Entscheidungsstichwort (Thema)
Verjährungsbeginn von Ansprüchen aus Unfallversicherung. Invaliditätsleistungen. Unterlassene Mitwirkungshandlungen
Leitsatz (amtlich)
Die Verjährung von Ansprüchen auf Invaliditätsleistungen aus einer Unfallversicherung kann grundsätzlich nicht beginnen, bevor der Versicherungsnehmer die nach den Versicherungsbedingungen für den Eintritt der Fälligkeit erforderlichen Mitwirkungshandlungen vorgenommen hat.
Ein früherer Verjährungsbeginn kommt – abgesehen von einer vorherigen Leistungsablehnung des Versicherers – nur in Betracht, wenn der Versicherungsnehmer diese Mitwirkung treuwidrig unterläßt.
Normenkette
VVG § 11 Abs. 1, § 12 Abs. 1; AUB 61 §§ 11, 13; BGB § 242
Verfahrensgang
OLG Hamm (Entscheidung vom 24.11.2000) |
LG Dortmund |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. November 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger verlangt von der Beklagten Invaliditätsentschädigung aus einer Unfallversicherung, der die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen 1961 (AUB 61) zugrunde liegen.
Am 6. März 1993 erlitt der Kläger bei einem Verkehrsunfall u.a. ein Schädelhirntrauma zweiten Grades. Im ärztlichen Erstbericht vom 7. April 1993 wurde festgestellt, daß der Unfall voraussichtlich eine dauernde Beeinträchtigung (Invalidität) hinterlassen werde. Die Schwester des Klägers zeigte der Beklagten den Unfall am 23. März 1993 an. Im Anschluß an die stationären Klinikaufenthalte des Klägers rechnete die Beklagte mit Schreiben vom 20. August 1993 Krankenhaustagegeld und Genesungsgeld ab und wies zugleich darauf hin, daß ein Dauerschaden innerhalb von 15 Monaten ab dem Unfalltag geltend gemacht werden müsse.
Im Juli 1998 wurde für den Kläger ein Betreuungsverfahren eingeleitet. Das in diesem Verfahren eingeholte ärztliche Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß er infolge einer auf den Unfall zurückzuführenden hirnorganischen Schädigung als geschäftsunfähig anzusehen sei. Am 17. September 1998 wurde dem Kläger u.a. für Vermögensangelegenheiten ein Betreuer bestellt. Der von diesem beauftragte Rechtsanwalt machte mit Schreiben vom 23. November 1998 Invaliditätsleistungen geltend. Die Beklagte lehnte diese mit Schreiben vom 12. Februar 1999 ab, weil die 15-monatige Frist des § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 nicht eingehalten worden sei; der Kläger habe Invalidität nicht rechtzeitig geltend gemacht. Nachfolgend berief sie sich auch auf Verjährung.
Mit der am 15. Dezember 1999 zunächst über einen Teil des geltend gemachten Anspruchs eingereichten, mit der Berufungsbegründung am 5. September 2000 auf die volle Invaliditätsleistung von 300.000 DM erweiterten Klage beruft sich der Kläger darauf, er sei seit dem Unfall geschäftsunfähig beziehungsweise ohne Verschulden nicht in der Lage gewesen, den Anspruch geltend zu machen.
In beiden Vorinstanzen ist die Klage ohne Erfolg geblieben, weil der Anspruch gemäß § 12 Abs. 1 VVG verjährt sei. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Nach Ansicht des Berufungsgerichts kann dahinstehen, ob mit dem Anwaltsschreiben vom 23. November 1998 die Invalidität des Klägers noch fristgerecht geltend gemacht worden sei. Der Anspruch auf Invaliditätsleistung sei gemäß § 12 Abs. 1 VVG verjährt. Gehe man zugunsten des Klägers davon aus, daß die Invaliditätsleistung erst zu dem Zeitpunkt habe verlangt werden können, in dem auch der Grad der Invalidität festgestanden habe – nach Auffassung des Berufungsgerichts drei Jahre nach dem Unfall –, so habe der Lauf der zweijährigen Verjährungsfrist gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 VVG am 31. Dezember 1996 begonnen und grundsätzlich mit dem 31. Dezember 1998 geendet. Da der Kläger nach dem im Betreuungsverfahren eingeholten Gutachten zu diesem Zeitpunkt geschäftsunfähig gewesen sei und der Mangel seiner Vertretung erst am 17. September 1998 geendet habe, habe sich die Verjährungsfrist gemäß § 206 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. bis zum 17. März 1999 verlängert. Außerdem sei die Verjährung von der Anmeldung des Anspruchs auf Invaliditätsleistung bis zur Leistungsablehnung der Beklagten am 12. Februar 1999 gemäß § 12 Abs. 2 VVG gehemmt und damit jedenfalls Ende Juni 1999 vollendet gewesen.
Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
2. Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag verjähren gemäß § 12 Abs. 1 VVG in zwei Jahren. Nach Satz 2 dieser Vorschrift beginnt die Verjährung mit Schluß des Jahres, in welchem die Leistung verlangt werden kann. Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung nicht auf die Entstehung, sondern auf die Fälligkeit des Anspruchs an. Es muß also Klage auf sofortige Leistung erhoben werden können (vgl. nur BGH, Urteile vom 10. Mai 1983 – IVa ZR 74/81 – VersR 1983, 673 unter II; vom 14. April 1999 – IV ZR 197/98 – VersR 1999, 706 unter 2 a und zuletzt vom 27. Februar 2002 – IV ZR 238/00 – unter 1 b, zur Veröffentlichung vorgesehen, jeweils m.w.N.). Werden Leistungen, die ein Versicherer aus Anlaß eines Versicherungsfalls schuldet, zu unterschiedlichen Zeiten fällig, so laufen für die einzelnen Teilleistungen auch unterschiedliche Verjährungsfristen (Senatsurteil vom 14. April 1999 aaO).
a) Geldleistungen des Versicherers sind gemäß § 11 Abs. 1 VVG mit Beendigung der zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistung des Versicherers nötigen Erhebungen fällig. Diese Vorschrift ist in zulässiger Weise (§ 15 a VVG) durch die §§ 11 und 13 Abs. 1 AUB 61 modifiziert worden (vgl. BGH, Urteile vom 4. November 1987 – IVa ZR 141/86 – VersR 1987, 1235 unter 3 und – zu § 11 AUB 88 – vom 22. März 2000 – IV ZR 233/99 – VersR 2000, 753 unter 2 c). Gemäß § 13 Abs. 1 AUB 61 wird die Entschädigung zwei Wochen nach ihrer Feststellung gemäß §§ 11 und 12 AUB 61 gezahlt. Die Feststellung des Versicherers erfolgt, soweit Invaliditätsentschädigung beansprucht wird, innerhalb von drei Monaten nach Eingang der vom Anspruchsteller gemäß § 11 Satz 2 AUB 61 beizubringenden Unterlagen. Somit hängen der Eintritt der Fälligkeit und damit auch der Verjährungsbeginn – wenn der Versicherer nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt die Leistung endgültig und umfassend abgelehnt hatte (vgl. Senatsurteil vom 27. Februar 2002 aaO unter 1 b) – von bestimmten vorausgehenden Handlungen des Anspruchstellers ab. Ein früherer Verjährungsbeginn in Fällen, in denen diese Mitwirkung unterbleibt, ergibt sich weder aus den vereinbarten Versicherungsbedingungen noch aus den gesetzlichen Verjährungsvorschriften. Die Verjährung kann deshalb grundsätzlich nicht vor den Mitwirkungshandlungen des Anspruchstellers zu laufen beginnen, selbst wenn diese über einen längeren Zeitraum hinweg nicht vorgenommen werden.
aa) Für die Auffassung des Berufungsgerichts, es sei darauf abzuheben, wann der Kläger die Invaliditätsleistung spätestens hätte verlangen können, gibt es keine Rechtsgrundlage; zudem bliebe unklar, wonach sich der hierfür maßgebliche Zeitpunkt bestimmen soll. Ebensowenig geht es an, die Verjährung – etwa in Anlehnung an die für die Nichtausübung eines Kündigungs- oder Anfechtungsrechts geltenden Bestimmungen der §§ 199, 200 BGB a.F. – bereits mit der Möglichkeit beginnen zu lassen, die erforderlichen Unterlagen einzureichen. Denn dadurch würde beim zögernden Anspruchsteller der Verjährungsbeginn in einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Weise vorverlegt (vgl. Senatsurteil vom 4. November 1987 aaO unter II 3). Schließlich kann nicht auf ein etwaiges Verschulden des Versicherungsnehmers abgestellt werden. Andernfalls würde ein dem Gesetz in diesem Zusammenhang fremdes Merkmal eingeführt, das auch nicht verläßlich genug die Feststellung des maßgeblichen Zeitpunkts gestatten würde (BGH, Urteile vom 4. November 1987 aaO VersR 1987, 1235 unter 3 und vom 19. Januar 1994 – IV ZR 117/93 – VersR 1994, 337 unter 2 c). Eine Vorverlegung des Verjährungsbeginns kann nur in Betracht kommen, wenn der Versicherungsnehmer durch das Unterlassen seiner „Mitwirkung” gegen die allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben verstößt (§§ 162 Abs. 1, 242 BGB; vgl. Römer in Römer/Langheid, VVG § 12 Rdn. 11). Die Darlegungs- und Beweislast für einen solchen Verstoß trägt der Versicherer, der sich auf die Einrede der Verjährung beruft (vgl. Römer aaO).
bb) Diese Abhängigkeit der Fälligkeit eines Leistungsanspruchs und damit des Verjährungsbeginns von einer vorausgehenden Handlung des Gläubigers ist keine Besonderheit des Versicherungsvertragsrechts. Auch in anderen Fällen entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, daß die Verjährung ohne die an sich vorgesehene Handlung des Gläubigers grundsätzlich, also abgesehen von einem treuwidrigen Verhalten, nicht beginnen kann (vgl. zur vereinbarten „Zahlung gegen Dokumente” beim Kaufvertrag BGHZ 55, 340, 343 f.; zur Schlußrechnung des Auftragnehmers beim VOB-Werkvertrag Urteile vom 24. Mai 1971 – VII ZR 155/70 – NJW 1971, 1455 unter 2 d und vom 16. Juni 1977 – VII ZR 66/76 – WM 1977, 1053 unter 2; zur Honorarschlußrechnung des Architekten Urteile vom 19. Juni 1986 – VII ZR 221/85 – WM 1986, 1388 unter 2 und vom 11. November 1999 – VII ZR 73/99 – WM 2000, 675 unter II 3 a; zur Heizkostenrechnung des Vermieters BGHZ 113, 188, 195 ff.). Denn es gibt gerade keinen allgemeinen Grundsatz, daß bei Ansprüchen mit einer von der Disposition des Gläubigers abhängenden Fälligkeit die Verjährung schon in dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Gläubiger die Fälligkeit herbeiführen kann (BGH, Urteil vom 8. Juli 1981 – VIII ZR 222/80 – NJW 1982, 930 unter II 2 b bb; BGHZ 113, 188, 195 sowie Urteil vom 11. November 1999 aaO WM 2000, 675 unter II 3 a (3)).
b) Der Kläger hat die Invaliditätsleistung erstmals mit Schreiben vom 23. November 1998 geltend gemacht. Die Beklagte hat die Leistung mit Schreiben vom 12. Februar 1999 abgelehnt. Folglich konnte die Verjährung gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 VVG nicht vor Ablauf des Jahres 1999 beginnen. Ein treuwidriges Verhalten des Klägers ist den bisherigen Feststellungen nicht zu entnehmen. Die verspätete Geltendmachung der Invalidität allein genügt hierfür nicht. Treuwidrigkeit scheidet von vornherein aus, wenn er tatsächlich unfallbedingt gehindert war, die zur Feststellung der Leistungspflicht der Beklagten erforderlichen Handlungen vorzunehmen. Bei dieser Sachlage ist der – für die Revision zu unterstellende – Leistungsanspruch des Klägers nicht verjährt. Vielmehr haben die Klage und die Klageerweiterung im zweiten Rechtszug die Verjährung gemäß § 209 Abs. 1 BGB a.F. unterbrochen.
3. Das Berufungsurteil erweist sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig (§ 563 ZPO a.F.).
a) Vom Eintritt der am 7. April 1993 ärztlich festgestellten unfallbedingten Invalidität des Klägers innerhalb eines Jahres seit dem Unfalltag gemäß § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 ist nach seinem zwar bestrittenen, aber unter Beweis gestellten Vortrag für die Revision auszugehen.
b) Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht die Versäumung der 15-monatigen Frist zur Geltendmachung der Invalidität gemäß § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 entgegen. Die Frist ist eine Ausschlußfrist, deren Versäumen unbeachtlich bleibt, wenn der Versicherungsnehmer ausreichend entschuldigt ist (BGHZ 130, 171, 173 f.; Senatsurteil vom 19. November 1997 – IV ZR 348/96 – VersR 1998, 175 unter 2 b cc). Es kommt daher auf die streitige und unter Beweis gestellte Behauptung des Klägers an, er sei seit dem Unfall geschäftsunfähig beziehungsweise unverschuldet nicht in der Lage gewesen, den Anspruch geltend zu machen.
Daß seine Schwester, die der Beklagten den Unfall gemeldet hatte, nicht auch die Invalidität des Klägers geltend gemacht hat, ist ihm nicht zuzurechnen. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, die Schwester als seine Vertreterin oder Repräsentantin anzusehen (zum Repräsentantenbegriff vgl. Senatsurteil vom 10. Juli 1996 – IV ZR 287/95 – VersR 1996, 1229 unter 2 b m.w.N.).
Allerdings beginnt bei entschuldbarer Fristversäumung keine neue Frist. Vielmehr muß der Versicherungsnehmer die Geltendmachung der Invalidität nach Wegfall des Entschuldigungsgrundes unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, nachholen (BGHZ 130, 171, 175). Der von dem Kläger behauptete Entschuldigungsgrund war spätestens mit der Bestellung des Betreuers am 17. September 1998 behoben. Zwar wurde die Invalidität erst mit Anwaltsschreiben vom 23. November 1998 geltend gemacht. Das ist jedoch entgegen der Revisionserwiderung den bisher festgestellten Umständen nach noch als unverzüglich anzusehen. Denn der Betreuer musste sich erst einarbeiten, was nach den beigezogenen Betreuungsakten nicht ohne Schwierigkeiten möglich war.
4. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, den Beweisangeboten des Klägers zum bedingungsgemäßen Eintritt der Invalidität sowie zur Entschuldigung der Überschreitung der Geltendmachungsfrist gemäß § 8 II (1) Satz 1 AUB 61 durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen.
Unterschriften
Terno, Dr. Schlichting, Ambrosius, Wendt, Felsch
Fundstellen
Haufe-Index 725999 |
NWB 2002, 1765 |
BGHR 2002, 540 |
BGHR |
NJW-RR 2002, 892 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2002, 864 |
MDR 2002, 877 |
NVersZ 2002, 309 |
VersR 2002, 698 |
ZfS 2002, 285 |