Leitsatz (amtlich)

1. Gibt ein Bieter zunächst ein unvollständiges Angebot ab, ist er daran gehindert, nach Ausschluss des Angebotes wegen Unvollständigkeit im nachhinein geltend zu machen, es sei überhaupt nicht möglich gewesen, ein vollständiges Angebot einzureichen.

2. Erhebt ein Bieter nicht bis spätestens mit Abgabe seines Angebots die Rüge, es sei nicht produktneutral ausgeschrieben worden, kann ein in einem möglicherweise nicht produktneutralen Leistungsverzeichnis liegender Vergaberechtsverstoß nicht mehr mit Erfolg vor den Nachprüfungsinstanzen geltend gemacht werden, wenn der Auftraggeber das Angebot wegen Abweichungen von den Verdingungsunterlagen ausschließt.

3. Ist ein Nachprüfungsantrag bereits eingereicht, kann der Bieter neu erkannte mögliche Verstöße gegen das Vergaberecht in das Nachprüfungsverfahren einführen. Das Rügeerfordernis besteht auch im Nachprüfungsverfahren, das Teil des weiterhin laufenden Vergabeverfahrens ist. Der erkannte Vergaberechtsverstoß muss deshalb unmittelbar und unverzüglich gegenüber den Nachprüfungsinstanzen geltend gemacht werden, lediglich eine gesonderte Rügeerhebung gegenüber dem Auftraggeber ist entbehrlich.

4. Ein Bieter ist mit der Geltendmachung eines neu erkannten Verstoßes gegen das Vergaberecht in der Beschwerdebegründung mangels Rüge präkludiert, wenn er den maßgeblichen Vortrag der Vergabekammer nicht unterbreitet hat, obwohl ihm dies ohne weiteres möglich gewesen wäre. Es widerspräche auch dem Beschleunigungsgrundsatz, dass das Beschwerdegericht ein solches Vorbringen überprüft.

 

Normenkette

GWB § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, § 107 Nr. 3, § 113 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Vergabekammer des Landes Brandenburg (Beschluss vom 12.12.2011; Aktenzeichen VK 54/11)

 

Tenor

Der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung der sofortigen Beschwerde vom 23.12.2011 gegen den Beschluss der Vergabekammer des Landes Brandenburg vom 12.12.2011 - VK 54/11 - bis zur Entscheidung über die Beschwerde zu verlängern, wird zurückgewiesen.

Der Antragstellerin wird aufgegeben, sich binnen zwei Wochen zu erklären, ob die sofortige Beschwerde zurückgenommen wird.

 

Gründe

I. Der Auftraggeber schrieb am 16.6.2011 die Lieferung von sechs Thermocontainern auf Tandemfahrgestell europaweit aus. Die Antragstellerin beteiligte sich daran mit einem Angebot. Der Auftraggeber hob diese Ausschreibung jedoch auf, weil kein Angebot eingegangen war, das den Bewerbungsbedingungen entsprach.

Der Auftraggeber führte daraufhin wegen desselben Beschaffungsvorgangs ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durch, an dem drei Unternehmen beteiligt wurden, darunter die Antragstellerin. Die Antragstellerin gab fristgerecht ein Angebot ab. Sie erhob bis zur Angebotsabgabe keine Rügen.

Mit Schreiben vom 10.11.2011 teilte der Auftraggeber der Antragstellerin mit, dass er nicht beabsichtige, auf ihr Angebot den Zuschlag zu erteilen. Ihr Angebot entspreche nicht seinen Anforderungen. Die Antragstellerin habe im von ihr auszufüllenden Leistungsverzeichnis drei Punkte mit "nein" beantwortet.

Die Antragstellerin rief mit Schreiben vom 10.11.2011 die Vergabekammer an. In diesem Schreiben machte sie geltend, sie habe schon bei der aufgehobenen Ausschreibung vermuten müssen, dass der Auftrag unbedingt an ein anderes Unternehmen habe erteilt werden sollen, weil technische Details im Leistungsverzeichnis eindeutig dessen Geräten zugeordnet werden konnten. Im Hinblick auf den Ausschluss ihres Angebotes beanstandete sie, dass Ausschlussgründe nicht vorgelegen hätten. Soweit sie Vibrationswerte in das Leistungsverzeichnis habe aufnehmen sollen, sei unklar, was diese technische Angabe bewirken solle. Die anderen mit "nein" angekreuzten Punkte beeinträchtigten die technische Funktionsweise der Geräte in keiner Weise. Ein Ausschluss aufgrund von Abweichungen im Millimeterbereich sei bei der ausgeschriebenen Straßentechnik nicht akzeptabel. Die Antragstellerin bat die Vergabekammer um Überprüfung der Angebotsvergabe.

Die Vergabekammer antwortete mit Schreiben vom 14.11.2011, dass sie keine Veranlassung sehe, aufgrund des Schreibens der Antragstellerin vom 10.11.2011 ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten, weil es nicht den Anforderungen an einen Nachprüfungsantrag gem. § 108 Abs. 2 GWB entspreche. Insbesondere sei der Nachprüfungsantrag ohne die Erhebung einer Rüge gegenüber dem Auftraggeber unzulässig.

Die Antragstellerin erhob daraufhin mit Schreiben vom 15.11.2011 eine Rüge gegenüber dem Auftraggeber, in der sie die in ihrem Schreiben an die Vergabekammer vom 10.11.2011 genannten Beanstandungen aufführte. Gleichzeitig unterrichtete sie die Vergabekammer von dieser Rüge und erklärte, wegen der offensichtlich an den Geräten des Konkurrenzunternehmens ausgerichteten Leistungsbeschreibung sei die Vergabekammer schon von Amts wegen verpflichtet, Ermittlungen wegen des Verstoßes gegen einen fairen Wettbewerb aufzunehmen.

Die Vergabekammer hat daraufhin die Schreiben der Antragstellerin vom 10.11.2011 und 15.11.2011 dem Auftraggeber z...

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