Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendigkeit eines Personaleinsatzes im Inland für die internationale Zuständigkeit im europäischen Insolvenzrecht
Leitsatz (redaktionell)
Nach Art. 2 lit. h EuInsVO setzt die Qualifizierung als Niederlassung kumulativ den Einsatz von Personal und Vermögen zu geschäftlichen Zwecken voraus, ohne dass es auf eine Eintragung als Niederlassung im Handelsregister ankommt. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte genügt aber nicht für eine Qualifizierung als Niederlassung. Die Belegenheit des Grundstücks der Schuldnerin im Inland reicht nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine nach außen hin wahrnehmbare wirtschaftliche Tätigkeit, welche darüber hinausgeht und durch Personal erbracht wird. Die eigene Tätigkeit der Schuldnerin, etwa durch das Organ der Gesellschaft, reicht nicht aus, um von eingesetztem Personal sprechen zu können.
Die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsVO kann widerlegt werden, wenn objektive und für Dritte feststellbare Umstände belegen, dass der Interessenmittelpunkt in Wirklichkeit in einem anderen Mitgliedstaat als am satzungsmäßigen Sitz liegt. Dies kann insbesondere bei einer sogenannten Briefkastenfirma der Fall sein, die im Mitgliedstaat, in dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz befindet, keiner Tätigkeit nachgeht.
Bei der Bestimmung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Schuldnergesellschaft zum Zeitpunkt der Antragstellung ihre Tätigkeiten bereits eingestellt hatte und aus dem Register gelöscht war. Für eine derartige Fallgestaltung ist der letzte Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnergesellschaft von Bedeutung. Dies gilt ebenfalls, wenn die Schuldnergesellschaft noch nicht im Handelsregister gelöscht war, aber ihre Geschäftstätigkeiten bereits eingestellt hatte.
Normenkette
EuInsVO Art. 3 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsmittel der weiteren Beteiligten werden die Beschlüsse der 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld vom 17. Oktober 2011 und des Amtsgerichts Bielefeld vom 23. August 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsmittel – an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 192.000 EUR festgesetzt.
Tatbestand
I.
Rz. 1
Die Schuldnerin ist eine im Handelsregister von Palma die Mallorca eingetragene Sociedad de responsabilidad limitada (S.L.), für die im deutschen Handelsregister eine Zweigniederlassung in Gütersloh eingetragen ist. Ihre Gesellschaftsanteile waren im Jahre 2006 an einen Schweizer und einen deutschen Staatsangehörigen übertragen worden, wobei der deutsche Gesellschafter zum alleinigen Geschäftsführer bestellt wurde. Als einzige geschäftliche Aktivität der Schuldnerin ist der Erwerb eines Baugrundstücks in Deutschland bekannt, welches von ihr bebaut und anschließend vermietet wurde. Die weitere Beteiligte finanzierte dieses Vorhaben durch zwei Darlehen. Am 9. April 2010 verstarb der Geschäftsführer der Schuldnerin. Danach entfaltete die Schuldnerin keine Verwaltungstätigkeit mehr in Deutschland. Dass sie in Spanien geschäftlich tätig ist oder war, wurde nicht festgestellt.
Rz. 2
Die weitere Beteiligte beantragte am 4. April 2011 beim deutschen Amtsgericht, das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin zu eröffnen. Das Insolvenzgericht lehnte dies nach Einholung eines Sachverständigengutachtens ab, weil die deutschen Gerichte für ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin nicht international zuständig seien. Die sofortige Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die weitere Beteiligte ihren Eröffnungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 3
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO, § 34 Abs. 1, §§ 4, 6, 7 InsO, Art. 103f Satz 1 EGInsO statthaft. Die nach § 575 ZPO form- und fristgerecht erhobene Rechtsbeschwerde ist zudem nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO zulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Sie führt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Zurückverweisung der Sache an das Insolvenzgericht.
Rz. 4
1.
Die Vorinstanzen haben ausgeführt, die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren (EuInsVO) im Inland komme nicht in Betracht, weil die Schuldnerin zum Zeitpunkt der Antragstellung ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zumindest in Deutschland eingestellt habe. Aufgrund der Vermutung nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO könne dann nur noch der satzungsmäßige Sitz, der in Spanien liege, für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit ausschlaggebend sein. Da die Schuldnerin jedenfalls seit dem Tod des Geschäftsführers über kein Personal mehr in Deutschland verfüge, habe zur Zeit der Antragstellung auch keine inländische Niederlassung mehr bestanden, welche die Eröffnung eines Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 2 und 4 EuInsVO ermöglicht hätte.
Rz. 5
2.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.
Rz. 6
a)
Zutreffend haben die Vorinstanzen ihre internationale Zuständigkeit für die Eröffnung eines Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 2 und 4 EuInsVO verneint. Tatsächlich bestand zu keinem Zeitpunkt eine dafür erforderliche Niederlassung der Schuldnerin im Sinne von Art. 2 lit. h EuInsVO in Deutschland. Nach dieser Vorschrift setzt die Qualifizierung als Niederlassung kumulativ den Einsatz von Personal und Vermögen zu geschäftlichen Zwecken voraus, ohne dass es auf eine Eintragung als Niederlassung im Handelsregister ankäme. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte genügt nicht für eine Qualifizierung als Niederlassung (EuGH, Urteil vom 20. Oktober 2011 – Rs. C-396/09, Interedil, EuZW 2011, 912 Rn. 62 [EuGH 20.10.2011 – Rs. C-396/09]; BGH, Beschluss vom 8. März 2012 – IX ZB 178/11, ZIP 2012, 782 Rn. 6; MünchKomm-BGB/Kindler, 2010, Art. 2 VO (EG) 1346/2000 Rn. 24 ff; HK-InsO/Stephan, 6. Aufl., Art. 2 EuInsVO Rn. 13; Nerlich/Römermann, InsO, 2011, Art. 2 VO (EG) 1346/2000 Rn. 13; Carstens, Die internationale Zuständigkeit im europäischen Insolvenzrecht, 74 ff). Die Belegenheit des Grundstücks der Schuldnerin im Inland reicht somit nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine nach außen hin wahrnehmbare wirtschaftliche Tätigkeit, welche darüber hinausgeht und durch Personal erbracht wird. Es müssen nicht zwingend eigene Arbeitnehmer der Schuldnerin eingesetzt werden, wohl aber Personen, welche von ihr beauftragt wurden und nach außen hin erkennbar für sie tätig sind (vgl. BGH, Beschluss vom 8. März 2012, aaO Rn. 11; Münch-Komm-InsO/Reinhart, 2008, Art. 2 VO (EG) 1346/2000 Rn. 30; HK-InsO/Stephan, 6. Aufl., Art. 2 EuInsVO Rn. 13; Nerlich/Römermann, aaO Rn. 11 f; Uhlenbruck/Lüer, InsO, 13. Aufl., Art. 2 EuInsVO Rn. 16; Vallender, NZI 2008, 633 [BGH 17.07.2008 – IX ZR 245/06]).
Rz. 7
Im Streitfall gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzung eines Personaleinsatzes der Schuldnerin im Inland erfüllt ist. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die Schuldnerin hier zwar Immobilienvermögen unterhielt, welches vermietet wurde, so dass sie eine gewisse wirtschaftliche Tätigkeit nicht nur vorübergehender Art in Deutschland entfaltete. Die Immobilie wurde jedoch allein vom verstorbenen Geschäftsführer verwaltet und betreut, ohne dass erkennbar wäre, dass für eine gewisse Dauer andere angestellte oder beauftragte Personen von der Schuldnerin im Inland eingesetzt wurden. Die eigene Tätigkeit der Schuldnerin, etwa durch das Organ der Gesellschaft, reicht jedenfalls nicht aus, um von eingesetztem Personal im Sinne von Art. 2 lit. h EuInsVO sprechen zu können (OLG Wien, NZI 2005, 56, 60; LG Hannover, NZI 2008, 631, 632 [LG Hannover 10.04.2008 – 20 T 5/08]; Nerlich/Römermann, aaO Rn. 10). Der in Deutschland von der Schuldnerin für die Erstellung des Jahresabschlusses 2007 und der Steuererklärungen 2007 beauftragte Steuerberater stellt ebenso wenig Personal im Sinne der Regelung dar, weil er nur gelegentlich und nicht für eine gewisse Dauer von der Schuldnerin für Tätigkeiten eingesetzt wurde (vgl. Nerlich/Römermann, aaO Rn. 11).
Rz. 8
Diese Umstände sind von der weiteren Beteiligten selbst vorgetragen worden, ohne dass sich das Insolvenzgericht aufgrund begründeter Zweifel nach § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO hätte veranlasst sehen müssen, diese Angaben zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2011 – IX ZB 232/10, ZIP 2012, 139 Rn. 11). Es kann mithin davon ausgegangen werden, dass die Schuldnerin über kein Personal in Deutschland verfügte und damit keine Niederlassung im Inland bestand. Damit scheidet eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für ein Partikularverfahren nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO aus.
Rz. 9
b)
Demgegenüber hat das Insolvenzgericht die internationale Zuständigkeit für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO zu Unrecht verneint. Nach dieser Vorschrift sind die Gerichte des Mitgliedstaates für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Gebiet die Schuldnerin den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen stellt Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO die Vermutung auf, dass dies der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist. Auf diesen satzungsmäßigen Sitz konnte im Streitfall jedoch nicht abgestellt werden. Denn die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO kann widerlegt werden, wenn objektive und für Dritte feststellbare Umstände belegen, dass der Interessenmittelpunkt in Wirklichkeit in einem anderen Mitgliedstaat als am satzungsmäßigen Sitz liegt (EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006 – Rs. C-341/04, Eurofood IFSC, EuGH-Slg. 2006 I-03813 Rn. 34; vom 20. Oktober 2011, aaO Rn. 51; vom 15. Dezember 2011 – Rs. C-191/10, Rastelli, ZIP 2012, 183 Rn. 35 [EuGH 15.12.2011 – Rs. C-191/10]). Dies kann insbesondere bei einer sogenannten Briefkastenfirma der Fall sein, die im Mitgliedstaat, in dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz befindet, keiner Tätigkeit nachgeht (EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006, aaO Rn. 35). Als relevante, für Dritte erkennbare Umstände, die auf einen abweichenden Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen hindeuten, können etwa außerhalb des satzungsmäßigen Sitzes belegene Immobilien sprechen, für die Mietverträge abgeschlossen sind und die mit Hilfe eines im dortigen Mitgliedstaat ansässigen Kreditinstituts finanziert wurden (EuGH, Urteil vom 20. Oktober 2011, aaO Rn. 53).
Rz. 10
Nach den bisher getroffenen Feststellungen bestehen ausreichende Anhaltspunkte für einen vom satzungsgemäßen Sitz abweichenden Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen der Schuldnerin in Deutschland. Nur hier konnten Vermögenswerte und geschäftliche Tätigkeiten der Schuldnerin festgestellt werden. Demgegenüber sind keinerlei Indizien für wirtschaftliche Aktivitäten der Schuldnerin in Spanien vorhanden. Dort unterhielt sie offensichtlich nur einen Briefkasten. Die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO ist auch nicht deshalb heranzuziehen, weil die Schuldnergesellschaft ihre Tätigkeiten in Deutschland bereits vor der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingestellt hatte. Richtig ist zwar, dass bei der Bestimmung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist (EuGH, Urteil vom 17. Januar 2006 – Rs C-1/04, Staubitz-Schreiber, ZIP 2006, 188 [EuGH 17.01.2006 – C 1/04]; BGH, Beschluss vom 22. März 2007 – IX ZB 164/06, ZIP 2007, 878 Rn. 5). Dies gilt jedoch nicht, wenn die Schuldnergesellschaft zum Zeitpunkt der Antragstellung ihre Tätigkeiten bereits eingestellt hatte und aus dem Register gelöscht war. Für eine derartige Fallgestaltung ist vielmehr der letzte Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnergesellschaft von Bedeutung (EuGH, Urteil vom 20. Oktober 2011, aaO Rn. 58). Der Senat hat auf diesen Zeitpunkt ebenfalls abgestellt, wenn die Schuldnergesellschaft wie im Streitfall noch nicht im Handelsregister gelöscht war, aber ihre Geschäftstätigkeiten bereits eingestellt hatte (BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2011, aaO Rn. 15 f).
Rz. 11
3. Die angefochtenen Beschlüsse können damit keinen Bestand haben, soweit sie die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO verneint haben. Sie sind aufzuheben; die Sache ist gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO in Verbindung mit § 572 Abs. 3 ZPO an das Insolvenzgericht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juli 2004 – IX ZB 161/03, BGHZ 160, 176, 185 f; vom 4. November 2004, ZVI 2004, 745, 746 [BGH 04.11.2004 – IX ZB 70/03]) zurückzuverweisen, welches die weiteren Voraussetzungen für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu prüfen haben wird.
Unterschriften
Kayser, Vill, Lohmann, Fischer, Pape
Fundstellen
DStR 2012, 12 |
WM 2012, 1635 |
ZIP 2012, 1920 |
NZI 2012, 725 |
ZInsO 2012, 1491 |
InsbürO 2013, 114 |