Leitsatz (amtlich)
Während der Corona-Pandemie gefasste Beschlüsse einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer sind nicht deshalb nichtig, weil die Wohnungseigentümer an der Eigentümerversammlung nur durch Erteilung einer Vollmacht an den Verwalter teilnehmen konnten.
Normenkette
WoEigG § 23 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1, § 24
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 27.03.2023; Aktenzeichen 2-09 S 38/22) |
AG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 07.07.2022; Aktenzeichen 381 C 495/20 (37)) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 9. Zivilkammer des Landesgerichts Frankfurt am Main vom 27. März 2023 aufgehoben.
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main - Außenstelle Höchst - vom 7. Juli 2022 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten der Rechtsmittelverfahren.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Kläger sind Mitglieder der beklagten Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE). Die Verwalterin lud die Wohnungseigentümer wie folgt zu einer Eigentümerversammlung ein: „Die Versammlung findet schriftlich am 24.11.2020 statt. Bitte (...) senden Sie uns die Vollmacht sowie das ausgefüllte Weisungsdokument zu.“ Fünf von vierundzwanzig Wohnungseigentümern kamen der Aufforderung nach und bevollmächtigten die Verwalterin; die Kläger erteilten keine Vollmacht. In der Eigentümerversammlung war nur die Verwalterin anwesend. Mit Schreiben vom 24. November 2020 teilte die Verwalterin mit, die Wohnungseigentümer seien bei der allein von ihr abgehaltenen Versammlung aufgrund erteilter Vollmachten vertreten gewesen. Sie übermittelte zugleich ein Protokoll über die gefassten Beschlüsse. Gegen diese Beschlüsse wenden sich die Kläger mit ihrer am 23. Dezember 2020 bei Gericht eingegangenen Beschlussmängelklage, die sie zunächst gegen die übrigen Wohnungseigentümer erhoben und nach einem in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht erklärten Parteiwechsel gegen die GdWE als die jetzige Beklagte gerichtet haben. Das Amtsgericht hat die Klage wegen Fristversäumnis abgewiesen. Auf die Berufung der Kläger sind die Beschlüsse für nichtig erklärt worden. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision will die Beklagte die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils erreichen. Die Kläger beantragen die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 2
Das Berufungsgericht ist der Ansicht, die Kläger hätten die einmonatige Klagefrist des § 45 Satz 1 WEG versäumt. Die innerhalb der Anfechtungsfrist bei Gericht eingegangene Klage sei entgegen § 44 Abs. 2 Satz 1 WEG in der seit dem 1. Dezember 2020 geltenden Fassung nicht gegen die GdWE, sondern gegen die übrigen Wohnungseigentümer gerichtet gewesen. Der erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht erklärte Parteiwechsel habe die Klagefrist nicht gewahrt. Das sei jedoch unschädlich, weil die am 24. November 2020 gefassten Beschlüsse gemäß § 23 Abs. 4 Satz 1 WEG nichtig seien. Die Nichtigkeit folge aus einer Verletzung des individuellen Rechts eines jeden Wohnungseigentümers auf persönliche Teilnahme an einer Eigentümerversammlung. Das Einladungsschreiben der Verwalterin habe von den Wohnungseigentümern nur so verstanden werden können, dass eine persönliche Teilnahme an der Eigentümerversammlung unmöglich sei und die Ausübung des Teilhabe- und Stimmrechts allein durch die Bevollmächtigung der Verwalterin erfolgen könne. Darin sei eine Ausladung der Eigentümer zu sehen, die in den unantastbaren Kernbereich des Wohnungseigentumsrechts eingreife. Dieser Eingriff sei nicht mit der COVID-19-Pandemie (nachfolgend: Corona-Pandemie) und den damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen aufgrund der Gesetze und Verordnungen zum Infektionsschutz zu rechtfertigen. Zur Bewältigung der Auswirkungen der pandemiebedingten Beschränkungen habe der Gesetzgeber in § 6 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht lediglich die Fortgeltung einer Verwalterbestellung und eines beschlossenen Wirtschaftsplans geregelt. Für die Durchführung von Eigentümerversammlungen habe er keine Regelungen getroffen. Die Wohnungseigentümer müssten sich an die geltenden Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und die darauf gestützten landesrechtlichen Verordnungen einerseits und die wohnungseigentumsrechtlichen Vorgaben andererseits halten.
II.
Rz. 3
Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 4
1. Im Ausgangspunkt zutreffend nimmt das Berufungsgericht allerdings an, dass allein Nichtigkeitsgründe (§ 23 Abs. 4 Satz 1 WEG) zu prüfen sind, weil die Kläger die Klagefrist des § 45 Satz 1 WEG nicht gewahrt haben (vgl. Senat, Urteil vom 27. November 2020 - V ZR 71/20, NJW-RR 2021, 667 Rn. 31). Die nach dem 30. November 2020 eingegangene und entgegen § 44 Abs. 2 Satz 1 WEG nicht gegen die GdWE, sondern gegen die übrigen Wohnungseigentümer gerichtete Beschlussanfechtungsklage war unzulässig und konnte die Frist des § 45 Satz 1 WEG nicht wahren (vgl. Senat, Urteil vom 13. Januar 2023 - V ZR 43/22, NJW 2023, 1884 Rn. 20 ff., 27 ff. mwN). Der in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht erklärte Parteiwechsel erfolgte nach Ablauf der Anfechtungsfrist.
Rz. 5
2. Rechtsfehlerhaft sieht das Berufungsgericht die Beschlüsse der GdWE als nichtig an.
Rz. 6
a) Richtig ist noch die Annahme des Berufungsgerichts, dass am 24. November 2020 eine Versammlung stattgefunden hat, in der Beschlüsse gefasst worden sind.
Rz. 7
aa) Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 WEG - bzw. nach § 23 Abs. 1 WEG aF als dem maßgeblichen im Zeitpunkt der Beschlussfassung geltenden Recht (vgl. etwa Senat, Urteil vom 10. Februar 2023 - V ZR 246/21, NJW 2023, 2190 Rn. 7 mwN) - werden Angelegenheiten, über die nach dem Wohnungseigentumsgesetz oder nach einer Vereinbarung der Wohnungseigentümer die Wohnungseigentümer durch Beschluss entscheiden können, grundsätzlich durch Beschlussfassung in einer Versammlung der Wohnungseigentümer geordnet.
Rz. 8
bb) Eine Versammlung in diesem Sinne setzt grundsätzlich ein physisches Zusammentreffen der Wohnungseigentümer voraus (allgemeine Auffassung, vgl. nur Staudinger/Häublein, BGB [2023], § 23 Rn. 124 mwN). Die Ausübung des mit dem Wohnungseigentum verbundenen Teilnahme- und Mitwirkungsrechts erfordert regelmäßig und vorbehaltlich einer anders als im Vereinsrecht (§ 38 Satz 2 BGB) grundsätzlich möglichen Stellvertretung im Sinne der §§ 164 ff. BGB (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 11. November 1986 - V ZB 1/86, BGHZ 99, 90, 93) eine persönliche Anwesenheit der Wohnungseigentümer in der Versammlung; außerhalb einer Versammlung kann das Stimmrecht nur im Anwendungsbereich von § 23 Abs. 3 WEG (sog. Umlaufverfahren) ausgeübt werden. Die Teilnahme an der Versammlung ermöglicht es den Wohnungseigentümern, auf die Willensbildung der GdWE durch Rede und Gegenrede Einfluss zu nehmen (vgl. Senat, Urteil vom 10. Dezember 2010 - V ZR 60/10, NJW 2011, 679 Rn. 8) und durch Stimmabgabe (§ 25 Abs. 1 und 2 WEG) an der Gestaltung der Gemeinschaftsangelegenheiten mitzuwirken (vgl. Senat, Urteil vom 14. Oktober 2011 - V ZR 56/11, BGHZ 191, 198 Rn. 10). Eine Eigentümerversammlung ohne Teilnahmemöglichkeit in Präsenz sieht das Wohnungseigentumsgesetz - anders als neuerdings das Aktienrecht in § 118a AktG - jedenfalls derzeit nicht vor.
Rz. 9
cc) Dass die Eigentümer - wie hier - an der Versammlung nur teilnehmen können, indem sie von dem allein anwesenden Verwalter vertreten werden, ändert gleichwohl nichts daran, dass es sich um eine Eigentümerversammlung handelt. Denn auch eine sogenannte Vertreterversammlung, in der nur eine Person anwesend ist, die neben der Versammlungsleitung die Vertretung der abwesenden Eigentümer übernommen hat, ist eine Versammlung, in der Beschlüsse gefasst und verkündet werden können (vgl. BayObLGZ 1995, 407, 411; OLG München, NZM 2008, 577; Bärmann/Dötsch, WEG, 15. Aufl., § 23 Rn. 60; Staudinger/Häublein, BGB [2023], § 23 Rn. 133, 273; Elzer in Zehelein, COVID-19, Miete in Zeiten von Corona, 2. Aufl., § 5 Rn. 55; DNotI-Gutachten, Abruf-Nr. 177331 S. 2). Die Beschlüsse müssen zwar von dem Verwalter in einer Niederschrift aufgenommen werden (§ 24 Abs. 6 WEG), die von ihm zu unterzeichnen ist (vgl. Bärmann/Dötsch, WEG, 15. Aufl., § 23 Rn. 60; Staudinger/Häublein, BGB [2023], § 23 Rn. 273). Dabei handelt es sich aber nicht um ein Gültigkeitserfordernis. Soweit als Mindestanforderung einer Beschlussfassung gefordert wird, dass eine Kundgabe der Stimmabgabe in der Versammlung etwa durch schriftliche Niederlegung der Abstimmung oder durch vorläufige Aufzeichnung auf einem Ton- oder Datenträger zu erfolgen habe (vgl. BayObLGZ 1995, 407, 411; OLG München, NZM 2008, 577, 578), findet ein solches Erfordernis im Gesetz keine Stütze (vgl. Bärmann/Dötsch aaO; Staudinger/Häublein, aaO).
Rz. 10
b) Richtig ist auch die weitere Annahme des Berufungsgerichts, dass die Einberufung und Abhaltung der Eigentümerversammlung vom 24. November 2020 nicht den Vorgaben des Wohnungseigentumsgesetzes entsprach.
Rz. 11
aa) Eine Vertreterversammlung ist wegen des Rechts jedes Wohnungseigentümers, physisch an der Versammlung teilzunehmen, nur dann zulässig, wenn sämtliche Wohnungseigentümer in ein solches Vorgehen eingewilligt und den Verwalter zu der Teilnahme und Stimmabgabe bevollmächtigt haben (vgl. Rüscher in Münchener Handbuch des Wohnungseigentumsrecht, 8. Aufl., § 18 Rn. 217; Elzer in Zehelein, COVID-19, Miete in Zeiten von Corona, 2. Aufl., § 5 Rn. 55; DNotI-Gutachten, Abruf-Nr. 177331 S. 5). Daran fehlt es hier. Nur fünf von vierundzwanzig Wohnungseigentümern hatten der Verwalterin eine Vollmacht erteilt.
Rz. 12
bb) Eine Pflicht der Wohnungseigentümer, die Verwalterin für die Teilnahme und Stimmabgabe in der Eigentümerversammlung zu bevollmächtigen, bestand auch während der Corona-Pandemie nicht. Aufgrund der fehlenden Zustimmung aller Wohnungseigentümer hätte die Versammlung wohnungseigentumsrechtlich in Präsenz der Wohnungseigentümer stattfinden müssen.
Rz. 13
(1) Allerdings war am 24. November 2020 wegen der Corona-Pandemie die Durchführung einer Eigentümerversammlung aufgrund infektionsschutzrechtlicher Bestimmungen verboten (vgl. hier: § 1 der hessischen Verordnung zur Beschränkung von sozialen Kontakten und des Betriebes von Einrichtungen und von Angeboten aufgrund der Corona-Pandemie vom 7. Mai 2020 - Corona-Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung; GVBl. S. 736). Das änderte jedoch nichts an den wohnungseigentumsrechtlichen Vorgaben für die Abhaltung einer Eigentümerversammlung. Der Gesetzgeber hat in § 6 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (BGBl I S. 569, 570; nachfolgend: COVMG) zur Bewältigung der Auswirkungen der pandemiebedingten Beschränkungen lediglich angeordnet, dass der zuletzt bestellte Verwalter der GdWE bis zu seiner Abberufung oder bis zur Bestellung eines neuen Verwalters im Amt bleibt (§ 6 Abs. 1 COVMG), und dass der zuletzt von den Wohnungseigentümern beschlossene Wirtschaftsplan bis zum Beschluss eines neuen Wirtschaftsplans fortgilt (§ 6 Abs. 2 COVMG). Für die Durchführung von Eigentümerversammlungen hat er dagegen keine von §§ 23, 24 WEG abweichenden Regelungen getroffen, so dass diese auch während der Corona-Pandemie galten.
Rz. 14
(2) Die Vorschriften der §§ 23, 24 WEG hat die Verwalterin insgesamt bewusst außer Acht gelassen, indem sie die Versammlung ohne Teilnahmemöglichkeit aller Eigentümer geplant und alleine durchgeführt hat. Die Anwesenheit der Wohnungseigentümer war nicht vorgesehen; auch bestand nicht die Möglichkeit, einen Vertreter - gegebenenfalls im Rahmen zulässigerweise vereinbarter Beschränkungen - frei zu bestimmen (vgl. dazu Bärmann/Merle, WEG, 15. Aufl., § 25 Rn. 97 mwN).
Rz. 15
c) Das führt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts aber nicht zur Nichtigkeit der Beschlüsse.
Rz. 16
aa) Gemäß § 23 Abs. 4 Satz 1 WEG ist ein Beschluss nichtig, der gegen eine Rechtsvorschrift verstößt, auf deren Einhaltung rechtswirksam nicht verzichtet werden kann. Solche unabdingbaren Rechtsvorschriften ergeben sich entweder aus den zwingenden Vorschriften und Grundsätzen des Wohnungseigentumsgesetzes oder aus den Normen des übrigen Privat- oder öffentlichen Rechts, insbesondere aus §§ 134, 138 BGB (vgl. Senat, Beschluss vom 23. September 1999 - V ZB 17/99, BGHZ 142, 290, 294; Urteil vom 20. Juli 2012 - V ZR 235/11, NJW 2012, 3571 Rn. 5; Urteil vom 10. Oktober 2014 - V ZR 315/13, BGHZ 202, 346 Rn. 15).
Rz. 17
bb) Ob ein Beschluss der GdWE nichtig ist, der während der Corona-Pandemie in einer Eigentümerversammlung gefasst wurde, an der die Wohnungseigentümer nur durch (verpflichtende) Erteilung einer Vollmacht an den Verwalter teilnehmen konnten, wird unterschiedlich beurteilt. Nach verbreiteter, insbesondere in der amtsgerichtlichen Rechtsprechung vertretener Ansicht, der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat, stellt die mit der Aufforderung zur Vollmachtserteilung verbundene Einladung zur Versammlung der Sache nach eine Ausladung dar, die in den Kernbereich des Mitgliedschaftsrechts eingreift und zur Nichtigkeit der gefassten Beschlüsse führt (vgl. AG Hamburg-St. Georg, ZMR 2022, 255, 256; ZWE 2022, 326 Rn. 18 f.; AG Hannover, ZMR 2021, 686; AG Bad Schwalbach, ZMR 2021, 347; AG Lemgo, ZMR 2021, 158; AG München, ZMR 2021, 159, 160; AG Kassel, ZfIR 2020, 787 Rn. 16; BeckOGK/G. Hermann, WEG [1.12.2023], § 23 Rn. 159.1; BeckOK WEG/Bartholome [1.1.2024], § 24 Rn. 220; Schultzky in Jennißen, WEG, 8. Aufl., § 24 Rn. 69; Rüscher in Münchener Handbuch des Wohnungseigentumsrecht, 8. Aufl., § 18 Rn. 217; so wohl auch Riecke, MDR 2021, 213, 214). Nach anderer Ansicht sind derartige Beschlüsse nicht nichtig (vgl. LG Frankfurt a.M., ZWE 2023, 271 Rn. 9 f.; AG Kaufbeuren, ZMR 2022, 331, 332; AG Augsburg, Urteil vom 30. September 2021 - 31 C 2231/20 WEG, juris Rn. 35).
Rz. 18
cc) Die zuletzt genannte Auffassung ist zutreffend. Während der Corona-Pandemie gefasste Beschlüsse einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer sind nicht deshalb nichtig, weil die Wohnungseigentümer an der Eigentümerversammlung nur durch Erteilung einer Vollmacht an den Verwalter teilnehmen konnten.
Rz. 19
(1) Mit seiner Annahme, die Nichtigkeit der Beschlüsse folge aus der Rechtsprechung des Senats, wonach Beschlüsse, die in den unantastbaren Kernbereich des Wohnungseigentumsrechts eingreifen, unwirksam sind, nimmt das Berufungsgericht nicht hinreichend in den Blick, dass es hier nicht um inhaltliche Beschlussmängel, sondern um die Art und Weise des Zustandekommens von Beschlüssen geht.
Rz. 20
(a) Richtig ist zwar, dass sich nach der von dem Berufungsgericht herangezogenen Rechtsprechung des Senats die Nichtigkeit eines Beschlusses daraus ergeben kann, dass er in den Kernbereich des Wohnungseigentums eingreift, wozu u.a. unentziehbare und unverzichtbare Individualrechte gehören. Diese Rechtsprechung bezieht sich aber auf Beschlüsse, die auf der Grundlage einer Öffnungsklausel in der Gemeinschaftsordnung gefasst werden und eine gemeinschaftliche Angelegenheit unter Eingriff in die Mitgliedschaftsrechte dauerhaft regeln sollen. Was selbst durch Vereinbarung nicht geregelt werden könnte, entzieht sich auch einer Regelung im Beschlusswege; ein gleichwohl gefasster Beschluss ist nichtig (vgl. Senat, Urteil vom 10. Oktober 2014 - V ZR 315/13, BGHZ 202, 346 Rn. 15 mwN). Deshalb ist ein auf der Grundlage einer Öffnungsklausel gefasster Beschluss nichtig, mit dem ein Wohnungseigentümer von dem Stimmrecht ausgeschlossen wird, wenn er das Hausgeld nicht zahlt (vgl. Senat, Urteil vom 10. Dezember 2010 - V ZR 60/10, NJW 2011, 679 Rn. 8).
Rz. 21
(b) Um eine solche inhaltliche Schranke der Beschlussfassung geht es hier aber nicht, sondern um die Verletzung der Individualrechte bei dem Zustandekommen der Beschlüsse. Bei der Beschlussfassung ist das Teilnahme- und Mitwirkungsrecht verzichtbar. Die Wohnungseigentümer sind im Grundsatz weder zur Teilnahme an der Eigentümerversammlung noch zur Mitwirkung an der Willensbildung verpflichtet (vgl. Senat, Urteil vom 17. Oktober 2014 - V ZR 9/14, BGHZ 202, 375 Rn. 24).
Rz. 22
(2) Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats, dass die in § 24 WEG für die Einberufung einer Eigentümerversammlung geregelten Formvorschriften nicht zu den zwingenden Bestimmungen und Grundsätzen des Wohnungseigentumsgesetzes gehören, weil sie dispositiv sind und durch Vereinbarungen abgeändert werden können. Die Nichteinladung einzelner Wohnungseigentümer führt deshalb regelmäßig nur zur Anfechtbarkeit der in der Versammlung gefassten Beschlüsse, nicht aber zu deren Nichtigkeit (vgl. Senat, Beschluss vom 23. September 1999 - V ZB 17/99, BGHZ 142, 290, 294). Der Senat hat die Nichtigkeit der Beschlüsse, ohne dass es darauf ankam, lediglich für den Fall erwogen, dass ein Wohnungseigentümer in böswilliger Weise gezielt von der Teilnahme ausgeschlossen werden soll (vgl. Urteil vom 20. Juli 2012 - V ZR 235/11, NJW 2012, 3571 Rn. 8). Ob an dieser Ausnahme festzuhalten ist und ob - was vor dem Hintergrund der damit einhergehenden Rechtsunsicherheit problematisch sein könnte (vgl. nachfolgend Rn. 27) - eine Nichtigkeit der Beschlüsse auch dann in Betracht kommen könnte, wenn unter normalen Umständen allen Wohnungseigentümern die persönliche Teilnahme an der Versammlung verweigert wird, kann dahinstehen. Jedenfalls während der Corona-Pandemie begangene Rechtsverstöße dieser Art führen schon deshalb nicht zur Nichtigkeit der Beschlüsse, weil die Abhaltung einer „echten“ Eigentümerversammlung unter Einhaltung der §§ 23, 24 WEG zum maßgeblichen Zeitpunkt unmöglich war.
Rz. 23
(a) Während der Corona-Pandemie befand sich der Verwalter in einer unauflöslichen Konfliktsituation. Er stand nämlich vor dem Dilemma, entweder das Wohnungseigentumsrecht oder das Infektionsschutzrecht zu missachten (vgl. Emmerich, ZWE 2022, 457; Zschieschack, NZM 2020, 297, 298 f.).
Rz. 24
(aa) Einerseits galten wegen der nur rudimentären Regelungen in § 6 COVMG die wohnungseigentumsrechtlichen Vorgaben für die Abhaltung von Eigentümerversammlungen fort (vgl. oben Rn. 13). Insbesondere musste nach § 24 Abs. 1 WEG mindestens einmal im Jahr eine Versammlung einberufen werden; von dieser Vorgabe war der Verwalter nicht befreit. Unabhängig davon konnte es auch während der Corona-Pandemie erforderlich sein, die Eigentümerversammlung mit gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu befassen, z.B. dann, wenn die im Wirtschaftsplan beschlossenen Vorschüsse etwa wegen unvorhergesehener Ausgaben oder allgemeiner Preissteigerungen nicht zur Deckung der laufenden Kosten ausreichten und damit die Finanzierung der GdWE nicht sichergestellt war (vgl. Drasdo, NZM 2020, 426, 427), oder wenn zwingende Maßnahmen zu ergreifen waren, über die der Verwalter aus wohnungseigentumsrechtlicher Sicht nicht alleine entscheiden durfte. Für die Durchführung der Versammlung war wohnungseigentumsrechtlich die Teilnahmemöglichkeit der Eigentümer erforderlich (vgl. oben Rn. 8). Nach der (allerdings erst mit Wirkung zum 1. Dezember 2020 neu geschaffenen) Regelung in § 23 Abs. 1 Satz 2 WEG konnte zwar für die ab diesem Zeitpunkt abzuhaltenden Eigentümerversammlungen beschlossen werden, dass Wohnungseigentümer an der Versammlung auch ohne Anwesenheit an deren Ort teilnehmen und sämtliche oder einzelne ihrer Rechte ganz oder teilweise im Wege elektronischer Kommunikation ausüben können. Diese (im hier maßgeblichen Zeitpunkt ohnehin nicht geltende) Vorschrift ermöglicht es aber ebenfalls nicht, von einer Präsenzversammlung generell abzusehen (vgl. BT-Drucks. 19/18791 S. 71; MüKoBGB/Hogenschurz, 9. Aufl., § 23 WEG Rn. 32).
Rz. 25
(bb) Andererseits hatte der Verwalter die geltenden Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und die darauf gestützten landesrechtlichen Verordnungen (Versammlungsverbote, Abstands-, Hygiene- und Quarantänebestimmungen) zu beachten. Die Durchführung einer Eigentümerversammlung war über einen weiten Zeitraum infektionsschutzrechtlich ausgeschlossen. Bei Durchführung einer Eigentümerversammlung in Präsenz lief der Verwalter Gefahr, gegen bußgeldbewehrte Corona-Schutzvorschriften zu verstoßen.
Rz. 26
(b) In dieser Ausnahmesituation erfolgte die Durchführung einer Vertreterversammlung regelmäßig - wie auch hier - aus Praktikabilitätserwägungen, um den Wohnungseigentümern auch ohne ein physisches Zusammentreffen eine Beschlussfassung zu ermöglichen. Es lag auch im Interesse der Wohnungseigentümer, dass der Verwalter nicht, wie es teilweise gehandhabt wurde, unter Missachtung des Wohnungseigentumsrechts während der Corona-Pandemie gar keine Versammlung abhielt. Durch eine Vertreterversammlung wurde den Wohnungseigentümern jedenfalls die Fassung von Beschlüssen ermöglicht, die der gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden konnten. Auch wurden die Eigentümer nicht von der Stimmabgabe ausgeschlossen. Sie konnten sich - wenn auch gezwungenermaßen - bei der Stimmabgabe durch den Verwalter vertreten lassen und diesem jeweils konkrete Weisungen erteilen, wie er in der Versammlung abstimmen sollte. Auf den Inhalt der zu fassenden Beschlüsse und die Dringlichkeit der Angelegenheit kommt es entgegen der von dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten in der mündlichen Revisionsverhandlung geäußerten Ansicht insoweit nicht an; das ergibt sich schon daraus, dass die Rechtsfolge der Verletzung von Formvorschriften nicht von dem Beschlussinhalt abhängen kann.
Rz. 27
(c) Schließlich spricht das schützenswerte Vertrauen der Wohnungseigentümer in die Rechtsverbindlichkeit von Beschlüssen gegen die Nichtigkeit der Beschlüsse. Nach der Konzeption des Wohnungseigentumsgesetzes sind Beschlüsse trotz Mängeln grundsätzlich gültig, solange sie nicht durch rechtskräftiges Urteil für ungültig erklärt sind (§ 23 Abs. 4 Satz 2 WEG). Auf die Nichtigkeit könnte sich ein Eigentümer lange nach Ablauf der Anfechtungsfrist berufen. Das ist mit dem Bedürfnis der GdWE nach Rechtsklarheit und Rechtssicherheit nicht vereinbar (vgl. Senat, Urteil vom 22. Juni 2018 - V ZR 193/17, NJW 2018, 3717 Rn. 18 mwN). Der Eigentümer, der mit der Durchführung der Vertreterversammlung nicht einverstanden ist und den Verwalter nicht zur Teilnahme und Stimmabgabe bevollmächtigen möchte, ist durch die Möglichkeit der Beschlussanfechtung (§ 44 Abs. 1 WEG) geschützt. Ob sich allein aus dem Abhalten einer Vertreterversammlung während der Corona-Pandemie ein Anfechtungsgrund ergibt, bedarf keiner Entscheidung.
III.
Rz. 28
1. Das Urteil kann danach keinen Bestand haben; es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Senat entscheidet in der Sache selbst, weil weitere Feststellungen nicht zu treffen sind und die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung.
Rz. 29
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Brückner |
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Göbel |
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Haberkamp |
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Laube |
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Grau |
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Fundstellen
Haufe-Index 16227477 |
DStR 2024, 15 |
NJW 2024, 8 |
NWB 2024, 838 |
NJW-RR 2024, 428 |
NZG 2024, 514 |
NZM 2024, 334 |
ZAP 2024, 309 |
ZIP 2024, 4 |
ZMR 2024, 2 |
ZMR 2024, 590 |
ZfIR 2024, 221 |
ZfIR 2024, 3 |
JZ 2024, 209 |
Rpfleger 2024, 323 |
WuM 2024, 231 |
ZWE 2024, 217 |
GWR 2024, 198 |
NJW-Spezial 2024, 322 |
RNotZ 2024, 387 |
ZNotP 2024, 228 |
ImmWert 2024, 37 |
immobilienwirtschaft 2024, 88 |