Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des gerichtlichen Sachverständigen. Unrichtiges Verkehrswertgutachten im Zwangsversteigerungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
Zur Sachverständigenhaftung des Wertgutachters ggü. dem Ersteigerer im Zwangsversteigerungsverfahren.
Normenkette
BGB § 839a; ZVG § 74a
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 20. Zivilsenats des OLG Köln vom 20.5.2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Das AG Köln beauftragte in einem Zwangsversteigerungsverfahren, betreffend das mit einem Mehrfamilienwohnhaus bebaute Grundstück Köln, H. 16, den Beklagten, einen von der Industrie- und Handelskammer zu Köln öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für die Wertermittlung von bebauten und unbebauten Grundstücken, mit der Verkehrswertfeststellung. Der Sachverständige gelangte in seinem Gutachten vom 5.9.2002 zu einem Verkehrswert von 655.000 EUR; in dieser Höhe wurde der Wert vom Gericht festgesetzt.
Im Versteigerungstermin vom 16.5.2003 blieben die Kläger Meistbietende. Ihnen wurde das Grundstück - zu je 1/2 Anteil - für den zu zahlenden Betrag von 555.000 EUR zugeschlagen.
Die Kläger werfen dem Beklagten vor, ihm seien bei der Wertermittlung Fehler unterlaufen, indem er grob fahrlässig übersehen habe, dass das Grundstück nur über sechs (statt acht) Stellplätze verfüge und dass ein Teil des Grundstücks mit einem Nachbarhaus überbaut sei. Sie machen geltend, bei Offenlegung dieser Gegebenheiten hätten sie das Objekt zu einem geringeren Betrag ersteigern können. Sie nehmen den Beklagten auf Ersatz des Differenzbetrages, den sie zuletzt auf 8.473,32 EUR beziffert haben, nebst Zinsen in Anspruch. Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Zutreffend haben beide Vorinstanzen als Grundlage für den streitgegenständlichen Schadensersatzanspruch die Vorschrift des § 839a BGB in Betracht gezogen. Durch Art. 2 Nr. 5 des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 (BGBl. I, 2674) ist mit § 839a BGB eine eigenständige, systematisch im Umfeld der Amtshaftung angesiedelte Anspruchsgrundlage für die Haftung des gerichtlichen Sachverständigen geschaffen worden (in Kraft seit dem 1.8.2002), die in ihrem Anwendungsbereich dessen bisherige allgemeine Deliktshaftung ersetzt (s. wegen deren Einzelheiten: Staudinger/Wurm, BGB, Westlaw.de-Aktualisierung, 2005, WLDE 2005 - 2000926, § 839a Rz. 3-5). Aufgrund dieser Neuregelung ist ein vom Gericht ernannter Sachverständiger, der vorsätzlich oder grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten erstattet, zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der einem Verfahrensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entsteht, die auf diesem Gutachten beruht. § 839a BGB erfordert somit einen zweiaktigen Geschehensablauf, nämlich ein unrichtiges Gutachten, das Eingang in eine unrichtige gerichtliche Entscheidung gefunden hat, die ihrerseits den Schaden herbeiführt (Wagner/Thole, VersR 2004, 275 [278]; Staudinger/Wurm, BGB, Westlaw.de-Aktualisierung, 2005, WLDE 2005 - 2000926, § 839a Rz. 7).
2. Mit Recht ist das Berufungsgericht weiter davon ausgegangen, dass die Kläger als Meistbietende hier "Verfahrensbeteiligte" i.S.d. § 839a BGB gewesen sind (vgl. in diesem Sinne auch: BGH, Urt. v. 20.5.2003 - VI ZR 312/03, MDR 2003, 1180 = BGHReport 2003, 996 = VersR 2003, 1049 [1050]). Zwar zählten sie nicht zu den nach § 9 ZVG am Verfahren förmlich Beteiligten; indessen ist es zulässig und geboten, den Beteiligtenbegriff i.S.d. § 839a BGB über eine formalisierte, streng prozessrechtliche Betrachtung hinaus zu erweitern (Staudinger/Wurm, BGB, Westlaw.de-Aktualisierung, 2005, WLDE 2005 - 2000926, § 839a Rz. 24).
a) Für das hier in Rede stehende Verfahren der Zwangsversteigerung kann insoweit auf die Grundsätze zurückgegriffen werden, die von der Rechtsprechung zu der Frage entwickelt worden sind, wie im Rahmen der bei der gerichtlichen Wertfestsetzung wahrzunehmenden Amtspflichten der Kreis der geschützten "Dritten" im Sinne der Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) zu bestimmen ist. Insoweit hat der Senat insb. bereits entschieden, dass diese Amtspflichten zugunsten des Ersteigerers drittgerichtet sein können. Es mag zwar zutreffen, dass die gerichtliche Wertermittlung und -festsetzung in erster Linie einer Verschleuderung des Grundbesitzes entgegenwirken und die Einhaltung der Untergrenze von 7/10 des Grundstückswerts gewährleisten soll. Dies schließt es jedoch nicht aus, dass auch die Interessen des Ersteigerers geschützt werden, und zwar nicht nur im Wege eines bloßen Reflexes, sondern durch Einbeziehung in die insoweit bestehenden drittgerichteten Amtspflichten. Der Ersteigerer darf, selbst wenn ihm keine Mängelgewährleistungsansprüche zustehen, in schutzwürdiger Weise darauf vertrauen, dass das Gericht bei der Festsetzung des Grundstückswerts, die die Grundlage für die Höhe des Gebots bildet, mit der erforderlichen Sorgfalt verfahren ist (BGH, Urt. v. 6.2.2003 - III ZR 44/02, MDR 2003, 628 = BGHReport 2003, 486 = VersR 2003, 1535 [1536], m.w.N.).
b) Diese Grundsätze hat der Senat auf die Haftung des vom Gericht mit der Wertermittlung beauftragten Gutachterausschusses übertragen, die sich - anders als hier, wo es um die Haftung eines privaten Grundstückssachverständigen geht - nicht nach § 839a BGB, sondern nach Amtshaftungsgrundsätzen richtet. Der Senat hat dazu entschieden, dass in dem gleichen Umfang wie die vom Gericht selbst bei der Wertfestsetzung wahrzunehmenden Amtspflichten auch diejenigen des mit der Wertermittlung beauftragten Gutachterausschusses drittgerichtet sind (BGH, Urt. v. 6.2.2003 - III ZR 44/02, MDR 2003, 628 = BGHReport 2003, 486 = VersR 2003, 1535 [1536], m.w.N.). Der Senat sieht keine durchgreifenden Bedenken dagegen, die Gesichtspunkte, die für die Einbeziehung des Ersteigerers in den Kreis der amtshaftungsrechtlich geschützten Dritten maßgeblich sind, für die hier zu beurteilende Frage heranzuziehen, ob der Ersteigerer Verfahrensbeteiligter im Sinne der Sachverständigenhaftung nach § 839a BGB ist (a.A.: Wagner/Thole, VersR 2004, 275 [277 f.]). Insbesondere begründet die hier in Rede stehende Wertermittlung durch einen privaten Sachverständigen in gleicher Weise ein schutzwürdiges Vertrauen des Ersteigerers zumindest dahin, dass bei der Ermittlung ihrer Grundlagen sachgemäß und korrekt verfahren ist.
3. Als schadensstiftende gerichtliche Entscheidung, die auf dem Gutachten beruht, kommt hier der Zuschlagsbeschluss in Betracht, durch den die Kläger nicht nur das Eigentum an dem Grundstück erworben haben (§ 90 ZVG), sondern im Gegenzug mit der Verpflichtung zur Zahlung des Betrages von 555.000 EUR belastet worden sind.
a) Vollzieht sich die gerichtliche Entscheidungsfindung über mehrere Stufen, von denen die jeweils folgende auf der vorangegangenen aufbaut, so kann haftungsbegründende Entscheidung nicht nur diejenige auf der Stufe sein, auf der das Sachverständigengutachten eingeholt worden ist, sondern auch die folgende Endentscheidung. Dies gilt auch dann, wenn die Entscheidung auf der vorangegangenen Stufe einer selbständigen Anfechtbarkeit mit Rechtsmitteln unterlegen hatte (Staudinger/Wurm, BGB, Westlaw.de-Aktualisierung, 2005, WLDE 2005 - 2000926, § 839a Rz. 17). Dies bedeutet, dass die Wirkung des Gutachtens sich nicht nur in der Wertfestsetzung erschöpfte, sondern über diese hinaus den weiteren Gang des Verfahrens bis zur Erteilung des Zuschlages beeinflusste.
b) Das Berufungsgericht meint, der Unterschied zum klassischen Fall des § 839a BGB - aufgrund eines falschen Gutachtens ergehe ein falsches Urteil, durch das ein (Vermögens-)Schaden entstehe - liege bei der hier zu beurteilenden Konstellation darin, dass das Wertgutachten im Zwangsversteigerungsverfahren nicht Grundlage einer staatlichen Zwangsentscheidung sei, sondern der Betroffene aufgrund des Gutachtens eine eigene wirtschaftliche Entscheidung treffe, die sich als falsch herausstelle. Insoweit entspreche die Interessenlage dem Fall, dass die Parteien sich auf der Basis eines - unrichtigen - Gutachtens verglichen, etwa über die Höhe von Nachbesserungskosten. Für diesen Fall habe der Gesetzgeber die Haftung aber gerade ausgeschlossen, und zwar mit der Begründung, dass hier "der Nachweis, dass dieses Gutachten auf die Motivation der Parteien eingewirkt habe, auch nur schwer zu erbringen" wäre.
c) Diese Betrachtungsweise vermag der Senat nicht zu teilen. Es ist zwar richtig, dass nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 14/7752, 28) von der Ersatzpflicht Fälle anderweitiger Erledigung ausgeschlossen sind, namentlich, dass sich die Parteien unter dem Eindruck des unrichtigen Gutachtens vergleichen. Im Schrifttum wird erwogen, diesen Grundsatz auch auf sonstige Fälle der nichtstreitigen Erledigung des Verfahrens, etwa Klage- oder Rechtsmittelrücknahme, Anerkenntnis, Verzicht, Flucht in die Säumnis, zu übertragen (Staudinger/Wurm, BGB, Westlaw.de-Aktualisierung, 2005, WLDE 2005 - 2000926, § 839a Rz. 19-21). Die Gemeinsamkeit dieser Fallgestaltungen liegt jedoch darin, dass die betroffenen Parteien von ihrem bisherigen Rechtsschutzbegehren Abstand nehmen und auf eine streitige Gerichtsentscheidung verzichten. Im vorliegenden Fall ist es demgegenüber so, dass die Bieter auf der Grundlage des Gutachtens ihr Ziel, das Grundstück zu ersteigern, im Wettbewerb miteinander weiterverfolgen. Dementsprechend ist es gerechtfertigt, den Zuschlag auch ggü. dem Meistbietenden, nicht anders als ggü. dem Gläubiger oder dem Schuldner, als die gerichtliche Streitentscheidung zu betrachten.
4. Zu dem ersatzfähigen Schaden gehört jeder durch das unrichtige Gutachten und die darauf beruhende gerichtliche Entscheidung adäquat verursachte und in den Schutzbereich der verletzten Sachverständigenpflicht fallende Vermögensschaden (Staudinger/Wurm, BGB, Westlaw.de-Aktualisierung, 2005, WLDE 2005 - 2000926, § 839a Rz. 25). Der zu leistende Schadensersatz soll die Vermögenslage herstellen, die bei pflichtgemäßem Verhalten des Sachverständigen eingetreten wäre, d.h. hier: wenn der Grundstückswert korrekt ermittelt worden wäre. Dies bedeutet, dass der Geschädigte - entgegen einer missverständlichen Formulierung im Senatsurteil vom 6.2.2003 (BGH, Urt. v. 6.2.2003 - III ZR 44/02, MDR 2003, 628 = BGHReport 2003, 486 = VersR 2003, 1535 [1536], m.w.N.) - nicht lediglich einen Anspruch darauf hat, so gestellt zu werden, als hätte er das Objekt nicht ersteigert. Dies ist zwar eine denkbare, aber nicht die einzige Möglichkeit der Schadensberechnung. Vielmehr bleibt es dem Geschädigten vom Ansatz her unbenommen, geltend zu machen, dass er bei korrekter Wertfestsetzung das Grundstück zu einem niedrigeren Meistgebot hätte ersteigern können. Den Differenzbetrag kann er als Schadensersatz beanspruchen. Dies gilt auch dann, wenn das zum Zuge gekommene Meistgebot - wie hier - unter dem Verkehrswert liegt. Der Umstand, dass der Geschädigte möglicherweise eine objektiv adäquate Gegenleistung erhalten hat, schließt es nicht aus, dass er bei korrekter Wertfestsetzung mit einem noch geringeren Gebot hätte zum Zuge kommen können und die Mehraufwendungen damit erspart hätte.
5. Das Berufungsurteil kann daher mit der ihm gegebenen Begründung nicht bestehen bleiben. Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft, ob die vom Beklagten vorgenommene Wertermittlung überhaupt objektiv unrichtig gewesen ist und ob dem Beklagten ggf. grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Erforderlichenfalls sind weitere Feststellungen dazu zu treffen, ob die Kläger das Grundstück zu einem niedrigeren Meistgebot ersteigert hätten. Die insoweit im Rahmen des § 287 ZPO an die Darlegungs- und Beweislast der Kläger zu stellenden Anforderungen müssen um so strenger sein, je geringer die Differenz zwischen den vom Sachverständigen ermittelten und dem von den Klägern für zutreffend gehaltenen Verkehrswert ist und je deutlicher das zum Zuge gekommene Meistgebot unter diesen Werten liegt. Lag - wie im Streitfall - das Meistgebot 100.000 EUR unter dem festgesetzten Verkehrswert von 655.000 EUR und lag weiter - so die Behauptung der Kläger - der wirkliche Verkehrswert weniger als 2 v.H. unter dem vom Beklagten ermittelten Wert, ist es unwahrscheinlich, dass sich diese geringe Abweichung überhaupt auf die Höhe der Gebote ausgewirkt hat. Aber auch insoweit darf der tatrichterlichen Würdigung nicht vorgegriffen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 1498693 |
BGHZ 2006, 313 |
NJW 2006, 1733 |
NWB 2006, 2160 |
BGHR 2006, 770 |
BauR 2006, 1281 |
BauR 2006, 883 |
BauR 2006, 987 |
EBE/BGH 2006, 126 |
FamRZ 2006, 691 |
JurBüro 2006, 445 |
WM 2006, 867 |
ZAP 2006, 378 |
InVo 2006, 374 |
MDR 2006, 1168 |
Rpfleger 2006, 551 |
WuM 2006, 262 |
BKR 2007, 505 |
BauSV 2006, 59 |
GuT 2006, 199 |
KfZ-SV 2009, 30 |
KfZ-SV 2013, 19 |
NJW-Spezial 2006, 340 |
NZBau 2006, 375 |
RENOpraxis 2006, 109 |
RdW 2006, 337 |
ZBB 2008, 54 |
ZGS 2006, 186 |
DS 2006, 240 |
GuG 2006, 241 |
ImmWert 2006, 30 |
apf 2007, 64 |