Leitsatz (amtlich)
Ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Dafür reicht aus, dass der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahe legen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden hingegen nicht.
Normenkette
BGB § 823; ZPO § 286
Verfahrensgang
OLG Braunschweig (Urteil vom 16.01.2003) |
LG Braunschweig |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des OLG Braunschweig v. 16.1.2003 im Kostenpunkt, soweit nicht über die Kosten des Beklagten zu 2) entschieden worden ist, und insoweit aufgehoben, als im Verhältnis zu den Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) zum Nachteil der Klägerin erkannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen behaupteter ärztlicher Behandlungsfehler.
Nach einem Motorradunfall am 10.5.1998 wurde die Klägerin in das von der Beklagten zu 1 betriebene Krankenhaus, in dem die Beklagten zu 3 bis 5 als Ärzte tätig waren, eingeliefert. Es wurde festgestellt, dass sie sich einige Rippen, den dritten Lendenwirbelkörper und das Schulterblatt gebrochen hatte. Nicht bemerkt wurde, dass sie darüber hinaus eine Beckenringfraktur mit einem Sakrumkompressionsbruch rechts davongetragen hatte. Zunächst wurde ihr Bettruhe verordnet. Ab 11.6.1998 wurde die Klägerin mobilisiert. Eine Entlastung durch Unterarmgehstützen erfolgte dabei nicht. Einen Tag nach Beginn der Mobilisierung verspürte sie Schmerzen beim Gehen, worauf sie die Schwestern und die behandelnden Ärzte hinwies. Die Beklagten zu 3 bis 5 untersuchten die Klägerin zwar, veranlassten jedoch keine Röntgenaufnahmen, so dass die Beckenringfraktur weiterhin nicht festgestellt wurde. Sie verordneten auch bei der weiteren Mobilisierung keine (Teil)entlastung durch Unterarmgehstützen. Am 17.6.1998 wurde die Klägerin entlassen. Wegen fortdauernder Beschwerden begab sie sich anderweitig in ärztliche Behandlung. Im Rahmen dieser Behandlung wurde am 3.7.1998 mithilfe einer Beckenübersichtsaufnahme der Beckenringbruch diagnostiziert. Dieser Bruch ist mit einer leichten Verschiebung zusammengewachsen. In einem Gutachten des ärztlichen Dienstes v. 17.2.1999 wurde eine nicht korrekte Ausheilung der Fraktur mit verbliebener Pseudarthrose festgestellt.
Die Klägerin behauptet, es sei behandlungsfehlerhaft gewesen, dass die Beckenringfraktur nicht schon im Krankenhaus erkannt und mit der Mobilisierung nicht zugleich eine Teilentlastung angeordnet worden sei. Auf diese Behandlungsfehler sei die bei ihr festgestellte Pseudarthrose zurückzuführen. Als Folge der Fehlbehandlung leide sie außerdem unter ständigen Schmerzen u. a. in der rechten Leiste, der rechten Gesäßhälfte, beim Liegen und beim Geschlechtsverkehr sowie unter einem Dranggefühl.
Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin die Zahlung eines Schmerzensgeldes i. H. v. mindestens 20.451,68 EUR sowie die Feststellung, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihr sämtliche nach dem 1.4.2000 entstehenden materiellen Schäden aus ihrer stationären Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 1) zu erstatten, soweit solche Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 2) richtete. Auf die Berufung der Klägerin hat es die Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) zur Zahlung eines Schmerzensgelds i. H. v. 3.000 EUR nebst Zinsen verurteilt. Die weiter gehende Berufung hat es zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die zugelassene Revision der Klägerin, mit der diese den vollen Klageantrag gegen die Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Klägerin könne von der Beklagten zu 1) und von den Beklagten zu 3) bis 5) die Zahlung eines Schmerzensgeldes i. H. v. 3.000 EUR verlangen. Den Beklagten sei als Behandlungsfehler anzulasten, dass sie keine Röntgenaufnahme des Beckens anfertigen ließen, obwohl die Klägerin im Anschluss an die Mobilisierung über Schmerzen geklagt habe. Mithilfe dieser - medizinisch gebotenen - diagnostischen Maßnahme wäre die Beckenringfraktur nämlich festgestellt worden. Alsdann wäre es schlechthin unverständlich und grob fehlerhaft gewesen, die Mobilisierung ohne Teilentlastung durch Unterarmgehstützen fortzusetzen. Als Folgen des Behandlungsfehlers habe die Klägerin vom Abend des zweiten Tages nach Beginn der Mobilisierung bis zur Feststellung des Beckenringbruchs am 3.7.1998 unter vermeidbaren Schmerzen gelitten. Dazu habe sich der Heilungsprozess entsprechend verzögert. Zwar könne die Klägerin nicht den Vollbeweis dafür führen, dass diese Schadensfolgen auf den Behandlungsfehler zurückzuführen seien. Ihr kämen jedoch hinsichtlich der Ursächlichkeit Beweiserleichterungen nach den Grundsätzen zur Verletzung der Pflicht zur Erhebung und Sicherung medizinischer Befunde zugute, weshalb insoweit die Wahrscheinlichkeit der Verursachung für den Kausalitätsnachweis ausreiche.
Hingegen könne nicht festgestellt werden, dass das Nichterkennen der Beckenringfraktur nach Beginn der Mobilisierung zu weiter gehenden negativen Folgen für die Klägerin geführt habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass es weder während der Bettlägerigkeit der Klägerin noch bei ihrer anschließenden Mobilisierung zu einer Verschiebung des Bruches gekommen sei. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sich am Heilungsverlauf nichts verändert, wenn die Beckenringfraktur bereits früher festgestellt und dementsprechend eine Teilentlastung durch Unterarmgehstützen bei Beginn der Mobilisierung angeordnet worden wäre. Zwar sei nicht völlig auszuschließen, dass der festgestellte Behandlungsfehler gewisse Auswirkungen auf den Heilungsverlauf und das Heilungsergebnis gehabt habe. Dies sei im Ergebnis aber so unwahrscheinlich, dass auch unter Berücksichtigung der grundsätzlich möglichen Beweiserleichterungen nicht von einer Mitursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die von der Klägerin geltend gemachten weiteren Folgen ausgegangen werden könne. Allerdings scheide nach der Rechtsprechung des BGH zum groben Behandlungsfehler eine mögliche Beweislastumkehr nur dann aus, wenn es gänzlich unwahrscheinlich sei, dass der grobe Behandlungsfehler zu dem eingetretenen Körperschaden des Patienten geführt habe. Ein derartiger Grad an Unwahrscheinlichkeit werde hier nicht anzunehmen sein, weil der Sachverständige einen Wahrscheinlichkeitsgrad von bis 90 % dafür genannt habe, dass sich am Heilungsverlauf nichts verändert habe. Jedoch müssten dem Patienten Beweiserleichterungen zur Kausalität auch dann, wenn die Voraussetzungen dafür grundsätzlich vorlägen, nicht notwendigerweise zugebilligt werden. Außerdem müsse nicht stets die sehr weit gehende Form der Umkehr der (subjektiven) Beweislast zum Tragen kommen. Vielmehr gebe es auch Beweiserleichterungen unterhalb der Schwelle der Beweislastumkehr. Es liege in der Verantwortung des Tatrichters, im Einzelfall über die Zubilligung von Beweiserleichterungen sowie über deren Umfang, Qualität und jeweilige Reichweite zu entscheiden.
Nach diesen Grundsätzen komme vorliegend eine Beweislastumkehr in der Kausalitätsfrage jedenfalls nicht für denjenigen Körperschaden in Betracht, der über vermeidbare Schmerzen und eine verzögerte Heilung in dem Zeitraum zwischen Beginn der Mobilisierung und Feststellung des Beckenringbruchs hinausgehe. Dafür sei neben der vergleichsweise hohen Wahrscheinlichkeit, dass sich das verzögerte Erkennen des Beckenringbruchs auf den weiteren Heilungsverlauf nicht ausgewirkt habe, der Umstand maßgeblich, dass die versäumte Befunderhebung für die Aufklärung des Sachverhalts keine wesentlichen Schwierigkeiten herbeigeführt habe. Dass eine Beckenringfraktur des später festgestellten Typs schon beim Unfall entstanden sei, lasse sich auch aus den nachträglich angefertigten Röntgenaufnahmen feststellen. Unabhängig vom Zeitpunkt der Feststellung der Fraktur stehe fest, dass die konservative Behandlung mit der tatsächlich erfolgten vierwöchigen Bettruhe eine zumindest gut vertretbare Behandlungsmethode gewesen sei. Schließlich komme es bei derartigen Frakturen in einer größeren Zahl der Fälle auch bei fehlerfreier Behandlung zur Ausbildung einer Pseudarthrose und zu einem für den Patienten unbefriedigenden Heilungsergebnis. Die Klägerin sei daher beweisfällig geblieben. Beweiserleichterungen unterhalb der Beweislastumkehr würden ihr angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass sich bei früherem Erkennen der Fraktur und Mobilisierung unter Teilentlastung durch Unterarmgehstützen am späteren Heilungsverlauf nichts geändert hätte, nicht weiterhelfen.
Die Berufung habe auch hinsichtlich des Feststellungsantrags keinen Erfolg. Da Folgen des Behandlungsfehlers ausschließlich für die Zeit bis zum 3.7.1998 hätten festgestellt werden können, bestünden keine Anhaltspunkte für die Möglichkeit künftiger materieller Schäden als Folge des Behandlungsfehlers.
II.
Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Ohne Rechtsfehler und von der Revision als ihr günstig nicht angegriffen hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass eine Abklärung der von der Klägerin nach Beginn der Mobilisierung geklagten Schmerzen durch eine Röntgenaufnahme hätte veranlasst werden müssen, dass die Beckenringfraktur bei dieser Untersuchung erkannt worden wäre und dass eine Fehlreaktion auf diesen Befund, insbesondere eine Fortsetzung der Mobilisierung ohne gleichzeitige (Teil)Entlastung durch Unterarmgehstützen schlechthin unverständlich und grob fehlerhaft gewesen wäre. Die Revision wendet sich auch nicht gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, es sei zwar nicht auszuschließen, dass der festgestellte Behandlungsfehler die Pseudarthrose und die weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin mitverursacht habe, dies sei jedoch unwahrscheinlich, wenn auch nicht gänzlich unwahrscheinlich.
2. Auf dieser Grundlage beanstandet die Revision jedoch zu Recht, dass das Berufungsgericht eine Beweislastumkehr hinsichtlich der ursächlichen Auswirkungen des Behandlungsfehlers verneint hat.
a) Das Berufungsgericht meint, aus der Rechtsprechung des erkennenden Senats ergebe sich, dass es in der Verantwortung des Tatrichters im Einzelfall liege, über die Zubilligung von Beweiserleichterungen sowie über Umfang und Qualität der eintretenden Beweiserleichterungen zu entscheiden. Das trifft jedoch in dieser Form nicht zu.
b) Zwar hat der erk. Senat verschiedentlich die Formulierung verwendet, dass ein grober Behandlungsfehler, der geeignet sei, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, für den Patienten "zu Beweiserleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast" führen könne (vgl. BGH BGHZ 72, 132 [133 f.]; Urt. v. 21.9.1982 - VI ZR 302/80, BGHZ 85, 212 [215 f.] = MDR 1983, 219; Urt. v. 16.6.1981 - VI ZR 38/80, MDR 1982, 132 = VersR 1981, 954 [955]; Urt. v. 7.6.1983 - VI ZR 284/81, VersR 1983, 983 [984]; Urt. v. 29.3.1988 - VI ZR 185/87, MDR 1988, 852 = VersR 1988, 721 [722]; Urt. v. 18.4.1989 - VI ZR 221/88, MDR 1989, 900 = VersR 1989, 701 f.; Urt. v. 1.10.1996 - VI ZR 10/96, MDR 1997, 147 = VersR 1997, 362 [363]). Insofern kommt jedoch dem Begriff "Beweiserleichterungen" gegenüber der Beweislastumkehr keine eigenständige Bedeutung bei. Soweit es in einigen Entscheidungen heißt (vgl. Urt. v. 28.6.1988 - VI ZR 217/87, MDR 1988, 1045 = VersR 1989, 80 [81]; Urt. v. 26.10.1993 - VI ZR 155/92, MDR 1994, 303 = VersR 1994, 52 [53]; Urt. v. 4.10.1994 - VI ZR 205/93, MDR 1994, 1187 = VersR 1995, 46 [47]), dass das Ausmaß der dem Patienten zuzubilligenden Beweiserleichterungen im Einzelfall danach abzustufen sei, in welchem Maße wegen der besonderen Schadensneigung des Fehlers das Spektrum der für den Misserfolg in Betracht kommenden Ursachen verbreitert oder verschoben worden sei, betrifft dies die Schadensneigung des groben Behandlungsfehlers, also die Frage seiner Eignung, den Gesundheitsschaden des Patienten herbeizuführen. Insoweit geht es um die Bewertung und beweisrechtlichen Konsequenzen eines groben Behandlungsfehlers im konkreten Einzelfall.
c) Das hat der erk. Senat in zahlreichen neueren Entscheidungen verdeutlicht und dabei klargestellt, dass es der Sache nach um die Umkehr der Beweislast geht und dass deren Verlagerung auf die Behandlungsseite im Hinblick auf die geringe Schadensneigung des Fehlers nur ausnahmsweise dann ausgeschlossen ist, wenn der Ursachenzusammenhang zwischen grobem Behandlungsfehler und Schaden gänzlich bzw. äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. BGH, Urt. v. 14.2.1995 - VI ZR 272/93, BGHZ 129, 6 [12] = MDR 1995, 698; Urt. v. 13.1.1998 - VI ZR 242/98, BGHZ 138, 1 [8]; Urt. v. 24.9.1996 - VI ZR 303/95, MDR 1997, 148 = VersR 1996, 1535 [1536]; Urt. v. 1.10.1996 - VI ZR 10/96, MDR 1997, 147 = VersR 1997, 362 [364]; Urt. v. 27.1.1998 - VI ZR 339/96, MDR 1998, 655 = VersR 1998, 585 [586]; Urt. v. 27.6.2000 - VI ZR 201/99, MDR 2000, 1247 = VersR 2000, 1282 [1283]).
d) Bei dieser Betrachtungsweise kann der Formulierung "Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr" nicht die Bedeutung zukommen, die das Berufungsgericht ihr beilegen will. Vielmehr führt ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Dafür reicht aus, dass der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahe legen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden hingegen nicht (vgl. BGH, Urt. v. 21.9.1982 - VI ZR 302/80, BGHZ 85, 212 [216 f.] = MDR 1983, 219; Urt. v. 24.9.1996 - VI ZR 303/95, MDR 1997, 148 = VersR 1996, 1535 [1536], jeweils m. w. N.; Urt. v. 1.10.1996 - VI ZR 10/96, MDR 1997, 147 = VersR 1997, 362 [364]; Beschl. v. 3.5.1994 - VI ZR 340/93 , VersR 1994, 1067). Deshalb ist eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite nur ausnahmsweise ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. BGH, Urt. v. 14.2.1995 - VI ZR 272/93, BGHZ 129, 6 [12] = MDR 1995, 698; Urt. v. 13.1.1998 - VI ZR 242/98, BGHZ 138, 1 [8]; Urt. v. 24.9.1996 - VI ZR 303/95, MDR 1997, 148 = VersR 1996, 1535 [1536], jeweils m. w. N.; Urt. v. 1.10.1996 - VI ZR 10/96, MDR 1997, 147 = VersR 1997, 362 [364]; Urt. v. 27.1.1998 - VI ZR 339/96, MDR 1998, 655 = VersR 1998, 585 [586]; Urt. v. 27.6.2000 - VI ZR 201/99, MDR 2000, 1247 = VersR 2000, 1282 [1283]). Gleiches gilt, wenn sich nicht das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen lässt (vgl. BGH Urt. v. 16.6.1981 - VI ZR 38/80, MDR 1982, 132 = VersR 1981, 954 [955]) oder wenn der Patient durch sein Verhalten eine selbstständige Komponente für den Heilungserfolg vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann (vgl. KG v. 30.4.1990 - 20 U 1833/89, VersR 1991, 928, mit Nichtannahmebeschluss: BGH, Beschl. v. 19.2.1991 - VI ZR 224/90; OLG Braunschweig v. 10.4.1997 - 1 U 21/96, OLGReport Braunschweig 1998, 80 = VersR 1998, 459, mit Nichtannahmebeschluss: BGH, Beschl. v. 20.1.1998 - VI ZR 161/97). Das Vorliegen einer derartigen Ausnahmekonstellation hat allerdings der Arzt zu beweisen (vgl. BGH Urt. v. 16.6.1981 - VI ZR 38/80, MDR 1982, 132 = VersR 1981, 954 [955]; Urt. v. 28.6.1988 - VI ZR 217/87, MDR 1988, 1045 = VersR 1989, 80 [81]; Groß, FSfür Geiß, 429 [431]).
e) Liegen die oben dargestellten Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr vor, so darf sich der Tatrichter nicht darauf beschränken, dem Patienten statt der vollen Beweislastumkehr lediglich abgestufte Beweiserleichterungen zu gewähren, die im übrigen - wie das Berufungsgericht erkennt - der durch den Behandlungsfehler geschaffenen Beweisnot nicht abhelfen könnten. Diese Betrachtungsweise trägt auch den im Schrifttum geäußerten Bedenken Rechnung, dass ein "Ermessen" des Tatrichters bei der Anwendung von Beweislastregeln dem Gebot der Rechtssicherheit zuwiderlaufen würde. Nach diesem müssen der Rechtssuchende bzw. sein Anwalt in der Lage sein, das Prozessrisiko in tatsächlicher Hinsicht abzuschätzen. Des Weiteren würde die Gleichheit der Rechtsanwendung infolge richterlicher Willkür gefährdet sein (vgl. Laumen, NJW 2002, 3739 [3741], m. w. N.; Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozess S. 21 [26]; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 468 f.; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, 2. Aufl., § 823 Anh. C II Rz. 3; Laufs-Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 110 Rz. 3). Deshalb erfolgt die Zuweisung des Risikos der Klärung eines entscheidungserheblichen Tatbestandsmerkmals und damit die Verteilung der objektiven Beweislast in abstrakt-genereller Form. Sie muss vor dem Prozess grundsätzlich feststehen und kann auch während des Prozesses nicht ohne weiteres vom Gericht nach seinem Ermessen verändert werden (vgl. BVerfG v. 25.7.1979 - 2 BvR 878/74, NJW 1979, 1925; Laumen, NJW 2002, 3739 [3741], m. w. N.). Eine flexible und angemessene Lösung wird im Arzthaftungsprozess im Einzelfall dadurch gewährleistet, dass dem Tatrichter die Wertung des Behandlungsgeschehens als grob fehlerhaft vorbehalten ist, wobei er freilich die Ausführungen des medizinischen Sachverständigen zu Grunde zu legen hat (vgl. BGH, Urt. v. 13.1.1998 - VI ZR 242/98, BGHZ 138, 1 [6 f.]; Urt. v. 3.7.2001 - VI ZR 418/99, BGHReport 2001, 683 = VersR 2001, 1116 f.; Urt. v. 29.5.2001 - VI ZR 120/00, MDR 2001, 1115 = BGHReport 2001, 687 = VersR 2001, 1030 f., jeweils m. w. N.).
f) Diese dargestellten Grundsätze gelten nicht nur für den Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen einem groben Behandlungsfehler und dem eingetretenen Gesundheitsschaden, sie gelten entsprechend für den Nachweis des Kausalzusammenhangs bei einem einfachen Befunderhebungsfehler, wenn - wie im Vorliegenden Fall - zugleich auf einen groben Behandlungsfehler zu schließen ist, weil sich bei der unterlassenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde, d. h. für die zweite Stufe der vom Senat entwickelten Beweiserleichterungen nach einem einfachen Befunderhebungsfehler (vgl. dazu BGH, Urt. v. 13.2.1996 - VI ZR 402/94, BGHZ 132, 47 [52 ff.] = MDR 1996, 694; Urt. v. 6.7.1999 - VI ZR 290/98, MDR 1999, 1265 = VersR 1999, 1282 [1283]; Urt. v. 29.5.2001 - VI ZR 120/00, MDR 2001, 1115 = BGHReport 2001, 687 = VersR 2001, 1030 f., jeweils m. w. N.; Urt. v. 8.7.2003 - VI ZR 394/02, VersR 2003, 1256 [1257]; Urt. v. 23.3.2004 - VI ZR 428/02, z. V. b., jeweils m. w. N.; Groß, FSfür Geiß, 429 [432 ff.]; Steffen, FS für Hans Erich Brandner, S. 327 [334 ff.]). Ist das Verkennen des gravierenden Befundes oder die Nichtreaktion auf ihn generell geeignet, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen, tritt also - wenn nicht ein Ursachenzusammenhang zwischen dem ärztlichen Fehler und dem Schaden äußerst unwahrscheinlich ist - grundsätzlich eine Beweislastumkehr ein. In einem derartigen Fall führt nämlich bereits das - nicht grob fehlerhafte - Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird (Groß, FSfür Geiß, 429 [435]).
g) So verhält es sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch im vorliegenden Fall. Der (einfache) Befunderhebungsfehler der Beklagten hat die gebotene und zur Vermeidung des eingetretenen Schadens geeignete Reaktion auf die Beckenringfraktur verhindert und damit die Aufklärung des hypothetischen weiteren Krankheitsverlaufs, der für die Klägerin erheblich günstiger hätte sein können, erschwert. Mithin hätte sich ohne das Fehlverhalten der Beklagten gezeigt, ob bei der Klägerin auch bei fehlerfreier Behandlung des Beckenringbruchs Dauerfolgen in Form einer Pseudarthrose und von andauernden Schmerzen aufgetreten wären.
III.
Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 1159879 |
BGHZ 2005, 48 |
NJW 2004, 2011 |
BGHR 2004, 1077 |
JurBüro 2004, 511 |
ZAP 2004, 861 |
ArztR 2005, 68 |
JA 2004, 861 |
JZ 2004, 1029 |
KrV 2004, 189 |
MDR 2004, 1055 |
MedR 2004, 561 |
VersR 2004, 909 |
GesR 2004, 290 |
KammerForum 2004, 235 |
LMK 2005, 6 |
ProzRB 2004, 291 |
ZMGR 2004, 123 |