Verfahrensgang
OLG Celle (Beschluss vom 03.02.2009; Aktenzeichen 22 W 4/09) |
LG Hannover (Beschluss vom 27.11.2008; Aktenzeichen 28 T 28/08) |
LG Hannover (Beschluss vom 27.05.2008; Aktenzeichen 28 T 28/08) |
AG Hannover (Beschluss vom 28.04.2008; Aktenzeichen 43 XIV 48/08 B) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Notwendigkeit einer richterlichen Entscheidung über die Ausschreibung zur Festnahme nach dem Aufenthaltsgesetz.
1. Der Beschwerdeführer ist ein 27 Jahre alter vietnamesischer Staatsangehöriger. Er reiste 2005 mit einem Visum zur Familienzusammenführung in das Bundesgebiet ein und zog nach Plauen. Die Ausländerbehörde ermittelte dann, dass es sich bei der geschlossenen Ehe um eine Scheinehe handelte und verweigerte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Beschwerdeführer erklärte zunächst, freiwillig ausreisen zu wollen, tauchte dann aber unter. Die Ausländerbehörde beantragte beim sächsischen Landeskriminalamt im November 2006 die Ausschreibung des Beschwerdeführers zur Personenfahndung unter Angabe des Zwecks „Festnahme, ausländerrechtliche Maßnahme” und des Anlasses „Ausweisung/ Abschiebung”. Beim Polizeirevier Plauen erstattete die Ausländerbehörde Anzeige wegen des Verdachts des unerlaubten Aufenthalts. Sie teilte mit, dass sie im Falle des Aufgriffs des Beschwerdeführers Abschiebungshaft beantragen wolle.
2. Der Beschwerdeführer wurde nach seinen Angaben am 28. April 2008 durch Beamte des Polizeikommissariats Langenhagen (Niedersachsen) bei einer Gaststättenkontrolle festgenommen. Die Ausländerbehörde der Region Hannover stellte am gleichen Tag einen Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft und beantragte die Bestätigung der behördlichen Freiheitsentziehung.
3. Das Amtsgericht ordnete mit Beschluss vom 28. April 2008 Abschiebungshaft gegen den Beschwerdeführer an und erklärte die vorläufige Ingewahrsamnahme „durch die Verwaltungsbehörde beziehungsweise die Polizei” für rechtmäßig: Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Ingewahrsamnahme beruhe auf § 62 Abs. 4 AufenthG. Die Ausländerbehörde habe den Betroffenen ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und in Gewahrsam nehmen dürfen. Es habe der dringende Verdacht für das Vorliegen der Haftvoraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgelegen. Eine richterliche Entscheidung habe nicht vorher eingeholt werden können, da der begründete Verdacht bestanden habe, dass sich der Beschwerdeführer der Haftanordnung ansonsten entziehen werde.
4. Das Landgericht wies die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 27. Mai 2008 zurück: Die vorläufige Ingewahrsamnahme sei nach § 62 Abs. 4 AufenthG rechtmäßig. Der Betroffene habe festgehalten werden dürfen. Eine vorherige richterliche Entscheidung habe nicht eingeholt werden müssen, weil der Beschwerdeführer unvorhergesehen aufgegriffen worden sei. Auch die Anordnung von Sicherungshaft sei rechtmäßig.
5. Mit seiner sofortigen weiteren Beschwerde machte der Beschwerdeführer hinsichtlich der behördlichen Ingewahrsamnahme geltend, dass ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG vorliege. Aus den Ausländerakten lasse sich entnehmen, dass er zur Festnahme ausgeschrieben gewesen sei. Für diese Ausschreibung hätte die Ausländerbehörde einen richterlichen Festnahmebeschluss erwirken müssen. Das Oberlandesgericht hob daraufhin mit Beschluss vom 5. August 2008 die Entscheidung des Landgerichts auf und verwies die Sache zurück: Soweit das Landgericht die vorläufige Ingewahrsamnahme auf § 62 Abs. 4 AufenthG stütze und eine vorherige richterliche Anordnung nicht für notwendig erachte, genügten die Sachverhaltsfeststellungen nicht. Nach der Rechtsprechung des Senats sei mit der Ausschreibung zur Festnahme zugleich eine vorläufige Haftentscheidung nach § 11 FreihEntzG herbeizuführen. Zu der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Ausschreibung zur Festnahme fehlten die gerichtlichen Feststellungen. Es könne bis zur weiteren Aufklärung dahinstehen, ob der Vorbehalt einer richterlichen Haftanordnung auch dann gelte, wenn der Betroffene längere Zeit unbekannten Aufenthalts gewesen sei. Hinsichtlich der Anordnung von Sicherungshaft fehlten ausreichende Feststellungen zur Beachtung des haftrechtlichen Beschleunigungsgrundsatzes.
6. Mit Beschluss vom 27. November 2008 wies das Landgericht die sofortige Beschwerde erneut zurück: Die vorläufige Ingewahrsamnahme sei gemäß § 62 Abs. 4 AufenthG rechtmäßig gewesen. Eine einstweilige Anordnung nach § 11 FreihEntzG habe nicht eingeholt werden können, da der Beschwerdeführer unvorhergesehen von der Polizei angetroffen worden sei. Wäre mit seiner Ausschreibung zur Festnahme im Jahr 2006 eine Anordnung nach § 11 FreihEntzG erwirkt worden, wäre diese am 27. April 2008 nicht mehr wirksam gewesen.
7. Mit der sofortigen weiteren Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, dass es hier an einer richterlichen Entscheidung im Zusammenhang mit der Ausschreibung zur Festnahme fehle. Der Umstand, dass bei einem über einen längeren Zeitraum Untergetauchten eine einstweilige Anordnung mehrfach verlängert werden müsse, sei zwar mit Mehraufwand für Behörden und Gerichte verbunden. Dies könne nicht dazu führen, dass zwingende verfassungsrechtliche Vorgaben missachtet würden.
8. Das Oberlandesgericht verwies auf die sofortige weitere Beschwerde die Sache mit Beschluss vom 3. Februar 2009 teilweise an das Landgericht zurück; soweit sich die sofortige weitere Beschwerde auf die Inhaftierung bis zur richterlichen Haftanordnung bezog, blieb sie ohne Erfolg: Die Maßnahme habe auf § 62 Abs. 4 AufenthG gestützt werden können. Zwar sei mit der Ausschreibung zur Festnahme eine vorläufige Haftentscheidung nach § 11 FreihEntzG herbeizuführen. Bei uneingeschränkter Geltung dieses Rechtssatzes müsste diese alle sechs Wochen wiederholt werden. Dies könne nur dann geschehen, wenn das Amtsgericht aufgrund der zur Verfügung stehenden Erkenntnisse überhaupt in der Lage sei, die Voraussetzungen für die Haftanordnung noch zu prüfen. Fehle es an der Möglichkeit einer richterlichen Entscheidung, stehe der Ausländerbehörde die Möglichkeit der Ausschreibung zur Festnahme auch ohne Haftanordnung zur Verfügung. Gerade für diesen Fall sei auch § 62 Abs. 4 AufenthG vorgesehen. Zwar hätte mit der ersten Ausschreibung des Beschwerdeführers zur Festnahme ein richterlicher Beschluss beantragt werden müssen. Dies wirke sich aber nicht zu Gunsten des seit geraumer Zeit untergetauchten Beschwerdeführers aus. Bis zum Zeitpunkt der Festnahme habe eine verlässliche Grundlage für eine die Haft anordnende Entscheidung des Gerichts nicht vorgelegen.
9. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG: Die Festnahme sei geplant, nämlich aufgrund einer Ausschreibung zur Festnahme, erfolgt. Bei dieser Sachlage hätte die zuständige Behörde einen Festnahmebeschluss erwirken müssen. Die Argumentation des Oberlandesgerichts, weshalb dies hier nicht der Fall sein solle, genüge den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht. Es könnten sich bereits kurz nach dem Untertauchen Gründe ergeben, weshalb die Anordnung von Sicherungshaft unzulässig werden könne. Sämtliche aufenthaltsrechtlichen Statusänderungen, die Einfluss auf das Vorliegen der Haftgründe haben könnten, bedürften der Vorsprache bei der Ausländerbehörde, die dann, wenn die Haftgründe nicht mehr vorlägen, reagieren und die Ausschreibung zur Festnahme löschen und den vorher beantragten Haftbeschluss nicht vollstrecken lassen könnte und müsste. Die Neuregelung des § 62 Abs. 4 AufenthG führe nicht weiter, diese betreffe allenfalls ungeplante Festnahmen. Der Beschwerdeführer sei der Ausländerbehörde bekannt, ebenso, dass er seiner Ausreisepflicht nicht nachgekommen sei: Es sei nur unklar gewesen, wann er angetroffen werde.
Entscheidungsgründe
II.
Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig und im Übrigen offensichtlich unbegründet.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen den Beschluss des Landgerichts vom 27. Mai 2008 richtet, da von diesem keine Wirkungen mehr ausgehen. Er ist mit Beschluss des Oberlandesgerichts vom 5. August 2008 aufgehoben worden.
Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde weiterhin, soweit sich die angegriffenen Beschlüsse mit der richterlichen Haftanordnung vom 28. April 2008 und ihrer Rechtmäßigkeit befassen. Insoweit ist der Rechtsweg nicht erschöpft. Nach der Teilaufhebung des Beschlusses des Landgerichts vom 27. November 2008 durch den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 3. Februar 2009 befindet sich das Verfahren erneut im Stadium der sofortigen Beschwerde.
2. Im Übrigen erweist sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet. Der behauptete Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG lässt sich nicht feststellen.
a) Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪323≫). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (BVerfGE 105, 239 ≪248≫; vgl. zu Art. 13 Abs. 2 GG: BVerfGE 103, 142 ≪151 ff.≫).
Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. BVerfGE 22, 311 ≪317≫). Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet in einem solchen Fall, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪321≫). „Unverzüglich” ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (vgl. BVerfGE 105, 239 ≪249≫). Nicht vermeidbar sind zum Beispiel Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind (vgl. BVerfGE 103, 142 ≪156≫; 105, 239 ≪249≫).
b) Gemessen an diesen Maßstäben halten die angegriffenen Entscheidungen einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Die Gerichte haben ohne Verfassungsverstoß festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme in Anwendung von § 62 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ohne vorherige gerichtliche Entscheidung erfolgen durfte.
aa) Für die Frage, ob der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, ist auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Freiheitsentziehung abzustellen. Daraus folgt, dass von der Ausländerbehörde konkret geplante Freiheitsentziehungen regelmäßig einer vorherigen richterlichen Anordnung bedürfen und Vollzugsbeamte der Polizei, die von der Ausländerbehörde gebeten worden sind, einen Ausländer im Wege der Amtshilfe in Gewahrsam zu nehmen, sich regelmäßig nicht mit Erfolg darauf berufen können, dass zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung eine richterliche Anordnung nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden könne.
Anders liegt der Fall, wenn ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer untertaucht und infolgedessen für die zu diesem Zeitpunkt zuständige Ausländerbehörde nicht mehr greifbar ist. Dann ist nicht absehbar, ob später die Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen und welche Behörde gegebenenfalls für eine Ingewahrsamnahme zuständig sein wird; eine Festnahme im Falle des Aufgreifens des betroffenen Ausländers kann lediglich abstrakt geplant sein, da weder Aufgriffsort noch -zeitpunkt abgeschätzt werden können. Ein untergetauchter, vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer kann daher bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 62 Abs. 4 AufenthG zum Zwecke der Vorführung vor den Haftrichter ohne Verstoß gegen Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG durch die Exekutive in Gewahrsam genommen werden.
bb) Die Ausschreibung zur Festnahme nach § 50 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf von Verfassungs wegen keiner richterlichen Anordnung. Auf die vom Oberlandesgericht erörterte Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Festnahme trotz Unterbleibens einer vorläufigen Haftentscheidung nach § 11 FreihEntzG bei der Ausschreibung rechtmäßig ist, kommt es daher nicht an.
Mit der Ausschreibung zur Festnahme nach § 50 Abs. 7 Satz 1 AufenthG räumt das Gesetz der Ausländerbehörde die Möglichkeit ein, auf polizeiliche Fahndungsmaßnahmen zum Zweck der Aufenthaltsbeendigung von Ausländern, deren Aufenthalt unbekannt ist, zurückzugreifen. Als nicht geschriebenes Tatbestandsmerkmal ist das Vorliegen von Haftgründen nach § 62 AufenthG zu prüfen, da nur dann, wenn eine Inhaftierung erfolgen darf, eine Ausschreibung zur Festnahme gerechtfertigt sein kann. Ob eine Ingewahrsamnahme durch die Exekutive in der konkreten Situation des Ergreifens zulässig ist, bestimmt sich nicht nach § 50 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Die Norm enthält nur die Ermächtigung zur Nutzung der Fahndungshilfsmittel der Polizei, nicht aber eine Ermächtigung zu Freiheitsentziehungen (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: Oktober 2008, § 50 AufenthG Rn. 44 ff.); diese findet sich in § 62 Abs. 4 AufenthG. Die Ausschreibung zur Festnahme nach § 50 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lässt für die Polizei als Nutzer der Fahndungshilfsmittel zwar erkennen, dass die zum Zeitpunkt der Ausschreibung zuständige Ausländerbehörde nach eigenverantwortlicher Prüfung Haftgründe nach § 62 AufenthG bejaht hat. Die Entscheidung über die Ingewahrsamnahme bleibt aber der eigenverantwortlich nach § 62 Abs. 4 AufenthG tätig werdenden Behörde überlassen. Da die Ausschreibung zur Festnahme keine Bindungswirkung entfaltet, bedarf sie auch unter dem Gesichtspunkt etwaiger aus Art. 104 Abs. 2 GG abzuleitender Vorwirkungen keiner gerichtlichen Anordnung.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Osterloh, Mellinghoff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 2168930 |
NVwZ 2009, 1034 |
InfAuslR 2009, 301 |
ZAR 2009, 356 |
NPA 2010 |