Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
LG Hannover (Beschluss vom 21.01.2009; Aktenzeichen 40 Qs 8/09 1402 AR 50806/06) |
AG Hannover (Beschluss vom 30.12.2008; Aktenzeichen 232 AR 7/06) |
Tenor
1. Die Vollziehung der Beschlüsse des Amtsgerichts Hannover vom 30. Dezember 2008 – 232 AR 7/06 – und des Landgerichts Hannover vom 21. Januar 2009 – 40 Qs 8/09 1402 AR 50806/06 – wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde – längstens für die Dauer von sechs Monaten – ausgesetzt.
2. Das Land Niedersachen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen für das Verfahren der einstweiligen Anordnung zu ersetzen.
Tatbestand
I.
Der am 1. August 1982 geborene Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die vom Amtsgericht Hannover erlassene und vom Landgericht Hannover bestätigte Anordnung der Entnahme einer Speichelprobe oder einer Blutprobe sowie der molekulargenetischen Untersuchung der dadurch erlangten Körperzellen zum Zweck der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren.
Entscheidungsgründe
II.
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 ≪42≫; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 ≪66≫; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
a) Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greifen in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein (vgl. BVerfGE 103, 21 ≪32 f.≫). Die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO gehalten, die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung angemessen zu berücksichtigen. Deswegen muss das Gericht im Fall einer Anordnung nach § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO einzelfallbezogen darlegen, warum die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichsteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 2007 – 2 BvR 1293/07 –, juris, Rn. 5). Es bedarf ferner einer Darlegung positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Weiter erhöhte Begründungsanforderungen bestehen, wenn ein anderes Gericht bereits im Rahmen der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung eine günstige Sozialprognose getroffen hat (vgl. nur BVerfGE 103, 21 ≪35 ff.≫).
b) Dass die angefochtenen Entscheidungen diesen Anforderungen genügen, erscheint zweifelhaft.
Eine einzelfallbezogene Darlegung, dass der Beschwerdeführer künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird, lässt sich den angefochtenen Beschlüssen allenfalls insofern entnehmen, als im Beschluss des Amtsgerichts darauf hingewiesen wird, dass der Beschwerdeführer strafrechtlich schon zuvor in Erscheinung getreten sei. Dieser Hinweis dürfte jedoch schon deshalb nicht genügen, weil das Amtsgericht auf Eintragungen im Erziehungsregister (§ 60 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 7 i.V.m. § 5 Abs. 2 BZRG) Bezug genommen hat, obwohl die Voraussetzungen für eine Entfernung aus dem Erziehungsregister mit Vollendung des 24. Lebensjahres des Beschwerdeführers am 1. August 2006 vorlagen (§ 63 Abs. 1 BZRG). Die betreffenden Taten und Verurteilungen durften zum Nachteil des Beschwerdeführers mithin nicht mehr verwertet werden (§ 63 Abs. 4, § 51 Abs. 1 BZRG; vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 1991 – 3 StR 164/91 –, juris, sowie LG Aachen, Beschluss vom 29. September 2003 – 65 Qs 99/03 –, StV 2004, S. 9).
Abgesehen hiervon ist nicht ersichtlich, welche Anhaltspunkte das Amtsgericht am 30. Dezember 2008 zu der Annahme bewogen habe, dass der Beschwerdeführer zukünftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werde, nachdem der entscheidende Richter weniger als einen Monat vorher im Rahmen der mit Urteil vom 3. Dezember 2008 getroffenen Bewährungsentscheidung ausdrücklich ausgeführt hatte, das Gericht gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer sich die Verurteilung als solche zur Warnung dienen lassen und auch ohne den Vollzug der Freiheitsstrafe keine weiteren Straftaten mehr begehen werde.
Der Beschluss des Landgerichts enthält keine über die Begründung des Amtsgerichts hinausgehenden Erwägungen in der Sache und unterliegt bei vorläufiger verfassungsrechtlicher Würdigung mithin den gleichen Bedenken.
3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so könnte die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen des Antragstellers in der Zwischenzeit vollzogen werden. Der mit einer solchen Vollziehung verbundene Eingriff in die Grundrechte des Antragstellers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG könnte auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollends rückgängig gemacht werden.
b) Gegenüber diesem irreparablen Rechtsverlust, der dem Antragsteller droht, wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg hätte, weniger schwer. Zwar könnte in diesem Fall die gegen den Antragsteller ergangene Anordnung der Entnahme und Untersuchung von Körperzellen vorübergehend nicht vollzogen werden. Es ist aber nicht ersichtlich, dass wegen dieser Verzögerung ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre. Auf der Grundlage der angefochtenen Beschlüsse, des Urteils vom 3. Dezember 2008 und des Beschwerdevortrags ist davon auszugehen, dass der Antragsteller jedenfalls seit Mai 2005 ein straffreies Leben führt. Vor diesem Hintergrund hat offenbar auch das Amtsgericht die Entnahme und molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers nicht als besonders dringlich eingestuft. Die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen erfolgte erst über zwei Jahre nach Antragstellung durch die Staatsanwaltschaft.
4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 2145359 |
NPA 2010 |