Leitsatz (amtlich)
Ist einem unbemittelten Betroffenen für die Rechtsverteidigung gegen die Anordnung von Haft zur Sicherung der Ab- oder Zurückschiebung Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen, so ist ihm in der Regel auch ein Rechtsanwalt beizuordnen.
Normenkette
FamFG § 78 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Flensburg (Beschluss vom 05.07.2012; Aktenzeichen 5 T 167/12) |
AG Flensburg (Beschluss vom 13.06.2012; Aktenzeichen 48 XIV 3565 B) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 5. Zivilkammer des LG Flensburg vom 5.7.2012 und der Beschluss des AG Flensburg vom 13.6.2012 ihn in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste am 12.6.2012 unerlaubt mit dem Zug nach Deutschland ein und wurde von Beamten der beteiligten Behörde festgenommen. Bei einer EURODAC-Recherche stellte sich heraus, dass er am 23.12.2005 in Großbritannien und am 10.2.2011 in Island jeweils einen Asylantrag gestellt hatte. Die beteiligte Behörde beantragte am gleichen Tag Haft zur Sicherung der Zurückschiebung des Betroffenen in eines dieser beiden Länder bis zum 25.7.2012.
Rz. 2
Das AG hat dem Antrag mit Beschluss vom 13.6.2012 entsprochen. Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde mit Beschluss vom 5.7.2012 zurückgewiesen. Nach Scheitern einer Zurückschiebung nach Großbritannien betreibt die beteiligte Behörde die Zurückschiebung nach Frankreich. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene nach Ablauf der angeordneten Haftdauer die Feststellung, dass ihn die Anordnung der Haft durch das AG und die Zurückweisung seiner Beschwerde durch das LG in seinen Rechten verletzt haben.
II.
Rz. 3
Das Beschwerdegericht meint, die formellen und materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Haft hätten vorgelegen. Die Staatsanwaltschaft habe der Zurückschiebung zugestimmt. Eine schriftliche Übersetzung des - in Kopie ausgehändigten - Haftantrags habe dem Betroffenen vor der Anhörung durch das AG nicht ausgehändigt werden müssen, weil der Sachverhalt einfach und überschaubar gewesen sei. Die Anordnung von Haft sei auch erforderlich gewesen, weil der Betroffene unterschiedliche Angaben gemacht habe und seine vielfältige Reisetätigkeit in Europa erwarten lasse, dass er sich einer Zurückschiebung entziehen werde. Ihm sei für das Beschwerdeverfahren zwar Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen, aber weder ein Verfahrenspfleger zu bestellen noch ein Rechtsanwalt beizuordnen gewesen.
III.
Rz. 4
Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Anordnung der Haft durch das AG und ihre Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.
Rz. 5
1. Die Haftanordnung durch das AG war rechtswidrig.
Rz. 6
a) Das ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass der Betroffene nicht, wie nach Art. 36 WÜK geboten, über seine Rechte belehrt worden wäre. Ob diese Belehrung bereits durch die beteiligte Behörde erfolgt ist, ist zwar zweifelhaft, weil das Protokoll über die polizeiliche Vernehmung des Betroffenen, in welcher die Belehrung erfolgt sein soll, nicht unterschrieben ist. Ein mögliches Versäumnis der beteiligten Behörde führt aber zur Rechtswidrigkeit der angeordneten Haft nur, wenn auch das AG die vorgeschriebene Belehrung nicht vornimmt (BGH, Beschl. v. 6.5.2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212 Rz. 17 f.). So liegt es hier entgegen der Ansicht des Betroffenen nicht. Nach dem Protokoll über die Anhörung hat er erklärt, er wünsche keine Unterrichtung der Behörden seines Heimatlandes. Diese Äußerung beruht entweder darauf, dass der Betroffene durch das AG belehrt worden ist, was ausreichend dokumentiert wäre (dazu: BGH, Beschl. v. 18.11.2010 - V ZB 165/10, FGPrax 2011, 99 Rz. 5), oder darauf, dass der Betroffene seine Rechte kannte und sie von sich aus wahrnahm, was eine Belehrung ausnahmsweise entbehrlich machte.
Rz. 7
b) Die Anordnung der Haft setzte ferner nicht voraus, dass dem Betroffenen vor seiner Anhörung eine schriftliche Übersetzung des Haftantrags ausgehändigt wurde. Das ist nach der Rechtsprechung des Senats entbehrlich, wenn der Sachverhalt einfach und überschaubar ist (BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 331 Rz. 17). Das war hier entgegen der Ansicht des Betroffenen der Fall. Die Haft war im Tatsächlichen darauf gestützt, dass der Betroffene in mehreren Ländern Asylanträge gestellt hat und häufig unerlaubt andere Staaten im Anwendungsbereich der Dublin-II-Verordnung bereiste, zu denen nach Maßgabe des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Island und Norwegen vom 19.1.2001 (ABl. Nr. L 93, S. 40) auch Island gehört. Dieser Sachverhalt ist einfach nachzuvollziehen. Dass die Behörde ihn in ihrem Antrag mit "Verhaltensmuster" beschrieb, ändert daran nichts. Der Betroffene hat ihn auch nachvollzogen, wie eine Nachfrage des AG bei der Anhörung ergeben hat.
Rz. 8
c) Die Haftanordnung durfte aber nicht ergehen, weil ihr kein zulässiger Haftantrag zugrunde lag.
Rz. 9
aa) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rz. 12; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rz. 7). Der Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG begründet werden. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Ein Verstoß gegen den Begründungszwang führt zur Unzulässigkeit des Haftantrags (BGH, Beschl. v. 29.4.2010 - V ZB 218/09, a.a.O., Rz. 14; Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, a.a.O., Rz. 8; Beschl. v. 7.4.2011 - V ZB 133/10, juris Rz. 7).
Rz. 10
bb) Zu den Angaben zur Durchführbarkeit der Zurückschiebung gehören nicht nur konkrete, auf den Zielstaat bezogene Angaben dazu, welchen Zeitraum eine Zurückschiebung dorthin regelmäßig in Anspruch nimmt (BGH, Beschl. v. 31.5.2012 - V ZB 167/11, NJW 2012, 2448 Rz. 10). Vielmehr muss bei einer Zurückschiebung nach der Dublin-II-Verordnung (Verordnung [EG] Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003, ABl. Nr. L 50 S. 1) auch ausgeführt werden, dass und weshalb der Zielstaat - hier Island oder Großbritannien - nach der Verordnung zur Rücknahme verpflichtet ist (BGH, Beschl. v. 31.5.2012 - V ZB 167/11, NJW 2012, 2448 Rz. 10 mit Beschl. v. 29.9.2010 - V ZB 233/10, juris Rz. 13, insoweit in NVwZ 2011, 320 nicht abgedruckt). Das wiederum bestimmt sich wesentlich danach, in welches Land und in welchem in der Dublin-II-Verordnung vorgesehenen Verfahren die Zurückschiebung erfolgen soll. Demgemäß kann der Richter in die Prüfung, ob eine Zurückweisung in den angegebenen Zielstaat durchführbar ist, erst eintreten, wenn ihm mitgeteilt wird, welches Verfahren zur Durchführung der Zurückschiebung beabsichtigt ist (Beschl. v. 6.12.2012 - V ZB 118/12, juris Rz. 5).
Rz. 11
cc) Diesen Vorgaben genügt der Antrag nicht. Die beteiligte Behörde hat zwar dargelegt, dass die Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Allgemeinen sechs Wochen dauert. Sie hat aber schon nicht dargelegt, ob die Zurückschiebung nach Großbritannien oder nach Island erfolgen soll. Sie hat sich zu dem konkret vorgesehenen Verfahren nicht geäußert und auch nicht dargelegt, in welcher Reihenfolge bei den in Betracht kommenden Staaten nachgefragt werden soll. Dass die Entscheidung darüber bei dem zuständigen Bundesamt liegt, machte solche Darlegungen nicht entbehrlich. Notfalls musste die beteiligte Behörde zunächst den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragen und den Antrag auf Anordnung ordentlicher Sicherungshaft zurückstellen (Beschl. v. 6.12.2012 - V ZB 118/12, juris Rz. 8).
Rz. 12
2. Auch die Zurückweisung der Beschwerde des Betroffenen und die Aufrechterhaltung der Haft waren rechtswidrig.
Rz. 13
a) Das Beschwerdegericht hat den Betroffenen zwar, wie angesichts seiner behaupteten Bereitschaft, einer Zurückschiebung Folge zu leisten, geboten, persönlich angehört. Diese Anhörung genügte aber den Anforderungen des § 420 FamFG nicht, weil das Beschwerdegericht dem Betroffenen einen Rechtsanwalt nicht beigeordnet hat.
Rz. 14
aa) Nach § 78 Abs. 2 FamFG ist ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. Dabei kommt es nicht nur auf die objektiven Umstände, sondern auch auf die subjektiven Fähigkeiten des Betroffenen an (BGH, Beschl. v. 23.6.2010 - XII ZB 232/09, BGHZ 186, 70, 78 Rz. 21). Dem unbemittelten Betroffenen ist deshalb ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn ein bemittelter Betroffener in seiner Lage vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte (BVerfG NJW 1997, 2103, 2104; NJW-RR 2007, 1713, 1714 und BVerfGK 15, 426 Rz. 17; BGH, Beschl. v. 23.6.2010 - XII ZB 232/09, BGHZ 186, 70, 79 Rz. 25).
Rz. 15
bb) Danach war dem Betroffenen hier ein Rechtsanwalt beizuordnen. Zwar war der Ausgangssachverhalt überschaubar und einfach. Für die Vertretung des Betroffenen galt das aber nicht mehr. Der Betroffene wollte nach den Angaben in der Beschwerdeschrift Verfahrensfehler und einen Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit der Haft geltend machen. Dazu war er ersichtlich nur mit Unterstützung eines Rechtsanwalts in der Lage, den eine bemittelte Partei in seiner Lage mit ihrer Vertretung auch beauftragt hätte.
Rz. 16
b) Einer Anordnung der Haft stand ferner entgegen, dass es nach wie vor an einem zulässigen Haftantrag fehlte. Der Mangel des Haftantrags wäre zwar - mit Wirkung für die Zukunft - geheilt worden, wenn die beteiligte Behörde die fehlenden Angaben rechtzeitig nachgeholt und der Betroffene Gelegenheit erhalten hätte, dazu in einer persönlichen Anhörung Stellung zu nehmen (vgl. Senat, Beschl. v. 29.9.2011 - V ZB 61/11, juris Rz. 8; Beschl. v. 6.10.2011 - V ZB 188/11, juris Rz. 12). Dazu ist es aber nicht gekommen. Die beteiligte Behörde hat bei der Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht mitgeteilt, Großbritannien habe eine Rücknahme abgelehnt. Der Betroffene solle jetzt nach Frankreich abgeschoben werden. Darüber, wann das geschehen könne, lägen keine Angaben vor. Das genügt zur Nachholung der fehlenden Angaben zur Durchführbarkeit der Zurückschiebung nicht.
IV.
Rz. 17
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1, 430 FamFG und Art. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen
Haufe-Index 3694581 |
EBE/BGH 2013 |
FGPrax 2013, 132 |
InfAuslR 2013, 287 |
JZ 2013, 295 |
NJ 2013, 5 |
ZAR 2013, 29 |
AuAS 2013, 99 |