Leitsatz (amtlich)
In einem Betreuungsverfahren ist das Sachverständigengutachten grundsätzlich mit seinem vollen Wortlaut an den Betroffenen persönlich bekanntzugeben; davon kann nur unter den Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (im Anschluss an BGH v. 28.3.2018 - XII ZB 168/17, FamRZ 2018, 954; v. 14.2.2018 - XII ZB 465/17 - FamRZ 2018, 705).
Normenkette
FamFG § 37 Abs. 2, § 288 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Aurich (Beschluss vom 20.03.2018; Aktenzeichen 7 T 77/18) |
AG Wittmund (Entscheidung vom 26.02.2018; Aktenzeichen 61 XVII 58/18) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 7. Zivilkammer des LG Aurich vom 20.3.2018 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das LG zurückverwiesen.
Wert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Das AG hat für die 1966 geborene Betroffene nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, Bestellung eines Verfahrenspflegers und persönlicher Anhörung eine rechtliche Betreuung eingerichtet. Es hat die Beteiligte zu 1) zur Berufsbetreuerin mit den Aufgabenkreisen "Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung, Entscheidung über die unterbringungsähnlichen Maßnahmen, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten" bestellt und eine Überprüfungsfrist auf zwei Jahre bestimmt. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das LG ohne erneute Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.
II.
Rz. 2
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
Rz. 3
1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, dass der Sachverständige eine chronisch paranoide Schizophrenie mit Realitätsverlust und Selbstgefährdung diagnostiziert habe. Sämtliche Gedanken der Betroffenen würden um eine Bedrohungssituation kreisen, so dass die Betroffene nicht mehr in der Lage sei, ihre häusliche Versorgungsproblematik, Hygienedefizite und medizinische Aspekte realistisch einzuordnen. Der mit der paranoiden Symptomatik einhergehende Realitätsverlust stelle eine latente Gesundheitsgefährdung für die Betroffene dar, die in ihrem Haus wegen massiver Vermüllung und Verwahrlosung aus ärztlicher Sicht nicht mehr wohnen könne. Die Betroffene sei nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen und könne auch ihren freien Willen unbeeinträchtigt von ihrer Erkrankung nicht selbst bilden und danach handeln.
Rz. 4
2. Die Entscheidung beruht auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen.
Rz. 5
a) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde allerdings fehlende Feststellungen zur fachlichen Qualifikation (§ 280 Abs. 1 Satz 2 FamFG) des gerichtlich bestellten Sachverständigen. Denn das AG hat in den Gründen seiner vom Beschwerdegericht gebilligten Entscheidung ausgeführt, dass der mit der Gutachtenerstellung beauftragte Leitende Medizinaldirektor ein Arzt "mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie" sei. Dies ist mit Blick auf die hauptberufliche Tätigkeit des Sachverständigen im Gesundheitsamt des Landkreises und unter Berücksichtigung der psychiatrischen Weiterbildungsinhalte, die der Erlangung der von dem Sachverständigen geführten Bezeichnung eines "Facharztes für öffentliches Gesundheitswesen" zugrunde liegen (vgl. Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Niedersachsen in der Fassung vom 1.6.2018 S. 91, veröffentlicht auf www.aekn.de) auch durchaus nachvollziehbar.
Rz. 6
b) Demgegenüber rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Gutachten des Sachverständigen der Betroffenen mit seinem vollen Wortlaut persönlich hätte zur Verfügung gestellt werden müssen.
Rz. 7
aa) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache setzt gem. § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen (§ 275 FamFG) grundsätzlich auch ihm persönlich zur Verfügung zu stellen. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (vgl. BGH v. 28.3.2018 - XII ZB 168/17, FamRZ 2018, 954 Rz. 9; v. 14.2.2018 - XII ZB 465/17, FamRZ 2018, 705 Rz. 11 m.w.N.).
Rz. 8
bb) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.
Rz. 9
Weder aus den Feststellungen des Beschwerdegerichts noch aus den Gerichtsakten lässt sich entnehmen, dass der Inhalt des Gutachtens der Betroffenen mit seinem vollen Wortlaut zur Verfügung gestellt worden ist. Ausweislich des Protokolls des AG vom 26.2.2018 wurde das bei den Gerichtsakten befindliche Gutachten der Betroffenen lediglich im Rahmen des an diesem Tage durchgeführten Anhörungstermins "seinem wesentlichen Inhalt nach bekannt gegeben". Dies genügt den verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, weil der Betroffenen damit die Möglichkeit genommen worden ist, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen eine andere Einschätzung zu erreichen (vgl. BGH v. 16.5.2018 - XII ZB 14/18, NJW-RR 2018, 964 Rz. 8).
Rz. 10
Von einer Bekanntgabe des Gutachtens mit seinem vollen Wortlaut konnte auch nicht entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Zwar hat der Sachverständige in seinem Gutachten ausgeführt, es bedürfe zur Vermeidung von erheblichen Gesundheitsnachteilen bei der Bekanntgabe der Entscheidungsgründe "durchaus Beachtung von gewissen Umständen dahingehend, dass sich Frau H. von allen, z.B. auch Richtern bedroht und gefährdet" fühle. Diesen Ausführungen lassen sich aber keine konkreten Aussagen dazu entnehmen, dass und ggf. welche Gesundheitsnachteile der Betroffenen gerade als Folge der Kenntnisnahme vom vollständigen Inhalt der Entscheidungsgründe (oder entsprechend vom vollständigen Wortlaut des Sachverständigengutachtens) drohen könnten. Vielmehr können die Ausführungen des Sachverständigen auch dahingehend zu verstehen sein, dass die Bekanntgabe in einer schonenden, die Betroffene möglichst wenig belastenden Weise - beispielsweise im Beisein geeigneter dritter Personen (vgl. MünchKomm/Schmidt-Recla FamFG 2. Aufl., § 288 Rz. 3) - empfohlen wird. Im Übrigen haben weder das AG noch das Beschwerdegericht Bedenken daran getragen, der Betroffenen ihre Entscheidungen mit den vollständigen Entscheidungsgründen schriftlich auf dem Postwege bekanntzugeben.
Rz. 11
3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Die Zurückverweisung der Sache gibt dem Beschwerdegericht zugleich Gelegenheit, weitergehende Feststellungen zum Vorliegen eines objektiven Betreuungsbedarfs in den von der Anordnung der Betreuung umfassten Aufgabenkreisen - und zwar insb. im Hinblick auf die Vermögenssorge - zu treffen. Zudem wird das Beschwerdegericht auf § 39 Satz 1 FamFG Bedacht zu nehmen haben.
Rz. 12
4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gem. § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Fundstellen
Haufe-Index 12334254 |
NJW 2018, 8 |
FamRZ 2019, 139 |
FuR 2019, 40 |
FGPrax 2019, 28 |
BtPrax 2019, 83 |
JZ 2019, 9 |
MDR 2018, 1517 |
FamRB 2019, 283 |