Entscheidungsstichwort (Thema)
Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung. Mehrfache schuldhafte Obliegenheitsverletzung. Trunkenheitsfahrt. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort. Regress. Mitversicherte Person. Beschränkung der Leistungsfreiheit des Versicherers. Kumulierung der Regressbeträge. Addition
Leitsatz (amtlich)
Verletzt der Versicherungsnehmer eine Obliegenheit vor (hier: Trunkenheitsfahrt) und eine weitere nach Eintritt des Versicherungsfalles (hier: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort), können die Beträge, bis zu denen der Versicherer Leistungsfreiheit in Anspruch nehmen kann, addiert werden.
Normenkette
KfzPflVV §§ 5-6; AKB §§ 2b, 7
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 26.08.2004; Aktenzeichen 17 S 10/04) |
AG Berlin-Köpenick |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil der Zivilkammer 17 des LG Berlin v. 26.8.2004 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger verursachte am 13.10.2002 als Fahrer eines Pkw Audi in stark alkoholisiertem Zustand einen Verkehrsunfall, bei dem Fremdschäden von mindestens 12.448,94 EUR entstanden. Anschließend entfernte er sich unerlaubt vom Unfallort. Halterin des Fahrzeuges war seine Lebensgefährtin. Deren Großvater hatte den Pkw bei der Beklagten haftpflichtversichert. Dem Versicherungsvertrag liegen Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung (AKB) zu Grunde, die auszugsweise wie folgt lauten:
"§ 2b Einschränkung des Versicherungsschutzes
(1) Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalles:
Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung frei
...
e) in der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung, wenn der Fahrer infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen.
(2) Bei Verletzung einer der Obliegenheiten gem. Abs. 1 oder bei Gefahrerhöhung ist die Leistungsfreiheit des Versicherers in der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung ggü. dem Versicherungsnehmer und den mitversicherten Personen auf den Betrag von höchstens je 10.000 DM beschränkt. ...
§ 7 Obliegenheiten im Versicherungsfall
I. (1) ...
(2) ... Der Versicherungsnehmer ist verpflichtet, alles zu tun, was zur Aufklärung des Tatbestandes und zur Minderung des Schadens dienlich sein kann. ...
V. (1) Wird in der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung eine dieser Obliegenheiten vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt, so ist der Versicherer dem Versicherungsnehmer ggü. von der Verpflichtung zur Leistung in den in den Abs. 2 und 3 genannten Grenzen frei. ...
(2) Die Leistungsfreiheit des Versicherers ist auf einen Betrag von 5.000 DM beschränkt.
Bei vorsätzlich begangener Verletzung der Aufklärungs- oder Schadenminderungspflicht (z.B. bei unerlaubtem Entfernen vom Unfallort, unterlassener Hilfeleistung, Abgabe wahrheitswidriger Angaben ggü. dem Versicherer), wenn diese besonders schwer wiegend ist, erweitert sich die Leistungsfreiheit des Versicherers auf einen Betrag von 10.000 DM."
Nachdem die Beklagte die Schäden reguliert hatte, berief sie sich ggü. dem Kläger auf Obliegenheitsverletzungen, die er sowohl vor als auch nach Eintritt des Versicherungsfalles begangen habe, und nahm ihn i.H.v. 10.000 EUR in Regress. Der Kläger zahlte an die Beklagte lediglich 5.000 EUR. Er ist der Auffassung, dass die Beklagte einen darüber hinausgehenden Betrag von ihm nicht verlangen könne. Das AG hat seine darauf gerichtete Feststellungsklage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist vor dem LG ohne Erfolg geblieben. Dagegen wendet er sich mit der Revision.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel ist unbegründet.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die Beklagte sei im Innenverhältnis ggü. dem Kläger als dem mitversicherten Fahrer des Pkw von der Verpflichtung zur Leistung frei geworden. Sie könne diesen daher gem. § 3 Nr. 9 S. 2 PflVG in Regress nehmen. Der Kläger habe schuldhaft Obliegenheiten verletzt, die er sowohl vor (§ 2b Abs. 1 S. 1 Buchst. e AKB) als auch nach dem Verkehrsunfall (§ 7 I Abs. 2 S. 3 AKB) zu beachten gehabt habe. In beiden Fällen sei die Leistungsfreiheit der Beklagten allerdings beschränkt, und zwar nach § 2b Abs. 2 S. 1 AKB auf 10.000 DM und nach § 7 V Abs. 2 S. 1 und 2 AKB auf ebenfalls 10.000 DM, da der Kläger durch das vorsätzliche Entfernen vom Unfallort eine besonders schwer wiegende Obliegenheitsverletzung begangen habe. Eine Kumulierung beider Regressbeträge auf - nach entsprechender Umstellung der DM-Beträge - jedenfalls 10.000 EUR sei zulässig. Durch die Addition werde die versicherte Person nicht unverhältnismäßig belastet, weil ihre wirtschaftliche Existenz bei einer Verpflichtung zur Zahlung von 10.000 EUR allenfalls in Ausnahmefällen bedroht sei. Der Kraftfahrzeug-Pflichtversicherungsverordnung (KfzPflVV) lasse sich keine Regelung entnehmen, die einer Zusammenrechnung entgegenstehe. Die AKB seien insoweit auch nicht unklar gefasst. Einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer oder Mitversicherten könne schlechterdings nicht verborgen bleiben, dass es sich um zwei völlig verschiedene Bestimmungen handele, welche - ohne jeweils abschließend zu sein - die Folgen eines Fehlverhaltens vor und nach dem Versicherungsfall regelten.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung in jeder Hinsicht stand.
1. Die Beklagte hat den Kläger zu Recht i.H.v. 10.000 EUR nach § 3 Nr. 2, 9 PflVG i.V.m. § 426 Abs. 1 BGB in Regress genommen; diese Bestimmungen kommen auch auf den nach § 10 Abs. 2c AKB in das Haftpflichtversicherungsverhältnis einbezogenen Fahrer des Pkw zur Anwendung (BGHZ 55, 281 [287]; BGH, Urt. v. 10.6.1986 - VI ZR 113/85, MDR 1987, 45 = VersR 1986, 1010, unter II 2b aa). Im Innenverhältnis zum Kläger ist die Beklagte leistungsfrei geworden, weil er als mitversicherte Person in den Versicherungsbedingungen festgelegte Obliegenheiten verletzt hat. Er hat den Pkw in alkoholisiertem Zustand geführt (§ 2b Abs. 1 S. 1 Buchst. e AKB) und sich nach dem Unfallereignis unerlaubt vom Unfallort entfernt (§ 7 I Abs. 2 S. 3 AKB). Auf die Obliegenheitsverletzung gem. § 2b Abs. 1 AKB und die nach den Versicherungsbedingungen daran knüpfende Leistungsfreiheit kann sich die Beklagte auch ohne Kündigung des Versicherungsvertrages (§ 6 Abs. 1 S. 3 VVG) berufen. Denn der Kläger hat die Obliegenheitsverletzung begangen, ohne zugleich Repräsentant des Versicherungsnehmers zu sein. Folge seines Verstoßes ist lediglich, dass er seinen eigenen Versicherungsanspruch ggü. der Beklagten verloren hat. Demgemäß besteht weder ein Recht der Beklagten, nach § 6 Abs. 1 S. 2 VVG ggü. dem Versicherungsnehmer zu kündigen, noch weiter gehend ein Kündigungserfordernis nach § 6 Abs. 1 S. 3 VVG (BGH, Urt. v. 29.1.2003 - IV ZR 41/02, MDR 2003, 569 = VersR 2003, 445, unter II 2).
2. Nach den Versicherungsbedingungen ist die Leistungsfreiheit der Beklagten der Höhe nach beschränkt, und zwar nach § 2b Abs. 2 S. 1 AKB - in Entsprechung zu § 5 Abs. 3 S. 1 KfzPflVV in der damals geltenden Fassung - auf 10.000 DM und nach § 7 V Abs. 2 S. 2 AKB - in Entsprechung zu § 6 Abs. 1, 3 KfzPflVV in der damals geltenden Fassung - auf ebenfalls 10.000 DM, wenn die Verletzung der Obliegenheit vorsätzlich erfolgt und besonders schwer wiegend ist. Letzteres hat das Berufungsgericht bejaht; die Revision nimmt dies hin.
a) Nach zutreffender Ansicht, der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat, sind die Regressbeträge zu addieren, wenn - wie hier - die eine Obliegenheitsverletzung vor Eintritt des Versicherungsfalles und die andere im Anschluss daran begangen worden ist (OLG Köln ZfS 2003, 23; OLG Schleswig, Urt. v. 30.10.2002 - 9 U 150/01, OLGReport Schleswig 2003, 140 = VersR 2003, 637; OLG Saarbrücken ZfS 2003, 501; OLG Bamberg RuS 2002, 2; OLG Hamm v. 2.8.1999 - 20 W 12/99, OLGReport Hamm 2000, 216 = VersR 2000, 843; Knappmann, NVersZ 2000, 558; Stiefel/Hofmann, Kraftfahrtversicherung, 17. Aufl., § 2b AKB Rz. 139, § 5 KfzPflVV Rz. 19; Langheid in Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., § 5 KfzPflVV Rz. 11; Römer in Anwalts-Handbuch, Verkehrsrecht, 2003, Rz. 243; Bauer, Die Kraftfahrtversicherung, 5. Aufl., Rz. 667). Maßgeblich dafür ist eine Auslegung der Versicherungsbedingungen, die danach zu erfolgen hat, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss (BGH v. 23.6.1993 - IV ZR 135/92, BGHZ 123, 83 [85] = MDR 1993, 841, und ständig).
(1) Ein solcher Versicherungsnehmer - und die ihm gleichgestellte mitversicherte Person - entnimmt § 2b Abs. 1 AKB, dass der Versicherer ihm gegenüber u.a. dann von der Verpflichtung zur Leistung frei ist, wenn der Fahrer des Fahrzeuges infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage gewesen ist, das Fahrzeug sicher zu führen. Aus § 2b Abs. 2 AKB erfährt er, dass die Leistungsfreiheit auf einen Betrag von höchstens 10.000 DM beschränkt ist. Er weiß daher, dass er bis zu dieser Höhe in Anspruch genommen werden kann, sollte eine der in § 2 Abs. 1 AKB genannten Obliegenheitsverletzungen vorliegen.
Unabhängig davon legt § 7 I Abs. 2 AKB die Obliegenheiten "im" Versicherungsfall fest, wenn es also zu einem Schadenereignis gekommen ist, für das der Versicherer eintrittspflichtig ist. Zu diesen Obliegenheiten gehört, dass Versicherungsnehmer und Versicherter alles zu tun haben, was zur Aufklärung des Tatbestandes und zur Minderung des Schadens dienlich sein kann (Satz 3). Wird diese in § 7 AKB aufgeführte Obliegenheit verletzt, besteht für den Versicherer erneut Leistungsfreiheit bis zu 10.000 DM (§ 7 V Abs. 2 AKB).
(2) Der verständige Versicherungsnehmer wird die Klauseln in § 2b einerseits und § 7 AKB andererseits getrennt voneinander betrachten. Er wird erkennen, dass es sich bei ihnen um Regelungen handelt, die selbständig nebeneinander stehen und unterschiedliche Sachverhalte erfassen. Wer eine Obliegenheit nach § 2b Abs. 1 AKB verletzt - etwa wie der Kläger in angetrunkenem Zustand Auto fährt - muss nicht notwendig auch eine Obliegenheitsverletzung nach § 7 I Abs. 2 AKB begehen, sich beispielsweise unerlaubt vom Unfallort entfernen. Umgekehrt wird nicht jede Straftat, die unter § 142 StGB einzuordnen ist, unter Alkoholeinfluss begangen. Schon deshalb wird der Versicherungsnehmer nicht davon ausgehen, dass der in den Versicherungsbedingungen bei Verletzung einer Obliegenheit nach § 7 I Abs. 2 AKB ausgewiesene Regressbetrag in demjenigen aufgeht, der bei Verletzung einer Obliegenheit aus § 2b Abs. 1 AKB vorgesehen ist. Er wird gerade nicht den Schluss ziehen, dass es bei einer Leistungsfreiheit i.H.v. bis zu 10.000 DM verbleibt, selbst wenn auf die erste Obliegenheitsverletzung noch eine weitere folgt. Vielmehr wird er die Versicherungsbedingungen dahin verstehen, dass Leistungsfreiheit i.H.v. jeweils bis zu 10.000 DM eintritt, wenn Obliegenheiten sowohl vor als auch nach Eintritt des Versicherungsfalles verletzt werden.
b) Bestätigt wird dies dadurch, dass der Versicherer - für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbar - mit beiden Klauseln unterschiedliche Interessen wahren will. Die Regelung in § 2b Abs. 1 AKB soll schon den Eintritt des Versicherungsfalles verhindern, indem sie besonders gefahrenträchtige Verhaltensweisen sanktioniert und das versicherte Risiko dadurch begrenzt (Knappmann, NVersZ 2000, 558). Bei § 7 I Abs. 2 AKB steht hingegen das Aufklärungsinteresse des Versicherers im Vordergrund, der gesicherte Feststellungen zum Versicherungsfall treffen möchte und bestrebt ist, den Schaden und damit seine Einstandspflicht möglichst gering zu halten. Schon diese unterschiedlichen Schutzrichtungen rechtfertigen es - entgegen einer teilweise vertretenen Auffassung (OLG Nürnberg v. 27.7.2000 - 8 U 1411/00, OLGReport Nürnberg 2001, 1 = MDR 2000, 1244 = VersR 2001, 231; Wessels, NVersZ 2000, 262; Hübner/Schneider, RuS 2002, 89 [96]; Feyock/Jacobsen/Lemor, § 5 PflVV Rz. 13, § 2b AKB Rz. 91) - die Regressbeträge zu addieren (Römer in Anwalts-Handbuch, Verkehrsrecht, 2003, Rz. 243).
c) Der Versicherungsnehmer wird §§ 2b, 7 AKB entnehmen, dass ihn die bei Obliegenheitsverletzungen drohende Leistungsfreiheit des Versicherers dazu anhalten soll, den vertraglich vereinbarten Obliegenheiten nachzukommen. Die Sanktion, mit der Obliegenheitsverletzungen belegt sind, würde indes für § 7 AKB leer laufen, sollte ein Versicherungsnehmer, der bereits vor Eintritt des Versicherungsfalles bestehende Obliegenheiten nicht beachtet hat, ohne zusätzliches versicherungsrechtliches Risiko nach Eintritt des Versicherungsfalles eine weitere Obliegenheitsverletzung begehen können (Knappmann, NVersZ 2000, 558, "Freibrief"). Einen erweiterten Verlust des Versicherungsschutzes hätte er nicht zu befürchten; in jedem Falle würde sich die Leistungsfreiheit des Versicherers auf höchstens 10.000 DM beschränken. Der Versicherungsnehmer wird die §§ 2b und 7 AKB auch deshalb so auffassen, dass jeweils Leistungsfreiheit bis zu 10.000 DM für eine Verletzung der dort genannten Obliegenheiten besteht; denn nur so kann der Versicherer sein mit den Obliegenheiten verfolgtes Ziel erreichen. Eine von der Revision in diesem Zusammenhang geltend gemachte Unklarheit der von der Beklagten verwendeten Klauseln (§ 305c Abs. 2 BGB) ist nicht ersichtlich.
d) Ferner ist der Revision nicht darin zu folgen, durch eine Beschränkung der Leistungsfreiheit auf insgesamt höchstens 10.000 DM gelte es, unverhältnismäßige Belastungen vom Versicherungsnehmer oder der mitversicherten Person abzuwenden. Dabei kann dahinstehen, ob die mit der Zusammenrechnung der Regressbeträge verbundene finanzielle Belastung generell geeignet ist, die wirtschaftliche Existenz des Versicherungsnehmers zu bedrohen. Denn einer möglichen Existenzgefährdung wird schon dadurch ausreichend begegnet, dass die auf Grund der Obliegenheitsverletzungen eintretende Leistungsfreiheit des Versicherers überhaupt betragsmäßig beschränkt ist, unabhängig davon, in welcher Höhe der Versicherer im Außenverhältnis Schäden zu regulieren hatte. Ohnehin ist eine besondere Schutzwürdigkeit des Versicherungsnehmers, der zwei Obliegenheitsverletzungen begeht, nicht erkennbar.
3. Die Kfz-Pflichtversicherungsverordnung, die den gesetzlichen (Mindest-)Umfang der Kfz-Haftpflichtversicherung festlegt, steht dem nicht entgegen. Die §§ 5, 6 KfzPflVV führen ebenfalls Obliegenheiten mit unterschiedlichem und eigenständigem Charakter auf, die in ihrer Zielsetzung differieren und als Sanktion - jeweils - eine beschränkte Leistungsfreiheit des Versicherers vorsehen. Auch wenn die Kfz-Pflichtversicherungsverordnung eine Zusammenrechnung der Regressbeträge nicht ausdrücklich vorsieht, schließt sie eine Verdoppelung der Leistungsfreiheitsbeträge jedenfalls nicht aus.
Fundstellen