Leitsatz (amtlich)
Wird gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss Rechtsbeschwerde eingelegt und wird beim Rechtsbeschwerdegericht beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 570 Abs. 3 Halbs. 1 ZPO die Vollziehung der Entscheidung der ersten Instanz auszusetzen, steht dem Erfolg eines hierauf gerichteten Antrags nicht entgegen, dass der Antragsteller in der Berufungsinstanz keinen Schutzantrag nach § 712 Abs. 1 Satz 1 ZPO gestellt hat.
Normenkette
ZPO § 575 Abs. 5, § 570 Abs. 3, § 712 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Vollziehung des Teilurteils des LG Darmstadt, 14. Zivilkammer, 3. Kammer für Handelssachen, vom 4.3.2016 wird einstweilen bis zur Entscheidung des Senats über die Rechtsbeschwerde des Beklagten ausgesetzt.
Gründe
Rz. 1
I. Das LG hat den Beklagten auf die von der Klägerin erhobene Stufenklage durch Teilurteil verurteilt, der Klägerin Auskunft darüber zu erteilen, welche E-Mail-Nachrichten an die alte E-Mail-Adresse der Klägerin vom 1.11.2011 bis zum 1.10.2012 eingegangen sind, wobei die E-Mail-Nachrichten im vollen Wortlaut und mit allen Übermittlungsdaten der Klägerin vorzulegen sind. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen, nachdem es den Streitwert für das Berufungsverfahren auf bis zu 500 EUR festgesetzt hat. Der Beklagte hat dagegen Rechtsbeschwerde eingelegt. Nach Begründung der Rechtsbeschwerde hat er beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung die Zwangsvollstreckung bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde einstweilen einzustellen, nachdem die Klägerin mit Schriftsatz vom 5.12.2016 wegen Nichtvornahme der Auskunft die Festsetzung eines Zwangsgeldes und ggf. Zwangshaft beantragt hat.
Rz. 2
II. Der Antrag, den der Senat als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der erstinstanzlichen Entscheidung auslegt, ist zulässig und begründet.
Rz. 3
1. Im Rechtsbeschwerdeverfahren ist dem Beschwerdeführer gem. §§ 575 Abs. 5, 570 Abs. 3 ZPO die Möglichkeit eröffnet, um Aussetzung der Vollziehung der erstinstanzlichen Entscheidung nachzusuchen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist nicht darauf beschränkt, die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung gem. § 570 Abs. 3 Halbs. 2 ZPO auszusetzen. Es kann vielmehr im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 570 Abs. 3 Halbs. 1 ZPO auch die Vollziehung der Entscheidung der ersten Instanz aussetzen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.2002 - IX ZB 48/02, NJW 2002, 1658; Beschl. v. 11.5.2005 - XII ZB 63/05, FamRZ 2005, 1064, 1065; Beschl. v. 15.11.2011 - VIII ZB 95/11, WuM 2011, 703 Rz. 1).
Rz. 4
2. Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die dem Gläubiger durch den Aufschub der Vollstreckung drohenden Nachteile gegeneinander abzuwägen (BGH, FamRZ 2005, 1064, 1065).
Rz. 5
a) Der Einstellung der Vollziehung des angefochtenen Teilurteils steht nicht entgegen, dass der Beklagte in der Berufungsinstanz keinen Schutzantrag nach § 712 Abs. 1 Satz 1 ZPO gestellt hat.
Rz. 6
aa) Zwar ist nach der Rechtsprechung des BGH für die Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil des Berufungsgerichts durch das Revisionsgericht nach § 719 Abs. 2 Satz 1 ZPO kein Raum, wenn der Schuldner es versäumt hat, im Berufungsrechtszug einen Vollstreckungsschutzantrag gem. § 712 ZPO zu stellen, obwohl ihm ein solcher Antrag möglich und zumutbar gewesen wäre (BGH, Beschl. v. 24.11.2010 - XII ZR 31/10, NJW-RR 2011, 705 Rz. 7; Beschl. v. 27.10.2010 - VIII ZR 155/10, WuM 2010, 765 Rz. 3). Diese Rechtsprechung kann jedoch auf die Einstellung der Vollziehung gem. § 570 Abs. 3 ZPO durch das Rechtsbeschwerdegericht nicht übertragen werden.
Rz. 7
bb) Die Voraussetzungen für den Erfolg eines Schutzantrags nach § 712 ZPO und eines Antrags nach § 719 Abs. 2 Satz 1 ZPO sind identisch: Dem Schuldner muss durch die Vollstreckung ein nicht zu ersetzender Nachteil drohen, und es darf kein überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegenstehen. Die Möglichkeit, einen Antrag nach § 712 ZPO zu stellen, besteht nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht und ist damit zeitlich begrenzt (§ 714 Abs. 1 ZPO); diese Begrenzung ginge ins Leere, wenn der Schuldner in der Revisionsinstanz unter denselben Bedingungen das gleiche Ergebnis durch einen Antrag nach § 719 Abs. 2 ZPO erreichen könnte (MünchKomm/ZPO/Götz, 6. Aufl., § 719 Rz. 13).
Rz. 8
cc) Demgegenüber sind die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung nach § 570 Abs. 3 ZPO und diejenigen für den Erfolg eines Schutzantrags nach § 712 ZPO nicht identisch. Zwar darf in beiden Fällen das Interesse des Gläubigers dasjenige des Schuldners nicht überwiegen. Die Aussetzung der Vollziehung nach § 570 Abs. 3 ZPO setzt jedoch nicht wie die Schutzanordnung nach § 712 Abs. 1 ZPO voraus, dass dem Schuldner durch die Vollstreckung ein nicht zu ersetzender Nachteil droht.
Rz. 9
b) Die nach § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht von vornherein ohne Erfolgsaussicht. Die Rechtsbeschwerdebegründung zeigt auf, dass das Berufungsgericht sich nicht hinreichend mit dem Vorbringen des Beklagten auseinandergesetzt hat, der für die Auskunftserteilung erforderliche Aufwand an Zeit und Kosten überschreite den vom Berufungsgericht angenommenen Wert von 500 EUR.
Rz. 10
c) Die Nachteile, die dem Beklagten durch die Vollstreckung des Teilurteils entstehen, überwiegen die Nachteile, die der Klägerin durch einen Aufschub der Vollstreckung bis zu der Entscheidung des Senats über die bereits begründete Rechtsbeschwerde entstehen können. Die Klägerin begehrt mit der Zahlungsklage, deren Vorbereitung die in Rede stehende Auskunftsverpflichtung dient, Schadensersatz wegen ihr möglicherweise in der Zeit vom 1.11.2011 bis zum 1.10.2012 aufgrund Unkenntnis der auf dem in Rede stehenden Konto eingegangenen E-Mails entgangener Geschäftschancen. Da das E-Mail-Konto der Klägerin unstreitig seit über vier Jahren gelöscht ist, ist nicht zu besorgen, dass sich der Schaden der Klägerin durch die einstweilige Aussetzung der Vollziehung der Auskunftsverurteilung bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde des Senats wesentlich vergrößert. Der Beklagte liefe dagegen ohne eine Einstellung der Zwangsvollstreckung Gefahr, dass der vom LG als nicht bewiesen erachtete Vortrag des Beklagten, er sei infolge der Löschung der E-Mail-Kontos der Klägerin zu einer Auskunftserteilung nicht in der Lage, im Zwangsvollstreckungsverfahren unberücksichtigt bleibt und gegen ihn Zwangsmaßnahmen verhängt werden, die er nicht durch Erfüllung des Auskunftsanspruchs abwenden kann.
Fundstellen
Haufe-Index 10209592 |
FamRZ 2017, 539 |
NJW-RR 2017, 571 |
EWiR 2017, 383 |
WM 2017, 782 |
DGVZ 2017, 73 |
JZ 2017, 221 |
MDR 2017, 303 |