Verfahrensgang
LG Berlin (Beschluss vom 31.01.2007; Aktenzeichen 81 T 1003/06) |
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 31. Januar 2007 – 81 T 1003/06 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
3. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen die Frage der Berücksichtigung einer im Zuge des Zwangsversteigerungsverfahrens in der Person der Beschwerdeführerin als Vollstreckungsschuldnerin aufgetretenen Suizidgefahr, die nach der Erteilung des Zuschlages erstmals mit der dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde geltend gemacht wurde.
I.
1. Die Beschwerdeführerin bewohnt ein – bis zur Zuschlagserteilung im Zwangsversteigerungsverfahren in ihrem Eigentum stehendes – Haus in Berlin, in das wegen offener Forderungen gegen sie die Zwangsvollstreckung betrieben wurde. Sie stellte zunächst einen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO, den sie mit der Gefahr einer Zwangsversteigerung weit unter dem tatsächlichen Wert des Anwesens begründete. Das Amtsgericht wies den Antrag zurück und erließ zugleich den Zuschlagsbeschluss. Hiergegen erhob die Beschwerdeführerin sofortige Beschwerde. Zur Begründung trug sie nun unter Vorlage der Bescheinigung eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, an den sie ausweislich des vorgelegten Attestes “notfallmäßig” überwiesen worden war, erstmals vor, die weitere Durchführung des Zwangsversteigerungsverfahrens sei mit einer ernsthaften Gefahr für ihr Leben verbunden. Im Falle der Aufrechterhaltung der Zuschlagserteilung bestehe akute Suizidgefahr.
Das Amtsgericht half der sofortigen Beschwerde ab, hob den Zuschlagsbeschluss auf und stellte das Zwangsversteigerungsverfahren für die Dauer von sechs Monaten ein. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Vollstreckungsgläubigerin und desjenigen, dem der Zuschlag erteilt worden war, hatte Erfolg: Das Landgericht hob die Abhilfeentscheidung des Amtsgerichts auf und stellte den vorhergehenden Zustand wieder her.
Zur Begründung führte das Landgericht aus, der Abhilfebeschluss des Amtsgerichts sei aufzuheben, ohne dass es auf das neue Vorbringen der Beschwerdeführerin ankomme. Der Abhilfeentscheidung des Amtsgerichts stehe bereits § 100 Abs. 1 ZVG entgegen, da kein Zuschlagsversagungsgrund vorgelegen habe und keine der in § 83 ZVG genannten Vorschriften verletzt worden sei. Mit dem Vorbringen zu ihrer Suizidgefährdung habe die Beschwerdeführerin einen neuen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO gestellt und nicht einen bereits zuvor gestellten Antrag nachträglich mit weiteren Gründen versehen. Ein neuer Antrag könne aber mit der Zuschlagsbeschwerde nicht angebracht werden.
2. Mit ihrer gegen diesen Beschluss des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Das Landgericht habe sich – aufgrund seiner unzutreffenden Beurteilung der Rechtslage – mit ihrem Vorbringen in der Sache nicht auseinander gesetzt und deswegen die durch die Zwangsvollstreckung hervorgerufene Gefahr für ihr Leben nicht in Betracht gezogen. Der aus dem Zuschlag Begünstigte (Ersteher) hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG): Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind geklärt (vgl. BVerfGE 52, 214), und die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
Die angegriffene Entscheidung wird dem Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht.
1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet auch die Vollstreckungsgerichte, bei der Auslegung und Anwendung der vollstreckungsrechtlichen Verfahrensvorschriften der Wertentscheidung des Grundgesetzes Rechnung zu tragen und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. In besonders gelagerten Einzelfällen kann dies dazu führen, dass die Vollstreckung aus einem vollstreckbaren Titel für einen gewissen, auch längeren Zeitraum einzustellen ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG konkret zu besorgen ist und eine an dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung zwischen den widerstreitenden, grundrechtlich geschützten Interessen der an der Vollstreckung Beteiligten zu einem Vorrang der Belange des Schuldners führt (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪220≫). Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪220 f.≫).
Ob dies geschehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht zu überprüfen, auch wenn die Auslegung und Anwendung der einfachgesetzlichen Vorschriften in erster Linie der Entscheidung der Fachgerichte anheim gegeben ist (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪219≫).
2. Daran gemessen trägt die angegriffene Entscheidung mit der gegebenen Begründung dem Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinreichend Rechnung.
Das Landgericht zieht die von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren erstmals vorgetragene Suizidgefahr ausdrücklich nicht in Erwägung und erachtet sie als rechtlich unerheblich. Dabei übersieht es, dass bereits nach der neueren, in Abgrenzung zu einer früheren Entscheidung (BGHZ 44, 138) ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners wegen der Zwangsversteigerung seiner Immobilie zur Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und zur einstweiligen Einstellung des Verfahrens auch dann führen kann, wenn sich die Gefahr erst nach dem Zuschlagsbeschluss während des Beschwerdeverfahrens auf Grund zu Tage tretender neuer Umstände ergibt (so BGH NJW 2006, S. 505 mit Besprechung von Beyer ZfIR 2006, S. 535; K. Schmidt JuS 2006, S. 564). In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob – wie hier – die auf den Zuschlagsbeschluss zurückzuführende Gefahr der Selbsttötung sich erstmals nach seinem Erlass gezeigt hat oder ob sie – wie in dem der zitierten Entscheidung zugrunde liegenden Fall – latent bereits vor dessen Erlass vorhanden war und sich durch den Zuschlag im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat.
Daher ist die vom Landgericht angeführte Erwägung, bei dem Vorbringen der Beschwerdeführerin handele es sich um einen neuen Antrag nach § 765a ZPO und nicht um die zusätzliche Begründung eines bereits zuvor gestellten Antrags, nicht nur einfachrechtlich unzutreffend. Die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin zu einer möglichen Suizidgefahr wird zudem der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht der Vollstreckungsorgane aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter den hier gegebenen besonderen Umständen nicht gerecht.
In der Regel wird zwar die bloße Geltendmachung einer suizidalen Gefährdung, auch wenn sie ärztlich attestiert ist, nicht zu einer Aussetzung des Zuschlagsverfahrens zwingen. Eine solche, erhebliche Suizidgefahr, die schon auf die Zuschlagserteilung selbst und nicht erst auf eine sich daran anschließende etwaige Räumungsvollstreckung zurückzuführen ist, erscheint grundsätzlich eher unwahrscheinlich. Denn von dem Verlust der Rechtsposition des Eigentümers geht naturgemäß zumeist kein so gewichtiger Einschnitt für die Lebensführung des Vollstreckungsschuldners aus, wie das bei dem bevorstehenden Verlust der Wohnung der Fall ist. Dennoch war das Landgericht hier gehalten, dem Vortrag der Beschwerdeführerin nachzugehen. Zum Beleg ihrer Behauptung hatte sie eine aktuell erstellte, im Laufe des Beschwerdeverfahrens durch eine weitere Bescheinigung bestätigte Einschätzung ihres Gesundheitszustandes durch einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie vorgelegt. Diesen hatte die Beschwerdeführerin nicht aus eigener Initiative aufgesucht. Vielmehr war sie dem klinisch tätigen Psychiater durch den Leiter der internistischen Abteilung einer anderen großen Klinik – ausweislich der fachärztlichen Bescheinigung – “notfallmäßig” zugewiesen worden. Bei dieser Sachlage durfte das Landgericht über die dargelegte und belegte Suizidgefahr nicht hinweggehen. Es hätte sie vielmehr in seine Prüfung einbeziehen müssen (vgl. § 83 Nr. 6, § 100 Abs. 3 ZVG; BGH NJW 2006, S. 505 ≪507≫).
3. Die angegriffene Entscheidung ist daher – auch unter Berücksichtigung des Vortrags des Erstehers (95 Abs. 2 BVerfGG; vgl. BVerfGE 89, 381 ≪393 ff.≫) – aufzuheben. Bei der nunmehr vorzunehmenden Würdigung des Vorbringens der Beschwerdeführerin wird das Landgericht zunächst zu klären haben, ob – wie unter Vorlage der fachärztlichen Bescheinigung behauptet – eine konkrete Suizidgefahr der Beschwerdeführerin besteht (vgl. insbesondere BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juni 2005 – 1 BvR 224/05 –, JURIS). Zudem wird zu klären sein, ob gerade der Eigentumsverlust durch den Zuschlag sich als maßgeblicher Grund für die behauptete Suizidgefahr erweist, oder ob diese vornehmlich auf eine bevorstehende Räumung des Anwesens und den Verlust der Wohnung zurückzuführen ist (vgl. BGH NJW 2006, S. 505). Dabei wird das Landgericht neben dem Umstand, dass es sich bei einer auf den Zuschlagsbeschluss zurückzuführenden Suizidgefahr um eine Ausnahme handelt, auch in Betracht zu ziehen haben, dass die weiteren im Verlauf des zwischenzeitlich betriebenen Räumungsvollstreckungsverfahrens von der Beschwerdeführerin vorgelegten fachärztlichen Bescheinigungen maßgeblich auf die Räumung und nicht auf den Zuschlagsbeschluss als Ursache für die Gefährdung der Beschwerdeführerin abstellen. Nur für den Fall, dass beide Fragen zugunsten der Beschwerdeführerin bejaht werden können, hat sich im Hinblick auf die Zuschlagserteilung eine umfassende, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Würdigung der Gesamtumstände anzuschließen, die sowohl den dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechten als auch den gewichtigen, ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen der anderen Beteiligten des Zwangsversteigerungsverfahrens Rechnung trägt (vgl. BVerfGE 52, 214 ≪219 f.≫; BGHZ 163, 66; BGH NJW 2006, S. 508). Im Rahmen dieser gegebenenfalls vorzunehmenden Abwägung wäre zugleich zu prüfen, ob der Gefahr nicht auf andere Weise als durch die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und eine vorübergehende Einstellung der Zwangsvollstreckung begegnet werden kann (vgl. BGHZ 163, 66 zu einer durch Zwangsräumung hervorgerufenen Suizidgefahr).
Unterschriften
Bryde, Eichberger, Schluckebier
Fundstellen
Haufe-Index 1776257 |
NJW 2007, 2910 |
FamRZ 2007, 1717 |
JurBüro 2007, 494 |
NZM 2007, 739 |
WM 2007, 1666 |
WuB 2007, 879 |
DGVZ 2007, 171 |
FPR 2007, 460 |
WuM 2007, 563 |
ZfF 2007, 270 |
FamRB 2007, 288 |
Info M 2008, 35 |