Entscheidungsstichwort (Thema)
Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen überlanger Dauer eines Anhörungsrügeverfahrens. einheitliches Gerichtsverfahren durch Anhörungsrügeverfahren und vorangegangenes Hauptsacheverfahren. Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer. Umgangsregelung. Aufenthaltsbestimmungsrecht
Leitsatz (amtlich)
Das Anhörungsrügeverfahren (hier: § 44 FamFG) und das vorangegangene Hauptsacheverfahren stellen ein einheitliches Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG dar. Die Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG) ist auf das Anhörungsrügeverfahren unmittelbar anzuwenden.
Normenkette
GVG § 198 Abs. 6 Nr. 1; FamFG § 44
Verfahrensgang
OLG Dresden (Urteil vom 24.07.2013; Aktenzeichen 19 SchH 16/12 EntV) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 19. Zivilsenats des OLG Dresden vom 24.7.2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das OLG zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger nimmt das beklagte Land auf Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen überlanger Dauer eines Anhörungsrügeverfahrens nach § 44 FamFG in Anspruch.
Rz. 2
Der Kläger ist Vater zweier minderjähriger ehelicher Kinder. Nach rechtskräftiger Ehescheidung regelte das FamG durch Beschluss vom 18.10.2010 den Umgang des Klägers mit seinen Kindern und übertrug das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie das Recht zur Bestimmung des Schulbesuchs auf die Kindesmutter. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Klägers wies das OLG nach mündlicher Verhandlung mit Beschluss vom 6.10.2011 zurück. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen (§ 70 Abs. 2 FamFG). Nach Zugang der schriftlichen Entscheidungsgründe Ende Oktober 2011 erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 7.11.2011 "Gehörsrüge nach § 44 FamFG", mit der er sein Beschwerdeziel weiterverfolgte. Zur Begründung führte er aus, das Beschwerdegericht habe seine Entscheidung "überbeschleunigt" und ihm keine Gelegenheit gegeben, sich angemessen mit dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens auseinanderzusetzen.
Rz. 3
Der Vorsitzende des zuständigen Familiensenats verfügte am 14.11.2011 die Übersendung der Gehörsrüge an den Prozessbevollmächtigten der Kindesmutter zur Stellungnahme binnen zwei Wochen. Diese lag dem Senat am 5.12.2011 vor. Nachdem der Kläger mit Schriftsätzen vom 5. und 23.12.2011 eine zügige Entscheidung angemahnt und mit Schriftsatz vom 25.5.2012 die Sachbehandlung durch den Familiensenat als "skandalös" beanstandet hatte, wies das OLG die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 23.7.2012 zurück.
Rz. 4
Mit seiner Entschädigungsklage hat der Kläger geltend gemacht, das Beschwerdegericht habe die Entscheidung über seine Gehörsrüge unangemessen verzögert. Der Beklagte schulde deshalb eine monatliche Entschädigung von 150 EUR (insgesamt 825 EUR).
Rz. 5
Das OLG hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Der Kläger verfolgt mit der Revision seinen erstinstanzlichen Antrag weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.
I.
Rz. 7
Das OLG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 8
Dem Kläger stehe wegen der behaupteten unangemessenen Dauer des Anhörungsrügeverfahrens schon deshalb kein Entschädigungsanspruch zu, weil der geltend gemachte Anspruch von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der § 198 ff. GVG falle. Die Anhörungsrüge nach § 44 FamFG sei kein Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. Das Hauptsacheverfahren sei durch den Beschluss des Beschwerdegerichts vom 6.10.2011 rechtskräftig abgeschlossen worden. Da die nachfolgende Anhörungsrüge lediglich die Möglichkeit einer justizinternen Selbstkorrektur und damit eine Durchbrechung der Rechtskraft ermöglicht habe, stelle sie auch entschädigungsrechtlich kein eigenständiges Gerichtsverfahren dar. Es komme hinzu, dass die formalen Anforderungen an die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs mit dem Ablauf des Anhörungsrügeverfahrens nicht in Einklang zu bringen seien. Nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG müsse die Entschädigungsklage spätestens sechs Monate nach dem rechtskräftigen Abschluss des Ausgangsverfahrens erhoben werden. Diese Voraussetzung könne nicht erfüllt werden, da die Entscheidung über die Anhörungsrüge nicht in Rechtskraft erwachse.
II.
Rz. 9
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 10
Entgegen der Auffassung des OLG stellen das Anhörungsrügeverfahren nach § 44 FamFG und das vorangegangene Hauptsacheverfahren entschädigungsrechtlich ein einheitliches Gerichtsverfahren dar. Die Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG) ist auf das durch die Gehörsrüge eröffnete Rechtsbehelfsverfahren unmittelbar anzuwenden.
Rz. 11
1. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG enthält eine Legaldefinition des Gerichtsverfahrens im entschädigungsrechtlichen Sinn. Danach gilt der gesamte Zeitraum von der Einleitung eines Verfahrens in der ersten Instanz bis zur endgültigen rechtskräftigen Entscheidung als ein Verfahren (BT-Drucks. 17/3802, 22), wobei das Gesetz von einem an der Hauptsache orientierten Verfahrensbegriff ausgeht. Gerichtsverfahren ist nicht jeder einzelne Antrag oder jedes Gesuch im Zusammenhang mit dem verfolgten Rechtsschutzbegehren (BGH, Urt. v. 5.12.2013 - III ZR 73/13, NJW 2014, 789 Rz. 20; v. 13.3.2014 - III ZR 91/13, BeckRS 2014, 06851 Rz. 23).
Rz. 12
a) Durch die Gehörsrüge nach § 44 FamFG, die darauf abzielt, eine neue Entscheidung in der Sache herbeizuführen und die Rechtskraft des angegriffenen Beschlusses zu beseitigen, wird kein selbständiges Verfahren eingeleitet. Vielmehr ist das Rügeverfahren dem durch den angegriffenen Beschluss zunächst beendeten Verfahren als Annex angegliedert. Es dient ausschließlich dem Zweck, das vorangegangene Verfahren auf den behaupteten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu prüfen und führt bei begründeter Rüge zur Fortführung des ursprünglichen Verfahrens. Die Anhörungsrüge ist kein Rechtsmittel. Sie weist weder einen Suspensiv- noch einen Devolutiveffekt auf (Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 18. Aufl., § 44 Rz. 41, 58, 62; s. auch Musielak, ZPO, 11. Aufl., § 321a Rz. 2; Zöller/Vollkommer, ZPO, 30. Aufl., § 321a Rz. 2, 15 ff.). Das Anhörungsrügeverfahren ist nach alledem kein selbständiges Verfahren. Es wird dem Hauptsacheverfahren hinzugerechnet und ist somit Teil eines einheitlichen Gerichtsverfahrens i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. Kommt es (erstmals) im Anhörungsrügeverfahren zu einer sachlich nicht mehr gerechtfertigten Verzögerung, entsteht kein isolierter Entschädigungsanspruch (anders Guckelberger, DÖV 2012, 289 [294]; Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rz. 54). Vielmehr muss die Bearbeitungsdauer für die Gehörsrüge in die abschließende Betrachtung der Gesamtverfahrensdauer einbezogen werden. Denn Verzögerungen, die in einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten eingetreten sind, bewirken nicht zwingend die Unangemessenheit der Verfahrensdauer. Erforderlich ist vielmehr eine abschließende Gesamtabwägung (s. BGH, Urt. v. 14.11.2013 - III ZR 376/12, NJW 2014, 220 Rz. 28 ff.; v. 5.12.2013 - III ZR 73/13, a.a.O., Rz. 40 ff.; v. 23.1.2014 - III ZR 37/13, NJW 2014, 939 Rz. 36 ff.; v. 13.2.2014 - III ZR 311/13, NJW 2014, 1183 Rz. 26 ff.; v. 13.3.2014 - III ZR 91/13, a.a.O., Rz. 31 ff. zu den maßgeblichen Abwägungskriterien).
Rz. 13
b) Nach diesem Maßstab hätte das OLG die Anwendbarkeit der §§ 198 ff. GVG auf die streitgegenständliche Gehörsrüge nicht ablehnen dürfen. Das familiengerichtliche Sorge- und Umgangsrechtsverfahren wurde durch unanfechtbaren Beschluss des Beschwerdegerichts (zunächst) rechtskräftig abgeschlossen (§ 70 Abs. 1, 2 FamFG). Die daraufhin vom Kläger erhobene Anhörungsrüge zielte darauf ab, das Ursprungsverfahren unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 44 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 FamFG fortzuführen und die Rechtskraft des Beschlusses vom 6.10.2011 zu durchbrechen (vgl. Keidel/Meyer-Holz, a.a.O., § 44 Rz. 1, 53 ff., 62 f.). Erst durch die Zurückweisung der Gehörsrüge mit Beschluss des Beschwerdegerichts vom 23.7.2012 wurde das Hauptsacheverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG endgültig rechtskräftig abgeschlossen (§ 44 Abs. 4 Satz 3 FamFG). Das OLG hätte daher die Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs nach § 198 GVG mit Blick auf die Gesamtverfahrensdauer prüfen müssen.
Rz. 14
2. Für dieses Ergebnis spricht auch der Zweck der neuen Entschädigungsregelung. Durch die Einräumung eines Entschädigungsanspruchs gegen den Staat bei überlanger Verfahrensdauer soll eine nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestehende Rechtsschutzlücke geschlossen und eine Regelung geschaffen werden, die sowohl den Anforderungen des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG) als auch denen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 6 Abs. 1, Art. 13 EMRK) gerecht wird (BGH, Urt. v. 10.4.2014 - III ZR 335/13; BeckRS 2014, 08780 Rz. 25; s. auch BT-Drucks. 17/3802, 1, 15). Dementsprechend erfasst die Entschädigungsregelung sämtliche Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivilverfahren, freiwillige Gerichtsbarkeit und Strafverfahren einschließlich Bußgeldverfahren) und aufgrund entsprechender Anwendung auch alle Verfahren der Fachgerichtsbarkeiten (BT-Drucks. 17/3802, 22). Mit diesem umfassenden Gesetzeszweck wäre es schlechthin unvereinbar, Anhörungsrügeverfahren von vornherein nicht als Gerichtsverfahren im Sinne § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG anzusehen (anders Vielmeier, NJW 2013, 346, 349, 350). Denn die Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, kann allein schon dadurch verletzt werden, dass über eine singuläre Rechtsfrage, nämlich die Verletzung des rechtlichen Gehörs, in einem besonderen gesetzlichen Rechtsbehelfsverfahren verzögert entschieden wird und deshalb eine etwaige Rechtskraftdurchbrechung in der Schwebe bleibt.
Rz. 15
3. Soweit § 198 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 GVG Mindestfristen enthalten, sind diese mit dem Ablauf eines Anhörungsrügeverfahrens ohne Weiteres vereinbar.
Rz. 16
a) Auch in diesem Fall gilt, dass die Verzögerungsrüge frühestens erhoben werden kann, wenn Anlass zu der Besorgnis besteht, dass über die Gehörsrüge nicht in angemessener Zeit entschieden wird. Maßgeblich ist, wann ein Betroffener erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Anhörungsrügeverfahren als solches keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt (Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 190). Es genügt grundsätzlich, dass die Verzögerungsrüge nach diesem Zeitpunkt im laufenden Anhörungsrügeverfahren erhoben wird (Senat, Urt. v. 10.4.2014 - III ZR 335/13, BeckRS 2014, 08780 Rz. 31). Im vorangegangenen Verfahren bereits eingetretene Verzögerungen können allerdings durch eine erstmals im Rügeverfahren erhobene Verzögerungsrüge nicht mehr geltend gemacht werden. Dies folgt schon daraus, dass Gegenstand des Anhörungsrügeverfahrens allein die behauptete Gehörsverletzung ist und für das Gericht keine Möglichkeit mehr besteht, das bereits beendete Hauptsacheverfahren noch zu beschleunigen (vgl. Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 173 f, 191; Schenke, NVwZ 2012, 257 [261]).
Rz. 17
b) Nach § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG kann der Entschädigungsanspruch frühestens sechs Monate nach wirksamer Erhebung der Verzögerungsrüge gerichtlich geltend gemacht werden. Der Sinn dieser Wartefrist besteht darin, dem Gericht die Möglichkeit einzuräumen, auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken und dadurch (weiteren) Schaden zu vermeiden (BT-Drucks. 17/3802, 22; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 245; Schenke, a.a.O., S. 263). Aus diesem Schutzzweck des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG folgt, dass eine Klage ausnahmsweise vor Fristablauf erhoben werden kann, wenn das betroffene Verfahren - was bei Anhörungsrügen regelmäßig der Fall sein wird - schon vor Fristablauf beendet wurde (s. auch Vielmeier, a.a.O., S. 348 mit Angaben zur durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von Anhörungsrügen). Ein Abwarten der Frist würde insofern keinen Sinn mehr machen. In diesen Fällen ist die Fristenregelung des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG teleologisch dahin einzuschränken, dass dann, wenn das als verspätet gerügte Verfahren schon vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist abgeschlossen wurde, bereits vom Moment des Verfahrensabschlusses an eine Entschädigungsklage zulässig ist (Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 246; Schenke, a.a.O.).
Rz. 18
c) § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG normiert eine Klagefrist von sechs Monaten für die Geltendmachung des Anspruchs auf Entschädigung. Entgegen der Auffassung des OLG hängt der Fristbeginn nicht davon ab, dass das Ausgangsverfahren rechtskräftig bzw. mit einer der Rechtskraft fähigen Entscheidung beendet wird. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut beginnt die Frist entweder mit der Rechtskraft der Entscheidung im Ausgangsverfahren oder "mit einer anderen Erledigung dieses Verfahrens". Dies bedeutet, dass im vorliegenden Fall die sechsmonatige Klagefrist mit der Bekanntgabe des Zurückweisungsbeschlusses vom 23.7.2012 in Gang gesetzt wurde.
III.
Rz. 19
Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO). Das OLG wird nunmehr erstmals zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1, 2 GVG vorliegen.
Fundstellen
Haufe-Index 6988596 |
NJW 2014, 2443 |
NJW 2014, 8 |
EBE/BGH 2014 |
FamRZ 2014, 1362 |
WM 2014, 1783 |
ZIP 2014, 1856 |
JZ 2014, 528 |
MDR 2014, 894 |
PAK 2014, 201 |