Leitsatz (amtlich)
1. Die Verfahrensführung des Richters wird im Entschädigungsprozess nach § 198 GVG - entsprechend den im Amtshaftungsprozess entwickelten Grundsätzen - nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft. Letztere darf nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist. Für "Musterverfahren" oder "Pilotverfahren" gelten insoweit keine Besonderheiten (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 5. Dezember 2013 - III ZR 73/13, BGHZ 199, 190 und vom 12. Februar 2015 - III ZR 141/14, BGHZ 204, 184).
2. Im Entschädigungsprozess findet grundsätzlich keine Überprüfung der rechtlichen Überlegungen, die der Richter seiner Entscheidungsfindung zugrunde gelegt hat, auf ihre sachliche Richtigkeit statt, da hier der Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit betroffen ist (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 13. März 2014 - III ZR 91/13, NJW 2014, 1816 und vom 13. April 2017 - III ZR 277/16, NJW 2017, 2478).
3. Der Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile nach § 198 Abs. 2 Satz 3, 4 GVG ist zeitbezogen geltend zu machen, wodurch der Streitgegenstand des Verfahrens festgelegt wird. Macht der Entschädigungskläger für bestimmte Zeiträume zu Unrecht einen Entschädigungsanspruch geltend, so ist sein Antrag insoweit abzuweisen und kann gemäß § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht mit anderen Zeiträumen verrechnet werden, für die er nach Auffassung des Gerichts eine geringere Entschädigung fordert, als ihm zusteht.
4. Maßgebend für die Höhe einer vom gesetzlichen Regelsatz (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) abweichenden Entschädigung sind gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Umstände des Einzelfalles. Auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für die aus der überlangen Verfahrensdauer erwachsenen immateriellen Nachteile festzusetzen, die sich aus dem höheren beziehungsweise niedrigeren Entschädigungssatz nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG, der sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt, und der festgestellten Verzögerungsdauer ergibt.
Normenkette
GVG § 198 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Sätze 3-4; ZPO § 308 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 5. November 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das beklagte Land zur Zahlung eines über 1.200 € nebst Zinsen hierauf hinausgehenden Betrages verurteilt worden ist.
Die Revision des Klägers und das weitergehende Rechtsmittel des Beklagten werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 9/10 und der Beklagte 1/10.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger begehrt von dem beklagten Land Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen überlanger Dauer eines Schadensersatzprozesses, der gegen ihn nach dem Scheitern der so genannten "Göttinger Gruppe", eines zum Zweck der Kapitalanlage gegründeten Unternehmensverbundes, geführt wurde.
Rz. 2
Das unter dem Aktenzeichen 2 O 1136/11 geführte Ausgangsverfahren war Teil eines Gesamtkomplexes von mehr als 4.000 Schadensersatzklagen, die gegen den jetzigen Kläger (im Folgenden auch: Entschädigungskläger) als damaligem Beklagten seit 2006 bei dem Landgericht Göttingen erhoben und parallel geführt wurden. Der Kläger wurde als Verantwortlicher ("Konzeptant") des Unternehmensverbundes "Göttinger Gruppe" von Kapitalanlegern, die das investierte Geld verloren hatten, wegen Betruges, Kapitalanlagebetruges und vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Sämtliche Verfahren wurden zunächst von der 2. Zivilkammer bearbeitet. Ab 2011 übertrug das Präsidium des Landgerichts die Hälfte der Verfahren auf die 14. Zivilkammer. Beide Kammern stimmten ihre Vorgehensweise in der Bearbeitung der Verfahren miteinander ab. Sie bestimmten aus zwei "Serien" - der so genannten Hauptserie mit über 4.000 Verfahren und der so genannten L……. -Serie mit etwa 280 Verfahren, die Beteiligungen an der L. AG zum Gegenstand hatte - jeweils ein "Pilotverfahren", also insgesamt vier Verfahren, die vorrangig gefördert werden sollten. Die restlichen Verfahren der Haupt- und L. -Serie wurden zu den entsprechenden Pilotverfahren ausschließlich zum Zweck der Beweisaufnahme hinzuverbunden. Für die Pilotverfahren der Hauptserie und der L. -Serie holten die Kammern jeweils ein schriftliches Sachverständigengutachten ein, mit dessen Erstellung derselbe Sachverständige beauftragt wurde. In der L. -Serie bestimmte die 2. Zivilkammer das der vorliegenden Entschädigungsklage zugrundeliegende Ausgangsverfahren 2 O 1136/11 zum Pilotverfahren, zu dem etwa 140 weitere Verfahren dieser Serie hinzuverbunden wurden.
Rz. 3
Der Verlauf des Ausgangsverfahrens gestaltete sich im Wesentlichen wie folgt: Mit der am 28. Dezember 2011 beim Landgericht Göttingen eingereichten Klage zweier Anleger wurde Schadensersatz in Höhe von insgesamt 4.809,13 € sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden begehrt. Die Klage wurde dem jetzigen Kläger und damaligen Beklagten am 27. Februar 2012 zugestellt. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 5. Juni 2013 ordnete die 2. Zivilkammer mit Beschluss vom 3. Juli 2013 von Amts wegen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Konzeption der L. AG an. Mit Beschluss vom 14. Januar 2014 bestellte die Kammer sowohl in dem Pilotverfahren der L. -Serie (2 O 1136/11) als auch in dem Pilotverfahren der Hauptserie (2 O 1802/07) den Wirtschaftsprüfer und Steuerberater G. S. zum Sachverständigen und erteilte diesem unter dem 27. Januar 2014 den Gutachtenauftrag. In der Folgezeit konnte der vom Sachverständigen zunächst in Aussicht gestellte Fertigstellungszeitpunkt bis Ende März 2015 nicht eingehalten werden, da sich die Notwendigkeit zusätzlicher Arbeiten ergab und der Sachverständige sich einer medizinischen Behandlung unterziehen musste. Darüber hinaus hinderte ihn die schwere Erkrankung eines Familienangehörigen vorübergehend an der Fertigstellung des Gutachtens. Nachdem am 24. Februar 2016 schließlich das Gutachten für die Hauptserie bei Gericht eingegangen war, setzte das Landgericht dem Sachverständigen mit Beschluss vom 29. Februar 2016 für die Vorlage des Gutachtens zur L. -Serie eine Frist bis zum 30. Mai 2016. Der Sachverständige lieferte daraufhin das Gutachten am 31. Mai 2016 bei Gericht ab.
Rz. 4
Nach entsprechender Fristsetzung nahmen die Parteien zu dem Gutachten bis zum 15. November 2016 Stellung, wobei der Entschädigungskläger und ein weiterer Beklagter den Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnten. Durch Beschluss vom 24. März 2017 wies das Landgericht die Ablehnungsgesuche als unbegründet zurück. Auf Antrag der Bezirksrevisorin setzte das Landgericht mit Beschluss vom 7. Juli 2017 die Sachverständigenvergütung fest.
Rz. 5
Im Anschluss daran wertete das Landgericht das in dem Pilotverfahren der Hauptserie (2 O 1802/07) erstattete Sachverständigengutachten im Umfang von 600 Seiten sowie beigezogene Unterlagen (knapp 30 Umzugskartons), von den Parteien eingereichte Unterlagen (20 Ordner) und mehrere in einem anderen Verfahren zum Anlagemodell der "Göttinger Gruppe" eingeholte Gutachten aus. Am 16. Oktober 2018 erging sodann ein ergänzender Beweisbeschluss.
Rz. 6
Der Entschädigungskläger erhob am 24. Oktober 2017 und am 29. Januar 2019 jeweils eine Verzögerungsrüge in dem Ausgangsverfahren.
Rz. 7
Am 4. März 2019 erließ das Landgericht auch in dem Ausgangsverfahren einen ergänzenden Beweisbeschluss. Diesen formulierte es unter dem 28. Juni 2019 abschließend und setzte dem Sachverständigen für die Übermittlung des Ergänzungsgutachtens eine Frist bis zum 31. August 2020.
Rz. 8
Mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2019 nahmen die klagenden Anleger ihre Klage zurück. Nachdem der Entschädigungskläger der Klagerücknahme mit am 5. November 2019 beim Landgericht eingegangenem Schriftsatz zugestimmt hatte, endete das Verfahren durch Schlussurteil über die Kosten vom 20. Dezember 2019, das dem Entschädigungskläger am 3. Januar 2020 zugestellt wurde.
Rz. 9
Der Kläger hat geltend gemacht, das Ausgangsverfahren sei von dem Landgericht Göttingen nicht in angemessener Zeit verhandelt und abgeschlossen worden. Bereits die Gesamtverfahrensdauer von sieben Jahren und elf Monaten sei für sich genommen unangemessen lang. In dem Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis zum 30. November 2019 sei das Verfahren im Umfang von 77 Monaten rechtsstaatswidrig verzögert worden. Das Landgericht hätte keine Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen anordnen dürfen. Bei sorgfältiger Auswertung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren hätte das Landgericht zu dem Schluss kommen müssen, vom Erlass eines Beweisbeschlusses abzusehen. Der Einwand der Unschlüssigkeit der Klage und die erhobene Verjährungseinrede seien nicht beachtet worden. Davon abgesehen habe es keine verfahrensleitenden Maßnahmen zur Herbeiführung eines zügigen Verfahrensabschlusses getroffen und zeitweise das Verfahren gar nicht betrieben. Die aus seiner Sicht angemessene Entschädigung hat der Kläger in Höhe von 150 € für jeden Monat der Verzögerung beziffert (insgesamt 77 x 150 € = 11.550 €).
Rz. 10
Das beklagte Land ist dem entgegengetreten. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen zur Tragfähigkeit des Beteiligungssystems sei jedenfalls vertretbar gewesen. Die Bearbeitungszeit durch den Sachverständigen sei angesichts des Umfangs der Begutachtung nicht zu beanstanden. Dies gelte auch für die Zeit der Auswertung des Gutachtens durch das Landgericht. Der Kläger habe auch keinen immateriellen Nachteil erlitten, da das Ausgangsverfahren für ihn ohne besondere Bedeutung gewesen sei. Die Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG sei widerlegt.
Rz. 11
Das Oberlandesgericht hat das beklagte Land unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, an den Kläger eine Entschädigung von 6.426,61 € nebst Zinsen zu zahlen, und die Revision zugelassen. Beide Parteien haben gegen das Urteil Revision eingelegt. Der Kläger verfolgt mit der Revision (und inhaltlich identischer, vorsorglich hilfsweise erhobener Anschlussrevision) den auf Zahlung von 11.550 € nebst Zinsen gerichteten Klageantrag weiter. Das beklagte Land erstrebt mit der Revision die vollständige Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Rz. 12
Die Revision des Beklagten hat teilweise Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit das beklagte Land zur Zahlung eines über 1.200 € nebst Zinsen hierauf hinausgehenden Betrages verurteilt worden ist. Die Revision des Klägers ist unbegründet.
I.
Rz. 13
Die Revisionen sind zulässig.
Rz. 14
Im Tenor der angefochtenen Entscheidung wurde die Revisionszulassung uneingeschränkt ausgesprochen. Den Entscheidungsgründen lässt sich nicht mit der notwendigen Klarheit und Eindeutigkeit entnehmen, dass das Oberlandesgericht die Revision nur eingeschränkt zulassen wollte. Das Oberlandesgericht hat die Revision vielmehr gemäß § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG i.V.m. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zur Klärung der Frage zugelassen, ob bei der Beurteilung der Dauer eines Pilotverfahrens in einem "Massenverfahren" Besonderheiten hinsichtlich Anspruchsgrund und -höhe zu beachten seien. Den Entscheidungsgründen lässt sich auch nicht entnehmen, dass das Oberlandesgericht nur dem Beklagten Gelegenheit zur Überprüfung des Urteils geben wollte (vgl. Senat, Urteil vom 14. November 2013 - III ZR 376/12, BGHZ 199, 87 Rn. 8 mwN). Im Übrigen wäre angesichts der zusätzlich eingelegten Anschlussrevision des Klägers das Urteil auch dann auf Rechtsfehler zu seinem Nachteil zu überprüfen, wenn man den Gründen eine Beschränkung der Revisionszulassung für das beklagte Land entnehmen wollte.
II.
Rz. 15
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung (veröffentlicht in BeckRS 2021, 33442) im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 16
Die zulässige Klage sei teilweise begründet. Dem Kläger stehe gegen das beklagte Land gemäß § 198 Abs. 1 GVG ein Entschädigungsanspruch in Höhe von 6.426,61 € zu.
Rz. 17
Das Verfahren sei durch die Beweisaufnahme nicht unangemessen verzögert worden. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen sei gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO prozessual zulässig gewesen. Die Schlüssigkeit der Klage sei im Entschädigungsprozess ebenso wenig wie der Eintritt der Verjährung zu überprüfen, da die Beurteilung dieser Fragen zu dem privilegierten Kernbereich der richterlichen Tätigkeit des Ausgangsgerichts zur Schaffung einer Entscheidungsgrundlage gehöre. Dem Kläger sei auch nicht darin zu folgen, dass sämtliche Tatsachen- und Rechtsfragen bereits geklärt gewesen seien. Der Verweis auf in anderen Verfahren eingeholte Gutachten und ergangene Urteile sei insoweit unbehelflich, weil das Ausgangsgericht weder an die Rechtsansichten anderer Gerichte noch an die Entscheidungsgrundlagen aus anderen Verfahren gebunden sei, sondern in Ausübung richterlicher Unabhängigkeit selbst darüber zu befinden habe, welche Behauptungen es für streitig und beweisbedürftig erachte.
Rz. 18
Die Beanstandung des Klägers, das Ausgangsgericht habe keine hinreichenden Maßnahmen zur Verfahrensförderung ergriffen, sei nur zum Teil berechtigt. In dem Zeitraum vom 7. Juli 2017 bis zum 4. März 2019 sei es zu einer unangemessenen Verfahrensverzögerung von acht Monaten gekommen. Darüber hinaus sei keine Überlänge festzustellen.
Rz. 19
Den ersten Verfahrensabschnitt bis zur Durchführung der mündlichen Verhandlung vom 5. Juni 2013 rüge der Kläger selbst nicht als verzögert. Die Zeitspanne zwischen Erlass des Beweisbeschlusses vom 3. Juli 2013 bis zur Bestellung des Sachverständigen durch Beschluss vom 14. Januar 2014 sei ebenfalls nicht unangemessen lang gewesen. Die Suche nach einem geeigneten Sachverständigen sei aufgrund der Komplexität und des Umfangs des Begutachtungsgegenstandes anspruchsvoll gewesen. Es seien keine Zeiträume festzustellen, in denen das Landgericht das Verfahren nicht gefördert habe.
Rz. 20
Ebenso wenig sei der Begutachtungszeitraum bis zum 31. Mai 2016 unangemessen lang gewesen. Insbesondere lasse sich eine unangemessene Verfahrensdauer nicht daraus herleiten, dass das Landgericht dem Sachverständigen für die Fertigstellung des Gutachtens nicht von Anfang an eine Frist gesetzt habe. Die bis zum 14. Oktober 2016 geltende Fassung des § 411 Abs. 1 ZPO habe eine Fristsetzung nicht zwingend vorgeschrieben. Das Unterlassen einer Fristsetzung könne daher nur dann zu einer Zurechnung des verzögernden Verhaltens eines Sachverständigen führen, wenn das Gericht diesem gegenüber eine unvertretbare Nachsicht walten lasse (Hinweis auf Senat, Urteil vom 4. November 2010 - III ZR 32/10, BGHZ 187, 286 Rn. 22 [Amtshaftung]). Das sei vorliegend nicht festzustellen. Vielmehr habe das Landgericht ausreichende Anstrengungen unternommen, den Sachverständigen zu einem zeitnahen Abschluss der Begutachtung anzuhalten.
Rz. 21
Zutreffend rüge der Kläger allerdings, dass das Landgericht nach Eingang des Gutachtens am 31. Mai 2016 nicht zügig genug die Ergänzungsbegutachtung vorangetrieben habe. Bis zum Erlass des Vergütungsfestsetzungsbeschlusses vom 7. Juli 2017 seien zwar noch keine unvertretbaren Liegezeiten festzustellen. Danach sei das Verfahren jedoch bis zum Erlass des ergänzenden Beweisbeschlusses vom 4. März 2019 im Umfang von acht Monaten unangemessen lang gewesen, wobei eine Kompensation dieser Überlänge bis zur Verfahrensbeendigung nicht mehr eingetreten sei. Die äußerste Grenze für die vertretbare Auswertungszeit des Gutachtens liege - gerechnet ab der letzten inhaltlich verfahrensfördernden Handlung vom 7. Juli 2017 - bei (aufgerundet) zwölf Monaten. Tatsächlich habe das Landgericht jedoch ab dem 7. Juli 2017 insgesamt 20 Monate benötigt.
Rz. 22
Dem Kläger sei durch die unangemessene Verfahrensdauer nach der nicht widerlegten Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG ein immaterieller Nachteil entstanden. Hierfür stehe ihm eine Entschädigung in Höhe von 6.426,61 € zu. Eine anderweitige Wiedergutmachung als die Entschädigung in Geld sei vorliegend nicht ausreichend. Aufgrund der besonderen Umstände des Falles sei der in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG vorgesehene Regelsatz gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG zu erhöhen. In einem ersten Schritt sei zunächst nur das Ausgangsverfahren zu betrachten. Wegen dessen herausragender Bedeutung für den Kläger als Pilotverfahren für eine Vielzahl von Verfahren sowie wegen dessen rufschädigenden Charakters auf Grund der gegen den Kläger in dem Ausgangsverfahren erhobenen (deliktsrechtlichen) Vorwürfe sei der Regelsatz zu verdoppeln (insgesamt 1.600 € = 8 x 200 €). In einem zweiten Schritt sei die Zahl der hinzuverbundenen Verfahren zu berücksichtigen. Hierdurch hätten sich die Belastung des Klägers und damit die Bedeutung, die das Pilotverfahren für ihn gehabt habe, erhöht. Dabei sei allerdings zu bedenken, dass bei einer Vielzahl gleichgerichteter Schadensersatzforderungen die zusätzliche Belastung mit jedem weiteren Verfahren abnehme. Daher sei es unbillig, dem Kläger für jedes weitere Verfahren jeweils den Regelsatz zuzusprechen. Diesem Umstand werde dadurch Rechnung getragen, dass die 140 mit dem Pilotverfahren verbundenen Verfahren zu sieben "Verfahrensbündeln" zu je 20 Verfahren zusammengefasst würden und nur für das erste Verfahrensbündel der Regelsatz, für die folgenden Verfahrensbündel hingegen jeweils nur 95 % des für das vorangegangene Paket angesetzten Wertes veranschlagt werde (insgesamt 4.826,61 €). Anhand dieser Berechnungsmethode werde gewährleistet, dass nach § 198 GVG zuzusprechende Entschädigungsbeträge auch im Fall von Massenverfahren im Vergleich mit der Rechtsprechung zum Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) sowie mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhältnismäßig seien.
III.
Rz. 23
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht in allen Punkten stand.
Rz. 24
1. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zum Anspruchsgrund sind allerdings im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Rz. 25
a) Der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG setzt die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens voraus.
Rz. 26
aa) Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Diese in § 198 Absatz 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien sind zwar besonders bedeutsam, jedoch nur beispielhaft ("insbesondere") und nicht abschließend zu verstehen. Weitere gewichtige Beurteilungskriterien sind die Verfahrensführung durch das Gericht sowie die zur Verfahrensbeschleunigung gegenläufigen Rechtsgüter. Darunter fallen vor allem die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gewährleistung der inhaltlichen Richtigkeit von Entscheidungen sowie die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und des gesetzlichen Richters. Dadurch wird sichergestellt, dass die Verfahrensbeschleunigung nicht zum Selbstzweck wird (st. Rspr.; zB Senat, Urteile vom 14. November 2013 - III ZR 376/12, BGHZ 199, 87 Rn. 25, 33; vom 13. Februar 2014 - III ZR 311/13, NJW 2014, 1183 Rn. 26; vom 12. Februar 2015 - III ZR 141/14, BGHZ 204, 184 Rn. 24 f und vom 13. April 2017 - III ZR 277/16, NJW 2017, 2478 Rn. 16).
Rz. 27
bb) Dem Gericht muss in jedem Fall eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen Rechnung trägt. Abgesehen von zwingenden gesetzlichen Vorgaben besteht ein Ermessen des verantwortlichen Richters hinsichtlich der Verfahrensgestaltung. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Der Rechtsuchende hat keinen Anspruch auf eine optimale Verfahrensförderung. Demgemäß wird die Verfahrensführung des Richters im nachfolgenden Entschädigungsprozess - entsprechend den vom Senat im Amtshaftungsprozess entwickelten Grundsätzen (vgl. Urteil vom 4. November 2010 - III ZR 32/10, BGHZ 187, 286 Rn. 14) - nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft. Letztere darf nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist. Dabei ist darauf abzustellen, wie das Ausgangsgericht die Lage aus seiner Sicht ex ante einschätzen durfte. Unvertretbar ist es, wenn ein entscheidungsreifes Verfahren nicht mehr gefördert wird und sich die "Tätigkeit" des Gerichts auf ein Liegenlassen der Akten beschränkt. Eine nach der jeweiligen Prozessordnung vertretbare Verfahrensleitung begründet dagegen auch dann keinen Entschädigungsanspruch, wenn sie zu einer Verlängerung des Gerichtsverfahrens geführt hat (st. Rspr.; siehe nur Senat, Urteile vom 5. Dezember 2013 - III ZR 73/13, BGHZ 199, 190 Rn. 45 f; vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 26, 32 und vom 13. April 2017 aaO; jew. mwN).
Rz. 28
Im Entschädigungsprozess findet, wie der Senat bereits mehrfach ausgesprochen hat (Urteile vom 13. März 2014 - III ZR 91/13, NJW 2014, 1816 Rn. 34 und vom 13. April 2017 aaO Rn. 16), keine Überprüfung der rechtlichen Überlegungen statt, die der Richter seiner Entscheidungsfindung zugrunde gelegt hat. Da hier der Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit betroffen ist, darf die Rechtsauffassung des Richters - abgesehen von aus der ex ante-Perspektive eklatanten Rechtsanwendungsfehlern - im Entschädigungsprozess grundsätzlich nicht auf ihre sachliche Richtigkeit überprüft werden. Die Grenze zwischen Angemessenheit der Verfahrensdauer und Richtigkeit der Rechtsanwendung darf nicht verwischt werden. Denn in dem Bewusstsein, dass richterliche Entscheidungen fehlerhaft sein können, stellen die Verfahrensordnungen dem Rechtsschutzsuchenden gerade Rechtsmittel zur Verfügung, die der Überprüfung und Korrektur von Entscheidungen dienen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine richterliche Entscheidung nicht selten auf der Grundlage eines Bewertungs- und Abwägungsprozesses getroffen wird, der je nach Gewichtung einzelner Kriterien anders ausfallen kann. Aus diesem Grund kann nicht jede (tat-)richterliche Entscheidung, welche für rechtsfehlerhaft gehalten wird, als Verletzung der Verfahrensgarantie angesehen werden. Der Entschädigungskläger kann daher regelmäßig nicht damit gehört werden, dass die Einholung eines Gutachtens überflüssig gewesen sei und die Klage bei zutreffender rechtlicher Würdigung durch die erste Instanz schon nach dem ersten Termin hätte abgewiesen werden können und müssen (vgl. Lorenz, Die Dogmatik des Entschädigungsanspruchs aus § 198 GVG, 2018, S. 176 ff; Reiter, Ad Legendum 2015, 151, 152; Schlick in Festschrift Tolksdorf, 2014, S. 549, 555; ders. WM 2016, 485, 488).
Rz. 29
cc) Soweit die Revision des Klägers die Vertretbarkeit als Maßstab für die Beurteilung der richterlichen Verfahrensführung im Entschädigungsprozess insbesondere bei "Pilotverfahren" im Zusammenhang mit Massenverfahren für verfehlt erachtet, überzeugt dies nicht. Die dargestellten Grundsätze zu den Grenzen der richterlichen Verfahrensführung anhand des Maßstabs der Vertretbarkeit widersprechen weder dem Wortlaut noch dem Zweck des § 198 Abs. 1 GVG. Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG auf die Umstände des Einzelfalles an, wozu insbesondere auch die Verfahrensführung durch das Gericht gehört. Die zwischen § 839 BGB und § 198 GVG bestehenden dogmatischen Unterschiede rechtfertigen keinen divergierenden Maßstab bei der Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Denn es geht in beiden Fällen um dasselbe verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot effektiven Rechtsschutzes und der richterlichen Unabhängigkeit. Diesbezüglich einen unterschiedlichen Prüfungsmaßstab anzulegen, wäre widersprüchlich (vgl. Lorenz aaO S. 174, 179). Durch die nur eingeschränkte Überprüfbarkeit der richterlichen Verfahrensführung auf ihre Vertretbarkeit wird dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes auf der einen Seite und dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit auf der anderen Seite ausgewogen Rechnung getragen. Die Auslegung und Anwendung der Entschädigungsregelung des § 198 GVG darf nicht dazu führen, dass gerichtliche Verfahren auf Kosten der inhaltlichen Richtigkeit der getroffenen Entscheidung vorschnell beendet werden. Für "Musterverfahren" oder "Pilotverfahren" gelten insoweit keine Besonderheiten.
Rz. 30
b) Ein Verfahren dauert unangemessen lang im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG (Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter) ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Die Verfahrensdauer muss insgesamt eine Grenze überschreiten, die sich für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt (Senat, Urteile vom 14. November 2013 aaO Rn. 28 ff; vom 5. Dezember 2013 aaO Rn. 36 ff; vom 23. Januar 2014 aaO Rn. 35 ff und vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 27; jew. mwN). Dabei ist stets in den Blick zu nehmen, dass sich mit zunehmender Verfahrensdauer die gerichtliche Pflicht verdichtet, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen (vgl. nur Senat, Urteile vom 4. November 2010 aaO Rn. 11; vom 14. November 2013 aaO Rn. 30; vom 5. Dezember 2013 aaO Rn. 41; vom 23. Januar 2014 aaO Rn. 37 und vom 12. Februar 2015 aaO).
Rz. 31
c) Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer hat der Tatrichter einen Beurteilungsspielraum. Das Revisionsgericht ist darauf beschränkt zu überprüfen, ob das Oberlandesgericht den rechtlichen Rahmen verkannt beziehungsweise Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und angemessen abgewogen worden sind (Senat, Urteile vom 14. November 2013 aaO Rn. 34 und vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 28).
Rz. 32
d) Nach diesen Maßstäben hält die Beurteilung des Oberlandesgerichts, das Ausgangsverfahren weise im Umfang von acht Monaten eine unangemessene Dauer auf, den Angriffen der Revisionen der Parteien im Ergebnis stand.
Rz. 33
aa) Allerdings beträgt die Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens als maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts nicht sieben Jahre und zehneinhalb Monate, sondern - wie die Revision des Beklagten zu Recht rügt - lediglich sieben Jahre und acht Monate. Das Ausgangsverfahren für den jetzigen Kläger und damaligen Beklagten begann mit Zustellung der Klageschrift am 27. Februar 2012 (vgl. Gohde, Der Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer nach §§ 198 ff. GVG, 2020, S. 150 f). Es war aber nicht erst mit Rechtskraft der Kostenentscheidung, sondern bereits mit der Zustimmung des jetzigen Klägers zur Klagerücknahme beendet.
Rz. 34
Nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG erfasst der Begriff des Gerichtsverfahrens alle Verfahrensstadien von der Einleitung bis zur rechtskräftigen Entscheidung, wobei über den Wortlaut der Vorschrift hinaus neben den rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens die anderweitige Erledigung des Verfahrens tritt, wenn aus prozessualen Gründen eine förmliche Entscheidung nicht (mehr) geboten ist. Das Gesetz geht von einem an der Hauptsache orientierten Begriff des Gerichtsverfahrens aus, so dass - von der Ausnahme des eröffneten Insolvenzverfahrens abgesehen - nicht jeder einzelne Antrag oder jedes einzelne Gesuch als gesondertes Gerichtsverfahren anzusehen ist (Senat, Urteile vom 5. Dezember 2013 aaO Rn. 20 f und vom 13. April 2017 aaO Rn. 11).
Rz. 35
Nach Klagerücknahme durch die Anleger mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2019 war im Ausgangsverfahren eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr veranlasst. Da bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte, war für die Wirksamkeit der Klagerücknahme gemäß § 269 Abs. 1 ZPO die Einwilligung des Entschädigungsklägers erforderlich, wobei die Möglichkeit bestand, diese gemäß § 269 Abs. 2 Satz 4 ZPO fiktiv herbeizuführen. Maßgebend für die Berechnung der Gesamtverfahrensdauer ist vorliegend, dass der Kläger seine Zustimmung mit einem am 5. November 2019 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz erklärte. Die entschädigungsrelevante Dauer des Ausgangsverfahrens beträgt somit sieben Jahre und acht Monate (27. Februar 2012 bis 5. November 2019).
Rz. 36
bb) Die Würdigung des Oberlandesgerichts, dass die Verfahrensdauer bis zur Verkündung des Beweisbeschlusses vom 3. Juli 2013 nicht unangemessen sei, wird von der Revision des Klägers nicht angegriffen und lässt auch sonst Rechtsfehler nicht erkennen.
Rz. 37
cc) Ebenso hält die Würdigung des Oberlandesgerichts, dass die Verfahrensdauer bis zum Eingang des Sachverständigengutachtens bei Gericht am 31. Mai 2016 nicht zu beanstanden sei, der rechtlichen Überprüfung stand.
Rz. 38
(1) Zutreffend hat das Oberlandesgericht es abgelehnt, im Entschädigungsprozess die Erforderlichkeit der angeordneten Beweisaufnahme zu überprüfen. Da die Anordnung einer Beweisaufnahme darauf gerichtet ist, die Grundlagen für die Sachentscheidung zu gewinnen, betrifft sie den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit (vgl. Senat, Urteil vom 4. November 2010 aaO Rn. 13). Dementsprechend oblag die Beurteilung der Verjährungseinrede und der Frage, ob eine Beweisaufnahme über die der Verjährungseinrede zugrundeliegenden Tatsachenbehauptungen zu einer schnelleren Beendigung des Ausgangsverfahrens hätte führen können, allein dem Ausgangsgericht. Im Hinblick auf den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit war es dem Oberlandesgericht im Entschädigungsprozess verwehrt, seine eigene Würdigung an die Stelle derjenigen des Ausgangsgerichts zu setzen. Aus demselben Grund hatte das Oberlandesgericht auch nicht zu überprüfen, ob das Ausgangsgericht die Beweisaufnahme durch Auswertung der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft sowie der bereits in anderen Zivilverfahren eingeholten Gutachten hätte vermeiden oder in ihrem Umfang reduzieren können. Erst recht war das Oberlandesgericht nicht zur Einholung einer amtlichen Auskunft gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO darüber verpflichtet, ob das Landgericht vor Erlass des Beweisbeschlusses die Schlüssigkeit der Klage und die Verjährung der Klageansprüche (hinreichend) geprüft habe. Die gegenteilige Auffassung des Klägers verkennt das Wesen der gemäß Art. 97 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten richterlichen Unabhängigkeit grundlegend.
Rz. 39
(2) Die Beauftragung desselben Sachverständigen mit der Erstellung sowohl des Gutachtens zur Hauptserie als auch des Gutachtens zur L. -Serie hat das Oberlandesgericht zu Recht nicht beanstandet. Insoweit übte das Landgericht ebenfalls zumindest in vertretbarer Weise seine verfahrensgestaltenden Befugnisse aus. Wie auch die Revision des Klägers nicht verkennt, war es nur durch die gemeinsame Begutachtung in beiden Pilotverfahren möglich, die ganze "Fallbreite" der zahlreichen Schadensersatzklagen gegen den Kläger abzudecken. Zur Bewältigung solcher Massenverfahren ist nicht nur die Auswahl und vorrangige Betreibung von "Musterverfahren" oder "Pilotverfahren", sondern auch die gemeinsame Begutachtung inhaltlich zusammenhängender Pilotverfahren regelmäßig vernünftig und zweckmäßig, um dadurch Synergieeffekte zu erzielen und Rechtsfragen von zentraler Bedeutung verfahrensübergreifend auf prozessökonomische Weise zu klären (vgl. Senat, Urteil vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 32 f). Die Entscheidung, ein "Pilotverfahren" durchzuführen, gehört ebenso zu den verfahrensgestaltenden Befugnissen eines Gerichts wie die Beauftragung desselben Sachverständigen in vergleichbar gelagerten Verfahren.
Rz. 40
Soweit die Revision des Klägers meint, das Ausgangsverfahren sei durch die Anordnung der gemeinsamen Begutachtung im Umfang von zwei Jahren unangemessen verzögert worden, trifft dies bereits im Ansatz nicht zu. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts hat der Sachverständige das Gutachten zur Hauptserie rund zwei Jahre nach seiner Beauftragung fertiggestellt. Diese Ausarbeitungszeit kam zugleich der Begutachtung im Ausgangsverfahren zugute. Die Revision des Klägers räumt selbst ein, dass durch die einheitliche Begutachtung Synergieeffekte erzielt worden seien, weil das Gutachten zur L. -Serie aus dem Gutachten zur Hauptserie entwickelt worden sei. Ohne diese Synergieeffekte wäre es dem Sachverständigen angesichts des Umfangs und der Komplexität des Gutachtenauftrags schwerlich möglich gewesen, dem Landgericht das Gutachten zur L. -Serie nur rund drei Monate nach Fertigstellung des Gutachtens zur Hauptserie zuzuleiten.
Rz. 41
(3) Die Würdigung des Oberlandesgerichts, die Erstellungsdauer des Gutachtens durch den Sachverständigen S. habe das Verfahren nicht unangemessen verzögert, ist ebenfalls frei von Rechtsfehlern.
Rz. 42
(a) Durch einen Sachverständigen verursachte Verfahrensverzögerungen führen nur dann zu einer Entschädigungspflicht nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn das Verhalten des Sachverständigen dem Ausgangsgericht zugerechnet werden kann. Für den Entschädigungsanspruch kommt es zwar auf ein schuldhaft pflichtwidriges Verhalten des mit der Sache befassten Richters oder eines sonstigen Angehörigen der Justiz - anders als bei der Amtshaftung - nicht an (Senat, Urteil vom 7. November 2019 - III ZR 17/19, BGHZ 224, 20 Rn. 22). Das ändert jedoch nichts daran, dass der gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG zu ersetzende Nachteil durch Verfahrensverzögerungen verursacht worden sein muss, die im Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers begründet liegen (vgl. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, BT-Drucks. 17/3802, S. 18 f). Für Nachteile, die durch außerhalb des Verantwortungs- und Einflussbereichs des Staates eingetretene Verfahrensverzögerungen entstanden sind, wird keine Entschädigung geleistet. Die Tätigkeit von Sachverständigen unterliegt nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich. Das gilt unabhängig davon, ob die Einholung eines Sachverständigengutachtens auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen erfolgt. Die Anordnung der Begutachtung von Amts wegen (zB nach § 144 Abs. 1 ZPO) gewährt dem Gericht keine größeren Einflussmöglichkeiten auf die Tätigkeit des Sachverständigen. Daher wird eine unangemessene Begutachtungsdauer dem staatlichen Verantwortungsbereich nur dann zugeordnet, wenn das Gericht gegenüber einem säumigen Sachverständigen sich unangemessen nachsichtig gezeigt und von der Ergreifung der ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Maßnahmen abgesehen hat, um diesen zu einer zügigen Begutachtung anzuhalten (BT-Drucks. 17/3802 aaO, S. 18; BeckOGK/Dörr, BGB, § 839 Rn. 1297 [Stand: 1. November 2022]; Gohde aaO S. 97 f mwN; Reiter, Ad Legendum 2015, 151, 154; ders. NJW 2015, 2554, 2558; siehe auch Senat, Urteil vom 4. November 2010 aaO Rn. 22 zum Amtshaftungsprozess).
Rz. 43
(b) Nach diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht zu Recht davon ausgegangen, dass in dem Zeitraum, in welchem das Landgericht die Erstellung des Gutachtens abgewartet hat, keine entschädigungsrechtlich relevante Liegezeit zu sehen ist. Angesichts der Komplexität des Gutachtenauftrags (Klärung schwieriger betriebswirtschaftlicher Fragen im Rahmen eines Unternehmensverbundes, Vielzahl von Beiakten) war die vom Landgericht ursprünglich zugestandene Bearbeitungsdauer von 14 Monaten nicht unangemessen. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts hat das Landgericht auch ausreichende Anstrengungen unternommen, um den Sachverständigen zu einer zeitnahen Begutachtung anzuhalten. Für die Überschreitung der ursprünglich avisierten Begutachtungsdauer lagen Sachgründe vor (erhöhter Begutachtungsaufwand auf Grund nachgereichter Unterlagen der klagenden Anleger, Erkrankung des Sachverständigen). Auf die durch die schwerwiegende Erkrankung eines nahen Familienangehörigen des Sachverständigen verursachte Verzögerung der Begutachtung hat das Landgericht schließlich mit einer durch Beschluss vom 29. Februar 2016 erfolgten angemessenen Fristsetzung nach § 411 Abs. 1 ZPO reagiert.
Rz. 44
Der Einwand der Revision des Klägers, das Landgericht hätte dem Sachverständigen für die Fertigstellung des Gutachtens von Anfang an eine Frist setzen müssen, ist nicht berechtigt. Es trifft zwar zu, dass dem Gericht die verzögerte Erstattung eines Sachverständigengutachtens aufgrund des Unterlassens einer Fristsetzung gemäß § 411 Abs. 1 ZPO zuzurechnen sein kann (Zöller/Lückemann, ZPO, 34. Aufl., § 198 GVG Rn. 3 aE). Das Oberlandesgericht ist aber zu Recht davon ausgegangen, dass vorliegend angesichts der Verständigung zwischen dem Landgericht und dem Sachverständigen über die voraussichtliche Bearbeitungsdauer eine sofortige Fristsetzung nicht geboten war. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass es gemäß § 411 Abs. 1 ZPO in der bis zum 14. Oktober 2016 geltenden Fassung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts lag, dem Sachverständigen für die Erstellung eines Gutachtens eine Frist zu setzen. Davon abgesehen vermag das Unterlassen einer Fristsetzung für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens eine unangemessene Verfahrensdauer dann nicht zu begründen, wenn für die Verzögerung - wie hier - sachgerechte Gründe vorliegen, so dass auch bei einer Fristsetzung nicht mit einer schnelleren Erstattung des Gutachtens zu rechnen gewesen wäre (vgl. BSGE 124, 136 Rn. 41 aE).
Rz. 45
Soweit die Revision des Klägers geltend macht, das Landgericht habe nicht angemessen auf den ungewöhnlichen Begutachtungsaufwand von 8.000 Arbeitsstunden reagiert, hat das Oberlandesgericht diesen Einwand zu Recht als unsubstantiiert zurückgewiesen. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in dem angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (OLGU 65 ff).
Rz. 46
dd) Schließlich ist auch nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht die Verfahrensdauer nach Eingang des Sachverständigengutachtens am 31. Mai 2016 im Umfang von acht Monaten als überlang beurteilt hat.
Rz. 47
(1) Der Einwand der Revision des Klägers, das Oberlandesgericht habe bei der Beurteilung der Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch, die Festsetzung der Sachverständigenvergütung und die Auswertung des Sachverständigengutachtens unberücksichtigt gelassen, dass sich die gerichtliche Pflicht zur Förderung und Beendigung des Verfahrens mit zunehmender Verfahrensdauer verdichte, trifft nicht zu. Dieser Gesichtspunkt wird in dem angegriffenen Urteil mehrfach und insbesondere - auch unter Berufung auf die Senatsrechtsprechung (Urteile vom 4. November 2010 aaO Rn. 11, 14 sowie vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 27) - in unmittelbarem Zusammenhang mit der Beurteilung der vorgenannten Verfahrensabschnitte berücksichtigt und angemessen gewürdigt (zB OLGU 69 Abs. 4; OLGU 74 f).
Rz. 48
(2) Vergeblich wendet sich die Revision des beklagten Landes gegen die Wertung des Oberlandesgerichts, die nach der Entscheidung über die Sachverständigenvergütung vom 7. Juli 2017 erfolgte und mit dem ergänzenden Beweisbeschluss vom 4. März 2019 endende Auswertung des Sachverständigengutachtens sei im Umfang von acht Monaten (bezogen auf einen Zeitraum von 20 Monaten) überlang gewesen. Das Oberlandesgericht hat diese Feststellung unter Berücksichtigung und angemessener Abwägung aller für die Beurteilung der Verfahrensdauer wesentlichen Umstände rechtsfehlerfrei getroffen.
Rz. 49
(a) Der überdurchschnittlichen Komplexität des Ausgangsverfahrens hat das Oberlandesgericht dadurch Rechnung getragen, dass es dem Landgericht für die Auswertung des Sachverständigengutachtens eine ausgiebige Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit von zwölf Monaten zugebilligt hat. Den Zeitraum von zwölf Monaten hat das Oberlandesgericht durch einen Vergleich zum einen mit der vierzehnmonatigen Dauer des Verfahrensabschnitts von der Klagezustellung bis zur Terminsverfügung vom 8. Mai 2013 und zum anderen mit der den Parteien für die Stellungnahme zu dem Sachverständigengutachten eingeräumten Frist von fünfeinhalb Monaten ermittelt. Es habe dem Landgericht grundsätzlich möglich sein müssen, das Gutachten innerhalb derselben Zeit wie die Parteien auszuwerten, wobei für die Auswertung der umfangreichen Stellungnahmen der Parteien allerdings eine zusätzliche Zeitspanne anzusetzen sei. Diese Beurteilung hält sich im Rahmen tatrichterlicher Würdigung und ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Rz. 50
Entgegen der Auffassung der Revision des beklagten Landes hat das Oberlandesgericht mit der Feststellung, das Landgericht sei in der Phase der Auswertung des Gutachtens durch andere Verfahren - mit Ausnahme des Pilotverfahrens der Hauptserie - nicht nennenswert belastet und abgelenkt gewesen, nicht in gehörswidriger Weise "unterstellt", dass die 2. Zivilkammer des Landgerichts während der Auswertung des Gutachtens außer den beiden Pilotverfahren zur "Göttinger Gruppe" keine anderen Verfahren zu bearbeiten gehabt habe. Die Feststellung zielte darauf ab, dass die 2. Zivilkammer in der Auswertungsphase nicht mehr wie zuvor im Rahmen des ersten Verfahrensabschnitts mit der verfahrenstechnischen Bewältigung der Vielzahl der zur Haupt- und zur L. -Serie gehörenden Verfahren belastet gewesen sei. Aus diesem Zusammenhang folgt, dass sich die "anderen Verfahren" nicht auf den gesamten Kammerbestand, sondern lediglich auf die übrigen Verfahren der Haupt- und der L. -Serie beziehen, die zu den beiden Pilotverfahren zwecks gemeinsamer Beweisaufnahme hinzuverbunden worden waren. Davon abgesehen hat das Oberlandesgericht dem Umstand, dass das Landgericht neben dem Ausgangsverfahren noch andere Verfahren zu bearbeiten hatte, hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass es dem Landgericht für die Auswertung des Gutachtens die beträchtliche Bearbeitungszeit von zwölf Monaten zugebilligt hat. Aus dem Gesamtzusammenhang der von der Revision beanstandeten Formulierungen (zB OLGU 73 Abs. 2, 80 Abs. 2, 81 Abs. 4, 82 Abs. 1, 3, 86 Abs. 2) mit dem übrigen Urteilsinhalt ergibt sich somit lediglich, dass das Landgericht angesichts der beträchtlichen Verfahrensdauer gehalten war, seine Tätigkeit auf die beiden Pilotverfahren zu konzentrieren und "zuvörderst" die eingegangenen Gutachten auszuwerten. Dass daneben keine weiteren Verfahren zu bearbeiten waren, folgt daraus nicht. Verneint wurde lediglich eine "akute Belastung" mit anderen Verfahren.
Rz. 51
(b) Die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass das Ausgangsverfahren als Pilotverfahren von ungefähr 140 Verfahren für den Kläger von besonderer Bedeutung gewesen sei, an dessen zügigem Abschluss er wegen drohender Rufschädigung sowie im Hinblick auf sein fortgeschrittenes Alter ein hohes Interesse gehabt habe, stellt ebenfalls eine vertretbare tatrichterliche Würdigung dar.
Rz. 52
Der Einwand der Revision des Beklagten, das Ausgangsverfahren sei für den Kläger bedeutungslos gewesen, da bei dem Landgericht gegen ihn seinerzeit Rechtsstreitigkeiten anhängig gewesen seien, in denen er auf Zahlung von insgesamt 92.057.381,17 € in Anspruch genommen worden sei, wovon mehr als 80.000.000 € auf die Hauptserie entfallen seien, so dass es für den Kläger ohne Belang gewesen sei, zusätzlich auf die Zahlung von "weniger als 10.000.000 €" in der L. -Serie in Anspruch genommen zu werden, ist verfehlt. Die von der Revision angeführten Größenordnungen belegen vielmehr, dass die in der L. -Serie gegen den Kläger geltend gemachten Forderungen in ihrer Summe beträchtlich waren und der Ausgang des Pilotverfahrens der L. -Serie daher für die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers von erheblicher Bedeutung war. Der Umstand, dass gegen ihn daneben eine weitere Verfahrensserie mit einer noch viel höheren Gesamtforderungshöhe anhängig war, ändert daran nichts.
Rz. 53
(c) Dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten hat das Oberlandesgericht für den vom 7. Juli 2017 bis zum 4. März 2019 dauernden Verfahrensabschnitt zu Recht keine entschädigungsrechtliche Bedeutung beigemessen. Soweit die Revision des Beklagten geltend macht, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens durch Fristverlängerungsanträge, Einwände gegen den Beweisbeschluss sowie Ablehnungsgesuche erheblich zur Verfahrensdauer beigetragen hätten und dieses Verhalten nicht dem Landgericht zugerechnet werden könne, sind andere Verfahrensabschnitte betroffen, für die das Oberlandesgericht gerade keine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt hat. Den umfangreichen Stellungnahmen der Parteien zu dem Sachverständigengutachten hat das Oberlandesgericht bei Bemessung der dem Landgericht zugebilligten Bearbeitungszeit von zwölf Monaten ausreichend Rechnung getragen.
Rz. 54
(d) Die weitere Rüge der Revision des Beklagten, das Oberlandesgericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, das Landgericht hätte nach Eingang der Gutachten in den beiden Pilotverfahren (am 24. Februar 2016 und 31. Mai 2016) nicht vorrangig das Pilotverfahren der Hauptserie (2 O 1802/07) bearbeiten dürfen, sondern gleichrangig das Pilotverfahren der L. -Serie (2 O 1136/11) bearbeiten müssen, greift ebenfalls nicht durch.
Rz. 55
Sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, muss das Gericht zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festlegen (BVerfG, NJW 2013, 3630 Rn. 32). Zu diesem Zweck wird ihm - wie oben bereits ausgeführt - ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind. Die besonders intensive Befassung mit einem in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht schwierig erscheinenden Verfahren führt zwangsläufig dazu, dass während dieser Zeit die Förderung anderer diesem Richter zugewiesener Verfahren vorübergehend zurückstehen muss (Senat, Urteil vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 33).
Rz. 56
Von diesen Grundsätzen ist auch das Oberlandesgericht ausgegangen. Es hat ausdrücklich festgestellt, dass es aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den Verfahren der Haupt- und der L. -Serie nicht ermessensfehlerhaft oder sachfremd gewesen sei, dass sich das Landgericht zunächst der Auswertung des in dem Pilotverfahren der Hauptserie eingeholten Gutachtens zugewandt habe (OLGU 84 Abs. 3). Angesichts dieser Feststellung kann keine Rede davon sein, dass das Oberlandesgericht die vorrangige Auswertung des in dem Pilotverfahren der Hauptserie eingeholten Gutachtens für unvertretbar gehalten habe.
Rz. 57
(e) Anders als die Revision des Beklagten meint, ist der Umstand, dass der Kläger erstmals am 24. Oktober 2017 eine Verzögerungsrüge erhoben hat, für die Beurteilung der Verfahrensdauer ohne Bedeutung.
Rz. 58
Für den in § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG bestimmten Zeitpunkt ist maßgeblich, wann ein Betroffener erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Ausgangsverfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt. Auf ein rein subjektives Empfinden des Verfahrensbeteiligten kommt es hierbei nicht an. Vielmehr müssen objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtungsweise geeignet sind, zu einer unangemessenen Verfahrensdauer zu führen, ohne dass ein allzu strenger Maßstab angelegt werden darf (Senat, Urteil vom 26. November 2020 - III ZR 61/20, BGHZ 227, 377 Rn. 21 mwN). Wird die Verzögerungsrüge wirksam erhoben, so ist es grundsätzlich unerheblich, wann sie nach dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG bestimmten Zeitpunkt eingelegt worden ist. Das Entschädigungsgericht hat dann die Angemessenheit der Verfahrensdauer insgesamt zu überprüfen und bei Vorliegen einer Überlänge den Betroffenen vollständig zu entschädigen (Senat aaO Rn. 23). Dass der Kläger die Verzögerungsrüge verfrüht oder rechtsmissbräuchlich verspätet eingelegt hat, ist angesichts der Feststellung des Oberlandesgerichts, dass im Rügezeitpunkt aus Sicht des Klägers seit rund drei Monaten eine Untätigkeit des Landgerichts vorgelegen habe, auszuschließen.
Rz. 59
e) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG widerleglich vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Das Oberlandesgericht hat zu Recht angenommen, dass das beklagte Land diese Vermutung nicht gemäß § 292 Satz 1 ZPO widerlegt hat.
Rz. 60
Als immaterielle Folgen eines überlangen Verfahrens kommen neben der "seelischen Unbill" durch die lange Verfahrensdauer vor allem körperliche Beeinträchtigungen oder Rufschädigungen und - in Sorge- oder Umgangsrechtsstreitigkeiten - die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil in Betracht (Senat, Urteile vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 39 mwN und vom 13. April 2017 aaO Rn. 19). Die Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG ist widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der von dem Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer Gesamtbewertung der Folgen, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat, die Überzeugung gewinnt, dass die (unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat. Die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen eines immateriellen Nachteils trägt der Beklagte, dem allerdings, da es sich um einen Negativbeweis handelt, die Grundsätze der sekundären Darlegungslast zugutekommen können (Senat, Urteile vom 12. Februar 2015 aaO Rn. 41 und vom 13. April 2017 aaO Rn. 21; jew. mwN).
Rz. 61
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Oberlandesgericht zu Recht einen immateriellen Nachteil des Klägers bejaht. Nach den in der angefochtenen Entscheidung getroffenen Feststellungen hat der Kläger seiner sekundären Darlegungslast durch den bereits im Rahmen seiner Verzögerungsrüge vom 24. Oktober 2017 gehaltenen und im Entschädigungsverfahren vertieften Vortrag genügt. Darin hat er auf das existenzgefährdende Ausmaß der gegen ihn in der L. -Serie geltend gemachten Ansprüche, die mit der überlangen Verfahrensdauer einhergehenden physischen und psychischen Belastungen und sein fortgeschrittenes Alter von damals 70 beziehungsweise 72 Jahren hingewiesen und zudem geltend gemacht, dass er aufgrund des gegen ihn erhobenen Vorwurfs des Kapitalanlagebetrugs einen Rufschaden erlitten habe, der durch die sich ständig wiederholende Medienberichterstattung fortwährend vertieft werde und ihn zusätzlich in seiner beruflichen und wirtschaftlichen Existenz bedrohe.
Rz. 62
Weiter ist das Oberlandesgericht zu Recht davon ausgegangen, dass das beklagte Land die Vermutung eines immateriellen Nachteils des Klägers nicht durch den Vortrag widerlegt hat, dass das Ausgangsverfahren für den Kläger angesichts des in dem Verfahrenskomplex "Göttinger Gruppe" insgesamt gegen ihn geltend gemachten Betrages von 92.057.381,17 € bedeutungslos gewesen sei. Insoweit hat das Oberlandesgericht zutreffend ausgeführt, dass das Ausgangsverfahren als richtungsweisendes Pilotverfahren für den Kläger von entscheidender Bedeutung gewesen sei und sich das beklagte Land für seine Auffassung nicht auf das Senatsurteil vom 12. Februar 2015 (aaO Rn. 43) berufen könne, weil in dem dort zugrundeliegenden Sachverhalt nicht die Verfahrensdauer eines Pilotverfahrens, sondern eines aus dem Gesamtkomplex "Göttinger Gruppe" zufällig "gegriffenen" Verfahrens zu beurteilen gewesen sei.
Rz. 63
Die Revision des Beklagten dringt auch nicht mit dem Einwand durch, dass eine etwaige Verfahrensverzögerung sich jedenfalls nicht zum Nachteil des Klägers ausgewirkt habe, weil nicht davon ausgegangen werden könne, dass der um acht Monate frühere Erlass des ergänzenden Beweisbeschlusses zu einer Abkürzung des Ausgangsverfahrens geführt hätte; insoweit sei weder vom Oberlandesgericht festgestellt noch sonst ersichtlich, dass die Klage in diesem Fall zu einem früheren Zeitpunkt zurückgenommen worden wäre. Die Frage, wie sich ein überlanges Verfahren ausgewirkt hat, ist nicht anhand eines hypothetischen, sondern allein anhand des tatsächlichen Kausalverlaufs zu beurteilen (BFHE 243, 151 Rn. 38).
Rz. 64
2. Soweit das Oberlandesgericht dem Kläger eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von 6.426,61 € zugesprochen hat, hält das angefochtene Urteil einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 65
a) Allerdings ist das Oberlandesgericht ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass der gesetzliche Regelsatz (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG zu erhöhen ist.
Rz. 66
aa) § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG sieht zur Bemessung der Höhe der Entschädigung für immaterielle Nachteile einen Regelsatz in Höhe von 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung vor. Ist dieser Betrag nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. Mit der Pauschalierung in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG unter Verzicht auf einen einzelfallbezogenen Nachweis sollen Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung, die eine zusätzliche und unnötige Belastung für die Gerichte bedeuten würden, vermieden und zugleich eine zügige Erledigung der Entschädigungsansprüche im Interesse der Betroffenen ermöglicht werden. Im Hinblick auf den eine Verfahrensvereinfachung anstrebenden Gesetzeszweck ist der Tatrichter nur bei Vorliegen besonderer Umstände gehalten, von dem normierten Pauschalsatz aus Billigkeitserwägungen abzuweichen. Es stünde mit dem Sinn der Pauschalierung nicht in Einklang, wenn die mit der Natur eines Verfahrens typischerweise einhergehenden Folgen einer überlangen Verfahrensdauer - wie zum Beispiel eine besondere emotionale Betroffenheit - stets als eine Besonderheit angesehen würden, die eine Abweichung vom Pauschal-satz rechtfertigt. Vielmehr muss sich das zu beurteilende Verfahren durch eine oder mehrere entschädigungsrelevante Besonderheiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht von anderen Verfahren dieser Art abheben, so dass die konkreten Auswirkungen der überlangen Verfahrensdauer die Pauschalhöhe als unbillig erscheinen lassen. Eine solche sich von anderen Verfahren abhebende entschädigungsrelevante Besonderheit kann sich aus der herausragenden Bedeutung des Ausgangsverfahrens für die Verfahrensbeteiligten und den damit korrespondierenden - über die verfahrenstypischen Folgen hinausgehenden - nachteiligen Auswirkungen der überlangen Verfahrensdauer ergeben (Senat, Urteil vom 6. Mai 2021 - III ZR 72/20, BGHZ 230, 14 Rn. 17 ff m. zahlr. w.N.).
Rz. 67
bb) Die Prüfung einer Abweichung vom gesetzlichen Pauschalsatz aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles obliegt grundsätzlich dem Tatrichter, der über die Entschädigungsklage entscheidet. Bei der Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter den unbestimmten Rechtsbegriff der Unbilligkeit gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG hat das Revisionsgericht den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum zu respektieren und ist in seiner Prüfung darauf beschränkt, ob der rechtliche Rahmen verkannt, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und angemessen abgewogen worden sind (Senat aaO Rn. 20 mwN).
Rz. 68
cc) Auf der Grundlage dieser Maßgaben ist die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass der Regelsatz vorliegend gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG zu erhöhen sei, revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 69
Dabei hat das Oberlandesgericht in vertretbarer tatrichterlicher Würdigung auf den für den Kläger wegen des gegen ihn erhobenen Betrugsvorwurfs rufschädigenden Charakter des Ausgangsverfahrens abgestellt, der durch die fortwährende Medienberichterstattung eine Breitenwirkung entfaltet und den Kläger in seiner Berufsausübung als Rechtsanwalt beeinträchtigt habe. Auch ist es zumindest vertretbar zu berücksichtigen, dass sich dem Kläger aufgrund seines fortgeschrittenen Alters kaum noch die Möglichkeit bieten wird, sich beruflich zu rehabilitieren. Der Revision des Beklagten ist zwar zuzugeben, dass der Zeitraum der überlangen Verfahrensdauer von acht Monaten im Verhältnis zur gesamten Verfahrensdauer von sieben Jahren und acht Monaten vergleichsweise kurz ist; er ist aber lang genug, um zu einer Vertiefung der Rufschädigung des Klägers mit beizutragen.
Rz. 70
Insbesondere ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Charakter des Ausgangsverfahrens als Pilotverfahren in einem umfangreichen Verfahrenskomplex nicht nur dessen besondere Bedeutung für den Kläger, sondern darüber hinaus auch eine entschädigungsrelevante Besonderheit begründet, durch die sich das Ausgangsverfahren von anderen Verfahren abhebt, so dass die Auswirkungen der überlangen Verfahrensdauer die Pauschalhöhe als unbillig erscheinen lassen. Der Charakter des Ausgangsverfahrens als Pilotverfahren führt dazu, dass dessen Überlänge zugleich auch eine unangemessene Verzögerung der hinzuverbundenen Verfahren bewirkt. Diese Auswirkung der überlangen Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens auf immerhin rund 140 Verfahren lässt es angezeigt erscheinen, den Regelsatz angemessen zu erhöhen. Die Frage, ob und gegebenenfalls wie dieser Umstand in den Entschädigungsverfahren zu berücksichtigen ist, die der Kläger in den zu dem Ausgangsverfahren hinzuverbundenen Rechtsstreiten angestrengt hat, betrifft nicht das vorliegend zu beurteilende Verfahren und braucht daher hier nicht vertieft zu werden.
Rz. 71
b) Die Bemessung der konkreten Entschädigungshöhe durch Verdoppelung des Regelsatzes in einem "ersten Schritt" und Festsetzung von gesonderten Entschädigungsbeträgen für die zum Zweck der Beweisaufnahme hinzuverbundenen, zu "Verfahrensbündeln" zusammengefassten Verfahren in einem "zweiten Schritt" ist indessen in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.
Rz. 72
aa) Die Revision des beklagten Landes rügt mit Erfolg, dass das Oberlandesgericht dem Kläger unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO mehr zugesprochen hat, als er beantragt hat.
Rz. 73
(1) Die Vorschrift des § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO verbietet dem Gericht, die durch den Klageantrag gezogenen Grenzen zu überschreiten, und dem Kläger mehr zuzusprechen, als er beantragt hat. Es entspricht dem Rechtsschutzzweck des Zivilprozesses, es den Parteien zu überlassen, durch ihre Anträge das "Streitprogramm" zu bestimmen und dem Gericht dadurch die Grenzen für seine Entscheidung zu setzen. Maßgebend ist der Streitgegenstand, der nicht nur den Klageantrag, sondern auch den Klagegrund (Lebenssachverhalt) umfasst, aus dem der Kläger die von ihm begehrte Rechtsfolge ableitet (vgl. Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 19. Aufl., § 308 Rn. 1; MüKoZPO/Musielak, 6. Aufl., § 308 Rn. 1; siehe auch Senat, Urteil vom 18. Juni 2015 - III ZR 303/14, NJW 2015, 2411 Rn. 11; BGH, Urteil vom 21. November 2017 - II ZR 180/15, NJW 2018, 1259 Rn. 17 f [jeweils zum Streitgegenstandsbegriff]).
Rz. 74
(2) Die Entschädigungsklage nach § 198 GVG ist eine auf Zahlung gerichtete Leistungsklage. Soweit die Höhe des Entschädigungsanspruchs maßgeblich durch die Dauer der Verzögerung bestimmt wird (§ 198 Abs. 2 Satz 3 und 4 GVG), ist es dem Entschädigungskläger zuzumuten, sich auf die Annahme einer bestimmten Dauer der Verzögerung festzulegen und seinen Antrag danach auszurichten (vgl. BFHE 259, 393 Rn. 52 und 259, 499 Rn. 47 sowie BFH, Urteil vom 6. Juni 2018 - X K 2/16, juris Rn. 54).
Rz. 75
Will der Kläger einen vom Regelbetrag des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG ("1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung") abweichenden Entschädigungsbetrag (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) oder den Regelbetrag nur als Mindestbetrag geltend machen, kann er sich darauf beschränken, einen unbezifferten Klageantrag zu stellen (Senat, Urteil vom 23. Januar 2014 - III ZR 37/13, BGHZ 200, 20 Rn. 56). Der Kläger kann aber auch einen bestimmten (monatlichen/jährlichen) Entschädigungsbetrag verlangen. In diesem Fall muss er seinen Klageantrag gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO konkret beziffern. Das Gericht darf ihm dann keinen höheren Entschädigungsbetrag zuerkennen (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 1989 - VI ZR 278/88, NJW-RR 1990, 380 [Schadensersatzrente]).
Rz. 76
(3) Im Streitfall hat der Kläger unter Annahme einer sachwidrigen Verfahrensverzögerung von 77 Monaten für jeden Monat der Verzögerung eine betragsmäßig bestimmte Entschädigung in Höhe von 150 € beantragt (insgesamt 11.550 €). Von der Möglichkeit, einen unbezifferten Klageantrag zu stellen, hat er keinen Gebrauch gemacht. Er hat damit den Streitgegenstand und den Entscheidungsumfang des Gerichts gemäß § 308 Abs. 1 ZPO verbindlich festgelegt.
Rz. 77
Der Antrag des Klägers kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er die Höhe der Entschädigung in das Ermessen des Gerichts stellen wollte und es sich bei den von ihm genannten Beträgen lediglich um eine Größenordnung der geltend gemachten Entschädigung (etwa einen Mindestbetrag) handeln sollte. Eine solche Auslegung kommt nur in Betracht, wenn der Klagebegründung ein entsprechender Parteiwille eindeutig zu entnehmen ist (Musielak/Voit/Musielak aaO Rn. 4 mwN; Rensen in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 308 Rn. 24). Das ist vorliegend nicht der Fall. Vielmehr hat der Kläger in der Klageschrift und in weiteren Schriftsätzen stets eine konkret bezifferte Entschädigung von 150 € für jeden Monat der Verzögerung beantragt, ohne die Bemessung der Entschädigungshöhe in das Ermessen des Gerichts zu stellen.
Rz. 78
Davon abweichend hat das Oberlandesgericht dem Kläger für die festgestellte Verzögerung von acht Monaten eine Entschädigung von 6.421,61 € zugesprochen, das heißt für jeden Monat der Verzögerung einen Betrag von 803,33 €. Darin liegt ein Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Mai 2017 - VI ZR 25/16, NJW 2017, 2561 Rn. 11 [konkret beziffertes Schmerzensgeld]).
Rz. 79
(4) Dem Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO steht nicht entgegen, dass die vom Kläger geltend gemachte Klageforderung über den ihm vom Oberlandesgericht zugesprochenen Entschädigungsbetrag hinausgeht. Der Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile nach § 198 Abs. 2 Satz 3 beziehungsweise Satz 4 GVG ist - wie oben ausgeführt - zeitbezogen geltend zu machen, wodurch der Streitgegenstand des Verfahrens festgelegt wird. Macht der Entschädigungskläger - wie hier - für bestimmte Zeiträume zu Unrecht einen Entschädigungsanspruch geltend, so ist sein Antrag insoweit abzuweisen und kann gemäß § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht mit anderen Zeiträumen verrechnet werden, für die er nach Auffassung des Gerichts eine geringere Entschädigung fordert, als ihm zusteht (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 1989 aaO [Schadensersatzrente]; Beschluss vom 11. November 2015 - XII ZB 7/15, NJW 2016, 322 Rn. 24 [Unterhalt]).
Rz. 80
(5) Soweit das Oberlandesgericht in einem "zweiten Schritt" die lediglich zum Zweck der gemeinsamen Beweisaufnahme verbundenen Verfahren zu sieben "Verfahrensbündeln" zusammengefasst und je Bündel eine konkrete Entschädigungssumme zuerkannt hat, hat es zudem nicht beachtet, dass der Kläger insoweit im vorliegenden "Pilotverfahren" keine Entschädigung geltend gemacht hat. Der zusätzlich ausgeurteilte Betrag von 4.826,61 € war daher nicht vom Streitgegenstand umfasst.
Rz. 81
(6) Der Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist auch nicht dadurch geheilt worden, dass der Kläger die Zurückweisung der Revision des Beklagten beantragt und sich dadurch die Entscheidung des Berufungsgerichts zu Eigen gemacht hat. Denn insoweit handelt es sich um eine Klageerweiterung, die im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht zulässig ist (st. Rspr; zB Senat, Urteil vom 4. August 2022 - III ZR 228/20, NJW-RR 2022, 1288 Rn. 11; BGH, Urteile vom 16. November 1989 - I ZR 15/88, NJW-RR 1990, 997, 998 sowie vom 18. Dezember 2019 - IV ZR 65/19, NJW-RR 2020, 353 Rn. 26; jew. mwN).
Rz. 82
bb) Darüber hinaus sind die Erwägungen, auf die das Oberlandesgericht die Bemessung der Entschädigungshöhe gestützt hat, von Rechtsfehlern beeinflusst.
Rz. 83
(1) Die Bemessung der Entschädigungshöhe ist grundsätzlich Sache des nach § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i.V.m. § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters (vgl. Senat, Urteil vom 23. Januar 2014 aaO). Sie ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob die Festsetzung Rechtsfehler enthält, insbesondere ob das Gericht alle für die Bemessung der Entschädigung wesentlichen Umstände berücksichtigt und angemessen abgewogen hat (vgl. BGH, Urteile vom 5. Juni 2018 - VI ZR 171/16, NJW 2019, 430 Rn. 12 und vom 28. Januar 2020 - KZR 24/17, BGHZ 224, 281 Rn. 35).
Rz. 84
(2) Maßgebend für die Höhe einer vom gesetzlichen Regelsatz nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG abweichenden Entschädigung sind gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Umstände des Einzelfalles. Dazu zählen neben den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Umständen die Dauer der Überlänge im Verhältnis zur gesamten Verfahrensdauer und die nachteiligen Auswirkungen der Überlänge. Dabei geht es nicht um eine isolierte Betrachtung einzelner Umstände, sondern um eine Würdigung der Gesamtumstände (Senat, Urteil vom 6. Mai 2021 aaO Rn. 19). Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für die aus der überlangen Verfahrensdauer erwachsenen immateriellen Nachteile festzusetzen, die sich aus dem höheren beziehungsweise niedrigeren Entschädigungssatz nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG, der sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt, und der festgestellten Verzögerungsdauer ergibt (siehe auch BGH, Beschluss vom 6. Juli 1955 - GZS 1/55, BGHZ 18, 149, 154, 156 sowie vom 15. Februar 2022 - VI ZR 937/20, NJW 2022, 1953 Rn. 13 [jeweils zur Schmerzensgeldbemessung]).
Rz. 85
(3) Diesen Grundsätzen wird das angegriffene Urteil nicht gerecht.
Rz. 86
(a) Das Oberlandesgericht hat nicht alle für die Bemessung der Entschädigung wesentlichen Umstände berücksichtigt und angemessen abgewogen. Es hat im Ausgangspunkt zwar zutreffend die Bedeutung des Ausgangsverfahrens als Pilotverfahren und die durch die überlange Verfahrensdauer hervorgerufene Vertiefung der Rufschädigung des Klägers gewürdigt. Hingegen hat es die im Verhältnis zur gesamten Verfahrensdauer vergleichsweise kurze Dauer der Überlänge von acht Monaten bei der Bemessung der Entschädigungshöhe unberücksichtigt gelassen.
Rz. 87
(b) Darüber hinaus hat das Oberlandesgericht die Bedeutung des Ausgangsverfahrens für den Kläger allein anhand der Zahl der hinzuverbundenen Verfahren, nicht jedoch auch anhand der Summe der gegen ihn in diesen Verfahren geltend gemachten Forderungen beurteilt, die es überdies auch nicht konkret festgestellt hat. Das führt zu einer rechtsfehlerhaften Überbetonung der Zahl der hinzuverbundenen Verfahren gegenüber der finanziellen Belastung des Klägers, die gerade aus der Summe der gegen ihn geltend gemachten Forderungen erwächst.
Rz. 88
(c) Zudem weicht das Oberlandesgericht von dem Grundsatz ab, im Rahmen einer Gesamtwürdigung eine einheitliche Entschädigung zu bestimmen, indem es zur Ermittlung der Entschädigungshöhe gesondert errechnete Teilbeträge für verschiedene "Bündel" hinzuverbundener Verfahren aufaddiert. Die Festsetzung der Bemessungsparameter ("Bündel" zu je 20 Verfahren, Degressionswert von 5 %) ist nicht nachvollziehbar. Das Urteil lässt insoweit jede Begründung vermissen. Das hat zur Folge, dass die Bemessungsparameter beliebig "gegriffen" wirken und damit die gesamte Berechnung letztlich willkürlich erscheint.
IV.
Rz. 89
Das angefochtene Urteil ist demnach im Kostenpunkt und insoweit aufzuheben, als das beklagte Land zur Zahlung eines über 1.200 € nebst Zinsen hierauf hinausgehenden Betrages verurteilt worden ist (§ 562 Abs. 1 ZPO).
Rz. 90
Der Senat kann gemäß § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst entscheiden, weil diese aufgrund des festgestellten Sachverhalts zur Endentscheidung reif ist, keine weiteren tatsächlichen Feststellungen erfordert und eine weitere Verhandlung in der Tatsacheninstanz nicht mehr geboten ist (vgl. Senat, Urteil vom 8. Oktober 1953 - III ZR 310/51, BGHZ 10, 350, 358 [zu dem inhaltsgleichen § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO aF]; BGH, Beschluss vom 4. August 2021 - VII ZB 15/21, NJW-RR 2021, 1647 Rn. 10 mwN; MüKoZPO/Krüger, 6. Aufl., § 563 Rn. 20). Auch wenn das Oberlandesgericht die Höhe der in der L. -Serie gegen den Kläger insgesamt geltend gemachten Forderungen nicht exakt festgestellt hat, kann auch dem Sachvortrag des beklagten Landes eine Größenordnung zumindest im siebenstelligen Bereich entnommen werden. Dies reicht zusammen mit den vom Oberlandesgericht festgestellten Umständen für die Würdigung aus, dass gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Erhöhung des Regelsatzes jedenfalls um die von dem Kläger beantragten 50 € für jeden Monat der Verzögerung angemessen ist. Folglich hat das angegriffene Urteil Bestand, soweit das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung von 1.200 € nebst Zinsen an den Kläger verurteilt worden ist. Da das Oberlandesgericht dem Kläger unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO mehr als beantragt zuerkannt hat, bedurfte es des Ausspruchs einer weitergehenden Klageabweisung nicht.
Herrmann |
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Fundstellen
Haufe-Index 15547277 |
BGHZ 2023, 10 |