts vom 27.2.2020 - C-18/19, ECLI:EU:C:2020:130 Rz. 103 f.).
Rz. 13
(2) In einer solchen Einrichtung konnte den besonderen Sicherheitsbedürfnissen, wie sie für den Betroffenen auch während seiner Inhaftierung erforderlich waren, nicht in hinreichendem Maß Rechnung getragen werden. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts hatte der Betroffene während eines Syrienaufenthaltes im Jahr 2014 in den Reihen des IS gekämpft und plante nach seiner Rückkehr die Begehung eines Terroranschlags in Deutschland. Der mit Mitgliedern der radikal-salafistischen Szene eng vernetzte und rechtskräftig u.a. wegen Körperverletzung verurteilte Betroffene galt als - insb. zur Durchsetzung seiner Wertvorstellungen - gewaltbereit, weshalb etwa für die Flugabschiebung eine herkömmliche Sicherheitsbegleitung für unzureichend angesehen wurde und auf besonders geschultes Personal zurückgegriffen werden musste. Der Betroffene hätte somit in einer Abschiebungshafteinrichtung eine Gefahr für andere Gefangene und das Aufsichtspersonal bedeutet. Zudem hätte nicht jede Fluchtmöglichkeit ausgeschlossen werden können.
Rz. 14
bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt nicht, dass zugunsten der in den Anwendungsbereich des § 58a AufenthG fallenden Personen - zumindest einzelne - Abschiebungshafteinrichtungen derart umstrukturiert werden, dass sie bei ansonsten unveränderter Funktionsweise die spezifischen Sicherheitsanforderungen für die Unterbringung dieser Personen erfüllen. Dem stehen die gegenläufigen Freiheitsrechte der übrigen Insassen der betreffenden Abschiebungshafteinrichtungen entgegen. Denn eine solche Umstrukturierung würde zwangsläufig zu einer allgemeinen Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen zum Nachteil der Bewegungsfreiheit der übrigen - nicht gefährlichen - Inhaftierten führen, die gezwungen wären, sich in einer Gefängnisumgebung aufzuhalten.
Rz. 15
cc) Ebenso wenig sind aus Gründen der Verhältnismäßigkeit innerhalb der Abschiebungshafteinrichtungen Sondereinheiten für die Unterbringung besonders gefährlicher Personen zu schaffen. Dies würde angesichts der Zahl dieser Personen, die im Vergleich zur Gesamtzahl der im Rahmen eines Rückkehrverfahrens inhaftierten Betroffenen sehr gering und zudem temporär schwankend ist, zu einem unverhältnismäßig hohen organisatorischen und finanziellen Aufwand führen (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 27.2.2020 - C-18/19, ECLI:EU:C:2020:130 Rz. 104, und BeckOK AuslR/Kluth [1.10.2020], § 62a AufenthG Rz. 11a).
Rz. 16
3. Von einer weiteren Begründung wird gem. § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
Fundstellen
Haufe-Index 14325119 |
FGPrax 2021, 37 |
InfAuslR 2021, 151 |
JZ 2021, 182 |