Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen des Haftgrunds bei Wechsel des Aufenthaltsorts ohne Angabe einer Adresse
Leitsatz (amtlich)
a) Der Haftgrund gem. § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG setzt in der Regel voraus, dass die Ausländerbehörde den Ausländer auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hingewiesen hat.
b) Gründet sich der Verdacht der Entziehungsabsicht allein auf Umstände, die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelt sind, kann die Haft nicht zusätzlich auf § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützt werden.
Normenkette
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nrn. 5, 2
Verfahrensgang
LG Heilbronn (Beschluss vom 30.11.2010; Aktenzeichen 1 T 547/10 Ri) |
AG Öhringen (Beschluss vom 16.11.2010; Aktenzeichen XIV 4/10) |
Tenor
Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen für die Einlegung und die Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Heilbronn vom 30.11.2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zweckentsprechenden außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen werden dem Land Baden-Württemberg auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene ist kasachischer Staatsangehöriger und hält sich seit dem Jahre 2007 im Bundesgebiet auf. Er wurde mit Verfügung vom 25.9.2009 unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet innerhalb eines Monats aufgefordert. Der von dem Betroffenen gegen die Abschiebungsandrohung beantragte einstweilige Rechtsschutz vor dem VG ist ohne Erfolg geblieben.
Rz. 2
In der Folgezeit hielt sich der Betroffene nicht mehr in der ihm zugewiesenen Unterkunft auf. Am 15.11.2010 wurde er in Gewahrsam genommen, als er bei der Stadtverwaltung seine Eheschließung anmelden wollte.
Rz. 3
Auf Antrag des Beteiligten zu 2) hat das AG mit Beschluss vom 16.11.2010 Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von höchstens zwei Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das LG zurückgewiesen. Nach Beendigung des Beschwerdeverfahrens ist er aus der Haft entlassen worden. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt er, den Beschluss des LG aufzuheben.
II.
Rz. 4
Das Beschwerdegericht meint, die Anordnung der Sicherungshaft sei zu Recht erfolgt. Die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 5 AufenthG seien gegeben. Der Betroffene habe seinen Aufenthaltsort gewechselt, ohne dies der Ausländerbehörde bekannt zu geben, und sei damit untergetaucht, was den Verdacht begründe, er werde sich seiner Abschiebung entziehen. Dieser Annahme stehe die beabsichtigte Eheschließung nicht entgegen. Von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen habe es abgesehen, da aufgrund der anwaltlichen Vertretung des Betroffenen und seiner erst kurz zuvor erfolgten persönlichen Anhörung durch das AG keine neuen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien.
III.
Rz. 5
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.
Rz. 6
a) Der Betroffene hat infolge seiner Bedürftigkeit die Fristen für die Einlegung der Rechtsbeschwerde (§ 71 Abs. 1 Satz 1 FamFG) und ihre Begründung (§ 71 Abs. 2 Satz 1 FamFG) versäumt. Ihm ist daher gegen die Versäumung beider Fristen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 17 Abs. 1 FamFG. Nach Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe hat er die Einlegung und die Begründung der Rechtsbeschwerde fristgerecht nachgeholt (§§ 18 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, 71 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 FamFG).
Rz. 7
b) Der von ihm gestellte Antrag auf Aufhebung der Beschwerdeentscheidung ist dem erkennbar verfolgten Rechtsschutzziel entsprechend in einen Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG hinsichtlich der Beschwerdeentscheidung umzudeuten. Die Auslegung des Rechtsschutzbegehrens lässt jedoch keine Umdeutung dahingehend zu, dass auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Entscheidung des AG beantragt ist. Einen solchen Antrag hat er weder in der Beschwerdeinstanz gestellt noch hat er die Haftanordnung zum Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens gemacht.
Rz. 8
3. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Beschwerdeentscheidung hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
Rz. 9
a) Die Feststellungen tragen nicht den angenommenen Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG.
Rz. 10
(1) Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird (BGH, Beschl. v. 9.2.2011 - V ZB 16/11 Rz. 8, juris; Beschl. v. 1.7.1993 - V ZB 19/93, NJW 1993, 3069, 3070 zu § 57 Abs. 2 AuslG). Wegen dieser einschneidenden Folge muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen (Senat, Beschluss vom 9.2.2011 - V ZB 16/11 Rz. 8, juris; OLG Celle, InfAuslR 2004, 118; OLG München OLGReport München 2007, 144, 145; OLG Zweibrücken, InfAuslR 2006, 376; Hailbronner, AuslR, 61. Aktualisierung, § 62 AufenthG Rz. 44 a.E.). Bei der Anwendung der Vorschrift ist zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der in Ausnahmefällen dazu führt, dass die Vermutung widerlegt werden kann (BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344 zu § 57 Abs. 2 AuslG; insoweit unzutreffend BGH, Beschl. v. 9.2.2011 - V ZB 16/11 Rz. 8, juris, im Anschluss an den Beschl. v. 1.7.1993 - V ZB 19/93, NJW 1993, 3069, 3070 zu § 57 Abs. 2 AuslG). Will sich der Ausländer offensichtlich nicht der Abschiebung entziehen, ist der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel allein kein ausreichender Haftgrund (BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344; Hailbronner, AuslR, 61. Aktualisierung, § 62 AufenthG Rz. 44).
Rz. 11
(2) Der Betroffene hat dem Beteiligten zu 2) seinen Aufenthaltsort im Bundesgebiet zwar nicht mitgeteilt. Dass er auf seine Pflicht zur Mitteilung seines Aufenthalts an die Ausländerbehörde hingewiesen worden ist, lässt sich den Feststellungen des Beschwerdegerichts aber nicht entnehmen.
Rz. 12
b) Der Hinweis auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG ist nicht deshalb entbehrlich, weil das Beschwerdegericht sich zusätzlich auf den Haftgrund der Entziehungsabsicht nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützt hat. § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG enthält eine gegenüber der generalklauselartig formulierten Bestimmung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG speziellere Regelung (vgl. Senat, Beschl. v. 3.2.2005 - V ZB 48/04 zu § 57 Abs. 2 AuslG; a.A. OLG Köln OLGReport Köln 2006, 29, 30). Gründet sich der Verdacht der Entziehungsabsicht allein auf Umstände, die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelt sind, ist ein Rückgriff auf die Generalklausel verwehrt. § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG kommt als zusätzlicher Haftgrund nur dann in Betracht, wenn weitere konkrete Umstände die Feststellung der Entziehungsabsicht tragen. Daran fehlt es hier, weil das Beschwerdegericht die Entziehungsabsicht des Betroffenen nur mit dem nicht angezeigten Aufenthaltswechsel begründet hat. Dieser rechtfertigt allein unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG die Anordnung von Sicherungshaft.
Rz. 13
c) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hat den Betroffenen schließlich in seinen Rechten verletzt, weil er in dem Beschwerdeverfahren - wie von der Rechtsbeschwerde gerügt - nicht persönlich angehört worden ist.
Rz. 14
Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG und Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GG auch im Beschwerdeverfahren grundsätzlich zwingend vorgeschrieben. Hiervon darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (BGH, Beschl. v. 17.6.2010 - V ZB 3/10 Rz. 8, FGPrax 2010, 261; Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09 Rz. 13, BGHZ 184, 323; Beschl. v. 28.1.2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163). An diesen Voraussetzungen fehlte es. Dabei kann dahinstehen, ob eine Anhörung schon im Hinblick auf den möglichen Eingriff in das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK erfolgen musste. Denn jedenfalls musste der Betroffene zu der unterlassenen Anzeige des Aufenthaltswechsels an die Ausländerbehörde angehört werden. Dies war in der Beschwerdeinstanz nicht wegen der in erster Instanz erfolgten Anhörung entbehrlich. Diese Frage ist ausweislich des Protokolls nicht thematisiert worden und die im Anschluss daran ergangene Haftanordnung lässt schon nicht erkennen, auf welchen Haftgrund sich das AG gestützt hat.
IV.
Rz. 15
1. Die Sache ist zur Entscheidung reif, § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG. Zwar wäre möglicherweise noch feststellbar, ob die erforderliche Belehrung des Betroffenen erfolgt ist. Dazu ist der Betroffene aber nicht angehört worden. Das Unterlassen der notwendigen persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren drückt wegen deren grundlegender Bedeutung der gleichwohl aufrechterhaltenen Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch die Nachholung der Maßnahme - jedenfalls im Fall der Erledigung der Hauptsache - rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (BGH, Beschl. v. 21.10.2010 - V ZB 176/10 Rz. 12, juris; Beschluss vom 4.3.2010 - V ZB 184/09 Rz. 12, FGPrax 2010, 152).
Rz. 16
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1, 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, das Land Baden-Württemberg als derjenigen Körperschaft, der der Beteiligte zu 2) angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten(vgl. Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10 Rz. 18, juris). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen