Leitsatz (amtlich)
Eine Partei und ihr Prozessbevollmächtigter handeln nicht schuldhaft i.S.d. § 233 ZPO, wenn sie sich auch vor und an Feiertagen auf die Einhaltung der von der Post angegebenen Brieflaufzeiten verlassen und deshalb keine besonderen Vorkehrungen treffen, um den Eingang eines fristwahrenden Schriftsatzes bei Gericht zu überwachen.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
LG Osnabrück (Beschluss vom 06.10.2006; Aktenzeichen 4 S 167/06) |
AG Lingen (Ems) (Urteil vom 14.02.2006; Aktenzeichen 4 C 1077/05 (V) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Osnabrück vom 6.10.2006 aufgehoben.
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde wird auf 876,73 EUR festgesetzt.
Gründe
[1] I. Der Kläger hat gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 16.2.2006 zugestellte Urteil des AG Lingen vom 14.2.2006 am 14.3.2006 beim LG Osnabrück Berufung eingelegt. Diese hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13.4.2006 begründet, der am 19.4.2006 beim LG eingegangen ist. Mit einem am 26.4.2006 zugegangenen Schriftsatz hat der Kläger beantragt, ihm wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
[2] Hierzu hat der Kläger ausgeführt:
[3] Die Berufungsbegründung sei am Donnerstag, dem 13.4.2006, gegen 19.30 Uhr von einer Mitarbeiterin seines Prozessbevollmächtigten in den Briefkasten am Hauptpostamt in Oldenburg eingeworfen worden. Der Briefkasten werde nach den dort angebrachten Angaben täglich um 19.30 Uhr (Spätleerung) und um 22.00 Uhr (Nachtleerung) geleert. An dem Briefkasten sei folgender Hinweis angebracht:
"Alle Sendungen aus einer Tages- und Spätleerung erreichen den Empfänger bundesweit mit der nächsten Zustellung. Bei Nachtleerungen gilt dies nur für den Bereich mit der Postleitzahl 26".
[4] Das Berufungsgericht hat den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beruhe auf einem Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers. Dieser habe damit rechnen müssen, dass beim Einwurf des Schriftsatzes in den Briefkasten am 13.4.2006 gegen 19.30 Uhr die Spätleerung bereits erfolgt und wegen des folgenden Osterwochenendes der Eingang des Schriftsatzes am 18.4.2006 beim LG Osnabrück, das nicht zum Postleitzahlenbereich 26 gehöre, nicht gewährleistet gewesen sei. Davon sei offensichtlich auch der Prozessbevollmächtigte des Klägers ausgegangen, der eine Mitarbeiterin beauftragt habe, am 18.4.2006 beim LG Osnabrück anzurufen, um sich nach dem Eingang des Schriftsatzes zu erkundigen. Die Mitarbeiterin habe aber nach den eigenen Angaben des Prozessbevollmächtigten des Klägers an diesem Tag niemanden mehr telefonisch auf der Geschäftsstelle erreicht.
[5] II. 1. Die nach §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Eine Entscheidung des BGH ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO) geboten. Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger in seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip), wonach den Parteien der Zugang zu einer in der Verfahrensordnung vorgesehenen Instanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf. Dies bedeutet, dass einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden darf, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen er auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers nicht rechnen musste (BVerfG, Beschl. v. 14.12.2001 - 1 BvR 1009/01, NJW-RR 2002, 1004).
[6] 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Gewährung der Wiedereinsetzung. Das Berufungsgericht hat dem Kläger die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht verwehrt. Der Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand steht kein dem Kläger zurechenbares Verschulden seines Prozessbevollmächtigten an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist entgegen (§§ 85 Abs. 2, 233 ZPO).
[7] a) Den Prozessbevollmächtigten einer Partei trifft im Regelfall kein Verschulden an dem verspäteten Zugang eines Schriftsatzes, wenn er veranlasst, dass der Schriftsatz so rechtzeitig in den Briefkasten eingeworfen wird, dass er nach den normalen Postlaufzeiten fristgerecht bei dem Gericht hätte eingehen müssen. Wenn dem Prozessbevollmächtigten keine besonderen Umstände bekannt sind, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen können, darf er darauf vertrauen, dass diese eingehalten werden (BGH, Beschl. v. 30.9.2003 - VI ZB 60/02, 003, 3712, 3713). Dies gilt auch, wenn vor Feiertagen mit einer besonders starken Beanspruchung der Post zu rechnen ist (BVerfG, Beschl. v. 25.9.2000 - 1 BvR 2104/99, NJW 2001, 1566 f.).
[8] b) Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger den Einwurf der Postsendung mit der Berufungsbegründung am 13.4.2006 gegen 19.30 Uhr in den Briefkasten am Hauptpostamt Oldenburg und den an dem Briefkasten angebrachten Hinweis auf die Postlaufzeiten durch eidesstattliche Versicherung der Mitarbeiterin P. seines Prozessbevollmächtigten glaubhaft gemacht hat.
[9] Bei einem Einwurf der Berufungsbegründungsschrift in den Postkasten am 13.4.2006 auch zu einem Zeitpunkt nach der Spätleerung konnte der Prozessbevollmächtigte aufgrund des an dem Briefkasten angebrachten Hinweises der Post davon ausgehen, dass der Brief - ebenso wie die Spätleerung am 14.4.2006 (Karfreitag) um 19.30 Uhr - am Samstag, dem 15.4.2006, beim LG Osnabrück eingehen würde. Jedenfalls konnte der Prozessbevollmächtigte - selbst wenn er den Brief erst am Ostermontag vor der Spätleerung in den Briefkasten eingeworfen hätte - annehmen, dass die Postsendung mit der Berufungsbegründungsschrift an dem den Osterfeiertagen folgenden Zustelltag, dem 18.4.2006, dem LG zugehen würde. Dies wäre zur Wahrung der Berufungsbegründungsfrist ausreichend gewesen.
[10] Darauf, ob der Kläger durch weitere Maßnahmen (Nachfrage am 18.4.2006 beim LG Osnabrück und erneute Zusendung der Berufungsbegründung am selben Tag per Telefax) die Wahrung der Frist noch hätte erreichen können, kommt es nicht an. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers war nicht verpflichtet, sich darüber zu vergewissern, ob der Schriftsatz rechtzeitig beim LG eingegangen war. Wenn er seine Mitarbeiterin M. anwies, sich am Dienstag, dem 18.4.2006, nach dem Eingang des Schriftsatzes beim LG Osnabrück zu erkundigen, hat er mehr als erforderlich getan. Brachte der Versuch, eine Bestätigung des Eingangs der Berufungsbegründung zu erhalten, keine Klärung, kann dies dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen (vgl. BGH, Beschl. v. 11.10.1989 - IVa ZB 7/89, NJW 1990, 188, 189).
Fundstellen