Entscheidungsstichwort (Thema)
Zubilligung eines Familienselbstbehalts in Höhe des Elternunterhalts bei Unterhaltsanspruch des volljährigen Kindes. Berücksichtigung von Haushaltsersparnissen bei Familienselbstbehalt
Leitsatz (amtlich)
a) Wird der Unterhaltspflichtige von seinem erwachsenen Kind, das seine bereits erlangte wirtschaftliche Selbständigkeit wieder verloren hat, auf Unterhalt in Anspruch genommen, ist es nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter ihm und seiner Ehefrau im Regelfall einen Familienselbstbehalt zubilligt, wie ihn die Düsseldorfer Tabelle und die Unterhaltsrechtlichen Leitlinien für den Elternunterhalt vorsehen (im Anschluss an Senat, Urt. v. 18.1.2012 - XII ZR 15/10, FamRZ 2012, 530).
b) Der Familienselbstbehalt trägt bereits dem Umstand Rechnung, dass die Ehegatten durch ihr Zusammenleben Haushaltsersparnisse erzielen (im Anschluss an BGH BGHZ 186, 350 = FamRZ 2010, 1535).
Normenkette
BGB § 1603 Abs. 1
Verfahrensgang
OLG Köln (Urteil vom 08.06.2010; Aktenzeichen II-25 UF 232/09) |
AG Leverkusen (Entscheidung vom 09.12.2009; Aktenzeichen 30 F 22/09) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 25. Zivilsenats - Senat für Familiensachen - des OLG Köln vom 8.6.2010 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger begehrt von dem Beklagten rückständigen Volljährigenunterhalt aus übergegangenem Recht.
Rz. 2
Der Kläger erbrachte für den 1969 geborenen Sohn des Beklagten, der wegen Depressionen und einer Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig ist, u.a. in der Zeit von April 2007 bis März 2009 Sozialhilfe in Form von Hilfe zum Lebensunterhalt von über 850 EUR monatlich. Der Beklagte ist Rentner und bezieht ein monatliches Nettoeinkommen von rund 1.603 EUR. Die Ehefrau des Beklagten erzielt ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von rund 485 EUR. Die Eheleute bewohnen zusammen eine Eigentumswohnung, für die Finanzierungs- und laufende Kosten zu zahlen sind.
Rz. 3
Das AG hat den Beklagten verurteilt, an den Kläger für die Zeit von April 2007 bis März 2009 monatlich 70 EUR zu zahlen, insgesamt also 1.680 EUR. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.
Entscheidungsgründe
Rz. 4
Die Revision ist unbegründet.
I.
Rz. 5
Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass dem Sohn des Beklagten in dem streitgegenständlichen Zeitraum kein Unterhaltsanspruch gegen den Beklagten zugestanden habe, so dass ein solcher auch nicht auf den Kläger habe übergehen können. Der Beklagte sei leistungsunfähig. Dem Grunde nach stehe einem unterhaltspflichtigen Elternteil, der schon Rente beziehe, gegenüber Kindern, die bereits einmal eine eigene Lebensstellung erlangt hätten, ein Selbstbehalt von 1.400 EUR zu. Das Einkommen des Beklagten übersteige diesen Betrag nicht.
Rz. 6
Befinde sich der Unterhaltspflichtige seit mehreren Jahren im Rentenalter, habe das Kind regelmäßig eine eigene Lebensstellung erlangt, leite seine Lebensstellung also nicht mehr - wie das seine Ausbildung betreibende Kind - von der des Pflichtigen ab. Das Kind befinde sich in der Regel selbst bereits in einem höheren Lebensalter, so dass der Unterhaltspflichtige seine Lebensverhältnisse längerfristig seinem Einkommensniveau angepasst habe. Da er nicht mehr im Arbeitsleben stehe, könne er die Inanspruchnahme auf Unterhalt auch nicht durch zusätzliche Erwerbstätigkeit ausgleichen. Von daher sei es gerechtfertigt, den allgemeinen, gegenüber volljährigen Kindern geltenden Selbstbehalt angemessen zu erhöhen, wobei der für den Elternunterhalt geltende Betrag insoweit als angemessen erscheine. Dem stehe nicht entgegen, dass nach der sozialhilferechtlichen Regelung des § 94 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 SGB XII eine Vermutung dafür bestehe, dass der Anspruch in Höhe der in § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII genannten Beträge übergehe und mehrere Unterhaltspflichtige zu gleichen Teilen hafteten. Aufgrund der dargelegten konkreten Umstände sei diese Vermutung im vorliegenden Fall widerlegt, so dass dahinstehen könne, ob der Sohn des Beklagten überhaupt i.S.v. § 53 SGB XII behindert sei.
II.
Rz. 7
Diese Ausführungen halten im Ergebnis rechtlicher Überprüfung stand.
Rz. 8
1. Entgegen der Auffassung der Revision war die Berufung zulässig. Zutreffend weist die Revisionserwiderung darauf hin, dass die Berufung den in § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO aufgestellten Anforderungen entspricht.
Rz. 9
Von einer Berufungsbegründung ist namentlich zu verlangen, dass sie auf den zur Entscheidung stehenden Streitfall zugeschnitten ist und erkennen lässt, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen das angefochtene Urteil unrichtig sei (Zöller/Heßler ZPO, 29. Aufl., § 520 Rz. 35 m.w.N.). Dabei ist die Schlüssigkeit der Begründung keine Zulässigkeitsvoraussetzung (Zöller/Heßler, a.a.O., Rz. 34 m.w.N.).
Rz. 10
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Beklagte hat in seiner Berufung im Einzelnen begründet, warum seiner Auffassung nach etwaige Unterhaltsansprüche verwirkt seien. Damit hat die Berufung eine tragende Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung angegriffen, die nur von einer teilweisen Verwirkung ausgegangen war, und demgemäß den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO Rechnung getragen.
Rz. 11
2. Ebenso wenig ist revisionsrechtlich zu beanstanden, dass das Berufungsgericht einen Unterhaltsanspruch nach § 1601 BGB verneint hat.
Rz. 12
a) Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII geht der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch eines Sozialhilfeberechtigten bis zur Höhe der geleisteten Aufwendung auf den Träger der Sozialhilfe über.
Rz. 13
Dass das Berufungsgericht vorliegend offen gelassen hat, ob der Sohn des Beklagten i.S.v. § 53 SGB XII behindert ist und der Anspruch damit gem. § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII nur in begrenzter Höhe übergegangen ist, begegnet keinen Bedenken. Zwar wird gem. § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII vermutet, dass der Anspruch insoweit übergeht. Diese gesetzliche Vermutung ist jedoch widerlegbar, weshalb auch eine vom Unterhaltsschuldner geltend gemachte Leistungsunfähigkeit zu berücksichtigen ist (vgl. Senat, Urt. v. 18.1.2012 - XII ZR 15/10, FamRZ 2012, 530 Rz. 11 f.).
Rz. 14
b) Auch durfte das Berufungsgericht von einem erhöhten Selbstbehalt ausgehen.
Rz. 15
aa) Gemäß § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Dem Unterhaltspflichtigen sollen grundsätzlich die Mittel verbleiben, die er zur angemessenen Deckung des seiner Lebensstellung entsprechenden allgemeinen Bedarfs benötigt (Senat, Urt. v. 18.1.2012 - XII ZR 15/10, FamRZ 2012, 530 Rz. 16 m.w.N.). Die Bemessung des dem Unterhaltspflichtigen zu belassenden Selbstbehalts ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats zwar Aufgabe des Tatrichters. Dabei ist es diesem nicht verwehrt, sich an Erfahrungs- und Richtwerte anzulehnen, sofern nicht im Einzelfall besondere Umstände eine Abweichung gebieten. Der Tatrichter muss aber die gesetzlichen Wertungen und die Bedeutung des jeweiligen Unterhaltsanspruchs berücksichtigen (Senat, Urt. v. 9.1.2008 - XII ZR 170/05, FamRZ 2008, 594 Rz. 24 m.w.N.).
Rz. 16
(1) Nach Erlass des Berufungsurteils hat der Senat entschieden, dass es gerechtfertigt ist, den Selbstbehalt des Unterhaltspflichtigen gegenüber seinem erwachsenen Kind, das seine bereits erlangte wirtschaftliche Selbständigkeit wieder verloren hat, mit einem erhöhten Betrag, wie er in den Tabellen und Leitlinien für den Elternunterhalt als Mindestbetrag vorgesehen ist, und der sich bis zum Jahr 2011 auf 1.400 EUR belief, anzusetzen und ggf. noch dadurch zu erhöhen, dass dem Unterhaltspflichtigen ein etwa hälftiger Anteil seines für den Elternunterhalt einsetzbaren bereinigten Einkommens zusätzlich verbleibt (vgl. Senat, Urt. v. 18.1.2012 - XII ZR 15/10, FamRZ 2012, 530 Rz. 20). Zwar müssen Eltern regelmäßig damit rechnen, ihren Kindern auch über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus zu Unterhaltsleistungen verpflichtet zu sein, bis diese ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben und wirtschaftlich selbständig sind. Haben die Kinder danach aber eine eigene Lebensstellung erlangt, in der sie auf elterlichen Unterhalt nicht mehr angewiesen sind, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass sie diese Elternunabhängigkeit auch behalten. Darauf dürfen sich, wenn nicht bereits eine andere Entwicklung absehbar ist, grundsätzlich auch die Eltern einstellen (Senat, Urt. v. 18.1.2012 - XII ZR 15/10, FamRZ 2012, 530 Rz. 17). Verliert das erwachsene Kind zu einem späteren Zeitpunkt wieder seine wirtschaftliche Selbständigkeit, findet die Inanspruchnahme des Unterhaltspflichtigen in der Regel erst statt, wenn dieser sich selbst bereits in einem höheren Lebensalter befindet, seine Lebensverhältnisse demzufolge bereits längerfristig seinem Einkommensniveau angepasst hat oder sogar bereits Rente bezieht und sich dann einer Unterhaltsforderung ausgesetzt sieht, mit der er nach dem regelmäßigen Ablauf nicht mehr zu rechnen brauchte (Senat, Urt. v. 18.1.2012 - XII ZR 15/10, FamRZ 2012, 530 Rz. 18).
Rz. 17
(2) Ist der Unterhaltspflichtige - wie hier - verheiratet, gehört zu dessen nach § 1603 Abs. 1 BGB beim Verwandtenunterhalt zu berücksichtigenden sonstigen Verbindlichkeiten auch die Unterhaltspflicht gegenüber seiner Ehefrau nach §§ 1360, 1360a BGB, soweit diese nicht über ausreichendes eigenes Einkommen verfügt (Senat, Urt. v. 8.6.2005 - XII ZR 75/04, FamRZ 2006, 27 [29]).
Rz. 18
Sofern die dargelegten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des in der Düsseldorfer Tabelle und den Unterhaltsrechtlichen Leitlinien an sich für den Elternunterhalt bestimmten, erhöhten Selbstbehalts auf Seiten des Unterhaltspflichtigen vorliegen, ist es wegen der Vergleichbarkeit der jeweiligen Interessenlagen nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter auch auf den dort für den vorrangigen Ehegatten bestimmten Selbstbehalt, der sich für die hier maßgebliche Zeit auf 1.050 EUR belief, zurückgreift. Damit ergibt sich unter Berücksichtigung des erhöhten Selbstbehalts für den Unterhaltspflichtigen von 1.400 EUR ein zusammengerechneter Familienselbstbehalt von 2.450 EUR (vgl. BGH BGHZ 186, 350 = FamRZ 2010, 1535 Rz. 39 ff.). Der durch das Zusammenleben der Eheleute eingetretenen Haushaltsersparnis wird dann bereits durch die unterschiedlichen Selbstbehaltssätze der Ehegatten Rechnung getragen (BGH BGHZ 186, 350 = FamRZ 2010, 1535 Rz. 43).
Rz. 19
bb) Diesen Anforderungen trägt das Berufungsurteil hinreichend Rechnung.
Rz. 20
(1) Aus Rechtsgründen ist nichts dagegen zu erinnern, dass das Berufungsgericht dem Beklagten einen erhöhten Selbstbehalt von 1.400 EUR zugebilligt hat.
Rz. 21
In dem hier streitgegenständlichen Zeitraum von 2007 bis 2009 belief sich der auch im Rahmen des Elternunterhaltsanspruchs maßgebliche erhöhte angemessene Selbstbehalt auf mindestens 1.400 EUR monatlich. Nach den vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Feststellungen des AG war der erwachsene Sohn des Beklagten seit langem wirtschaftlich selbständig. Mit dem Empfang der hier im Streit stehenden Sozialleistungen hatte jener erst zu einem späteren Zeitpunkt seine wirtschaftliche Selbständigkeit wieder verloren. Damit sah sich der Beklagte einer Unterhaltsforderung ausgesetzt, mit der er nach dem regelmäßigen Ablauf nicht mehr zu rechnen brauchte. Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Senats nicht darauf an, dass der Beklagte bei seiner Inanspruchnahme bereits Rente bezogen hat. Maßgeblich ist allein, dass er nach der zwischenzeitlich eingetretenen wirtschaftlichen Selbständigkeit seines volljährigen Sohnes mit keiner weiteren Unterhaltspflicht für diesen zu rechnen brauchte und sein Vertrauen hierauf deswegen - wie beim Elternunterhalt - besonders schutzwürdig ist.
Rz. 22
(2) Soweit es die Ehefrau des Beklagten anbelangt, hat das Berufungsgericht zwar nicht ausdrücklich auf den Familienselbstbehalt abgestellt. Letztlich hat es aber auf die Unterhaltsberechnung des AG und damit auf den dort für die Ehefrau eingestellten Selbstbehalt von 1.050 EUR Bezug genommen, der den Beträgen der Düsseldorfer Tabelle für den Elternunterhalt entnommen ist.
Rz. 23
Soweit die Revision rügt, das Berufungsgericht habe die durch die gemeinsame Haushaltsführung auf Seiten des Beklagten eintretenden Ersparnisse nicht berücksichtigt, verkennt sie, dass der Haushaltsersparnis bereits durch die unterschiedlichen Selbstbehaltssätze der Ehegatten Rechnung getragen wird.
Rz. 24
c) Dass das Berufungsgericht nach alledem aufgrund der von der Revision im Übrigen nicht angegriffenen Feststellungen zur Leistungsunfähigkeit des Beklagten gelangt ist, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 25
Danach verfügen die Eheleute über ein Gesamteinkommen von rund 2.088 EUR (Beklagter 1.603 EUR und Ehefrau 485 EUR). Damit ergibt sich - einschließlich des bereinigten Wohnvorteils - ein Gesamteinkommen von rund 2.306 EUR.
Rz. 26
Nach Abzug des Familienselbstbehalts von 2.450 EUR bleibt ein negativer Betrag i.H.v. rund 144 EUR, weshalb es an der Leistungsfähigkeit des Beklagten fehlt.
Fundstellen