Leitsatz (amtlich)
Die versäumte oder fehlerhafte Belehrung nach Art. 36 WÜK oder vergleichbaren bilateralen Abkommen führt nur dann zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung, wenn das Verfahren ohne den Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (Aufgabe von BGH, Beschluss vom 18.11.2010 - V ZB 165/10, FGPrax 2011, 99).
Normenkette
WÜK Art. 36
Verfahrensgang
LG Kassel (Beschluss vom 13.05.2015; Aktenzeichen 3 T 246/15) |
AG Kassel (Beschluss vom 04.05.2015; Aktenzeichen 700 XIV 316/15 B) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Kassel vom 4.5.2015 und der Beschluss des LG Kassel - 3. Zivilkammer - vom 13.5.2015 den Betroffenen bis zum 27.5.2015 in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Land Hessen auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene reiste am 15.1.2014 unerlaubt aus Italien nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Eine Recherche in dem europäischen Asylantragsregister EURODAC ergab, dass er schon ein Jahr zuvor in Italien einen Asylantrag gestellt hatte. Deshalb richteten die deutschen Behörden am 21.3.2014 ein Rücküberstellungsersuchen an Italien, auf welches die italienischen Behörden bis zum 5.4.2014 nicht antworteten. Der Betroffene versuchte seine Rücküberstellung nach Italien mit Eilanträgen bei den VG zu verhindern, was ihm nicht gelang. Am 29.7.2014 brach das zuständige Bundesamt das Rücküberstellungsverfahren ab, nachdem es von den italienischen Behörden erfahren hatte, dass der Betroffene in Italien über subsidiären Schutzstatus verfüge und ihm daher ein Aufenthaltsrecht in Italien zustehe. Es stellte mit Bescheid vom 15.8.2014 fest, dass dem Betroffenen in Deutschland kein Asyl zusteht, und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Ein Versuch, die Abschiebung am 27.3.2015 zu vollziehen, scheiterte daran, dass der Betroffene zunächst nicht anzutreffen war, sich später seiner Abschiebung nach Italien widersetzte und ein Flug für einen Polizeibeamten, der ihn nach Italien begleitete, nicht gebucht war. Er erhielt eine Duldung und wurde, als er sich am 4.5.2015 erneut wegen der Verlängerung der Duldung bei der zuständigen Behörde meldete, festgenommen.
Rz. 2
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das AG mit Beschluss vom 4.5.2015 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 15.6.2015 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen hat das LG mit Beschluss vom 13.5.2015 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich dieser mit der Rechtsbeschwerde, nach seiner Entlassung aus der Haft am 28.5.2015 mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haft festzustellen.
II.
Rz. 3
Das Beschwerdegericht hält die Haftordnung für rechtmäßig. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Hafthindernisse bestünden nicht. Der Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG liege vor, weil sich der Betroffene dem ersten Abschiebungsversuch entzogen habe.
III.
Rz. 4
Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Haftanordnung ist rechtswidrig und verletzt den Betroffenen in seinen Rechten.
Rz. 5
1. Das ergibt sich allerdings entgegen der Ansicht des Betroffenen nicht schon daraus, dass § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG als Grund für die Anordnung von Haft bei Anordnung und während der Dauer der Haft nicht anwendbar war.
Rz. 6
a) Es ist zwar richtig, dass die Anordnung von Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2015 (ABl. EU Nr. L 180, 31 - Dublin-III-Verordnung) vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 27.7.2015 (BGBl. I, 1386) am 1.8.2015 nur auf die Haftgründe nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG gestützt werden konnte, nicht dagegen auf die Haftgründe nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und der damals geltenden Nr. 5 AufenthG (BGH, Beschlüsse v. 26.6.2014 - V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rz. 23, 31; v. 22.10.2014 - V ZB 124/14, NVwZ 2015, 607 Rz. 11 f.). Es spricht manches dafür, dass das auch für den Haftgrund nach § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG gilt, auf den die Haftanordnung hier gestützt ist. Das muss aber nicht entschieden werden.
Rz. 7
b) Gegen den Betroffenen ist Haft nicht zur Sicherung seiner Rücküberstellung nach Italien gemäß der Dublin-III-Verordnung, sondern zur Sicherung seiner Abschiebung dorthin angeordnet worden. Auf eine Abschiebung war § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in der seinerzeit geltenden Fassung uneingeschränkt anwendbar.
Rz. 8
aa) Zunächst kam allerdings keine Abschiebung, sondern nur eine Rücküberstellung in Betracht, weil nicht das deutsche Bundesamt über den Asylantrag des Betroffenen zu entscheiden hatte, sondern die italienischen Behörden. Italien hatte ihm nämlich Schutz gewährt und war deshalb nach Art. 12 Dublin-III-Verordnung für die Bearbeitung auch dieses Antrags zuständig. Im weiteren Verlauf des Rücküberstellungsverfahrens soll die Zuständigkeit aber auf das deutsche Bundesamt übergegangen sein, möglicherweise deshalb, weil die Frist für den Vollzug der Rücküberstellung nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung verstrichen war. Dann wäre über den Asylantrag nach deutschem Asylrecht zu entscheiden und dieser als unzulässig zurückzuweisen gewesen. Denn ein Asylsuchender, dem - wie hier dem Betroffenen - in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union Schutz gewährt worden ist, hat keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland; sein Antrag ist unzulässig (BVerwG, Urt. v. 17.6.2014 - 10 C 7.13, BVerwGE 150, 29 Rz. 29).
Rz. 9
bb) Ein Betroffener, dem in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Asyl gewährt und dessen weiterer Asylantrag in Deutschland als unzulässig zurückgewiesen worden ist, ist nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in diesen Mitgliedstaat abzuschieben, wenn die Durchführung sichergestellt ist. Denn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind nach § 26a Abs. 2 AsylVfG sichere Drittstaaten. Zur Sicherung einer solchen Abschiebung kann Haft unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG angeordnet werden. Das strebte die beteiligte Behörde an.
Rz. 10
2. Die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung folgt auch nicht aus einem etwaigen Fehler bei der gebotenen Belehrung - hier - nach Art. 36 WÜK und vergleichbaren Vorschriften bilateraler Abkommen.
Rz. 11
a) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats führten solche Verstöße zwar ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung (Beschlüsse v. 18.11.2010 - V ZB 165/10, FGPrax 2011, 99 Rz. 4; v. 14.7.2011 - V ZB 275/10, FGPrax 2011, 257 Rz. 6; v. 30.10.2013 - V ZB 33/13, juris Rz. 6). Daran hält der Senat aber nicht mehr fest.
Rz. 12
b) Nach der neueren Rechtsprechung des Senats führt eine Verletzung von Verteidigungsrechten (insb. des Anspruchs auf rechtliches Gehör) nur dann zur Beendigung der Haft bzw. zur Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (näher Senat, Beschl. v. 16.7.2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rz. 10 [rechtliches Gehör]; v. 4.12.2014 - V ZB 87/14, InfAuslR 2015, 146 Rz. 5 [Belehrung über den Rechtsmittelverzicht]). Diese Änderung der Rechtsprechung beruht auf dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 10.9.2013 (Rs. C-383/13 - PPU - G. und R., ECLI:EU:C:2013:533). Danach darf das nationale Gericht die Anordnung von Haft zur Sicherung einer Abschiebung nach Art. 15 der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. Nr. L 348, S. 98) wegen eines Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nur dann aufheben, wenn es der Ansicht ist, dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (EuGH, a.a.O., Rz. 45). Die von dem Gerichtshof aufgestellten Grundsätze gelten nicht nur für die Haft zur Sicherung der Abschiebung, sondern auch für die Haft zur Beendigung eines illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, weil sie eine unterschiedliche Behandlung der Verletzung von Verteidigungsrechten nicht erlauben (Senat, Beschluss vom 16.7.2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rz. 11). Zu den Verteidigungsrechten gehört die Belehrung nach Art. 36 WÜK und vergleichbaren Regelungen, die dem Betroffenen die Möglichkeit bieten soll, seinen Heimatstaat um Hilfe zu bitten. Auch ein Verstoß gegen die Pflicht zu dieser Belehrung führt zur Rechtswidrigkeit der Haft nur, wenn das Verfahren bei pflichtgemäßem Vorgehen zu einem anderen Ergebnis hätten führen können. Das hat der Betroffene darzulegen.
Rz. 13
c) Daran fehlt es hier. Der Betroffene hat zwar einen Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 WÜK gerügt. Er hat aber nicht dargelegt, dass das Verfahren bei Beachtung der Regelung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Deshalb führt ein etwaiger Verstoß gegen die Belehrungspflicht nicht zur Rechtswidrigkeit der Haft.
Rz. 14
3. Die Haftanordnung war aber rechtswidrig, weil der Haftantrag unzulässig war.
Rz. 15
a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st.Rspr., BGH, Beschlüsse v. 15.1.2015 - V ZB 165/13, juris Rz. 5; v. 9.10.2014 - V ZB 127/13, FGPrax 2015, 39 Rz. 6; v. 16.7.2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rz. 15, vom 10.5.2012 - V ZB 246/11, InfAuslR 2012, 328 Rz. 10, vom 6.12.2012 - V ZB 118/12, juris Rz. 4; v. 31.1.2013 - V ZB 20/12, FGPrax 2013, 130 Rz. 15).
Rz. 16
b) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag der beteiligten Behörde nicht gerecht.
Rz. 17
aa) Sie hat darin zwar dargelegt, dass die Rückkehr des Betroffenen nach Italien im Wege der Rücküberstellung nach der Dublin-III-Verordnung betrieben, das Verfahren dann aber als Abschiebung nach Italien fortgesetzt worden ist. Weshalb es zu diesem Wechsel des Verfahrens kam, hat sie nicht erläutert. Darauf kam es aber entscheidend an.
Rz. 18
bb) Welche Haftgründe in Betracht kamen, hing seinerzeit davon ab, ob die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Asylantrag schon auf die deutschen Behörden übergangen war oder noch bei den italienischen Behörden lag. Im ersten Fall wäre das Rücküberstellungsverfahren beendet gewesen. Zur Sicherung der Abschiebung hätte dann uneingeschränkt auf die Haftgründe nach § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zurückgegriffen werden können. War die Zuständigkeit dagegen noch nicht auf die deutschen Behörden übergangen, war das Rücküberstellungsverfahren nach der Dublin-III-Verordnung noch nicht beendet. Haft hätte dann nur nach Maßgabe von Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung angeordnet werden dürfen. Danach setzte die Haft eine erhebliche Fluchtgefahr voraus, deren Gründe nach Art. 2 Buchstabe n der Verordnung durch die Mitgliedstaaten gesetzlich festzulegen sind. Dieser Vorgabe genügte § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG seinerzeit nur mit Einschränkungen, weshalb die Haft zur Sicherung einer Rücküberstellung, wie eingangs dargelegt, seinerzeit nicht auf alle Haftgründe nach dieser Vorschrift gestützt werden konnte. Ohne eine Angabe zu dem Wechsel der Zuständigkeit ließ sich nicht feststellen, welchem Regime die Haftanordnung unterlag.
Rz. 19
cc) Diese entscheidende Angabe fehlte in dem Haftantrag. Sie ist von der beteiligten Behörde im weiteren Verfahren nicht nachgeholt und von dem Beschwerdegericht auch nicht, was möglich gewesen wäre (Senat, Beschl. v. 16.7.2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rz. 23), selbst festgestellt worden. Deshalb durften weder die Haft noch ihre Fortdauer angeordnet werden.
IV.
Rz. 20
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 81 Abs. 1, 83 Abs. 2, 430 FamFG, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG.
Fundstellen