Entscheidungsstichwort (Thema)
Aberkennung des Ruhegehalts durch wehrdisziplinarische Entscheidung
Beteiligte
Rechtsanwalt Dr. Hannes Kaschkat |
Verfahrensgang
Tenor
1. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. März 1994 – BVerwG 2 WD 19.93 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes auf ein faires disziplinargerichtliches Verfahren. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine wehrdisziplinargerichtliche Entscheidung, durch die dem Beschwerdeführer, einem früheren Berufssoldaten im Rang eines Hauptfeldwebels, das Ruhegehalt aberkannt wird.
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b und § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung angenommen. Die Kammer ist zur Sachentscheidung berufen, weil das Bundesverfassungsgericht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat und die Verfassungsbeschwerde danach offensichtlich begründet ist.
1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires disziplinargerichtliches Verfahren.
a) Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip garantiert das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 57, 250 ≪274 f.≫; 75, 183 ≪190 f.≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Dezember 1995 – 2 BvR 2033/95 –, NJW 1996, S. 1811 f.). Der in der Rechtsprechung anerkannte Anspruch auf ein faires gerichtliches Verfahren gilt als generelles Prinzip in allen Prozessordnungen (vgl. für das Strafverfahren: BVerfGE 26, 66 ≪71≫; 57, 250 ≪274≫; für das Disziplinarverfahren: BVerfGE 38, 105 ≪111≫ und Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juli 1992 – 2 BvR 1802/91 –, EuGRZ 1993, S. 28 ≪36≫; für das Zivilverfahren: BVerfGE 75, 183 ≪191≫; für das Verwaltungsstreitverfahren: Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1999 – 2 BvR 206/98 –, NVwZ 1999, Beilage, S. 51 f.).
Das Bundesverfassungsgericht hat für das Strafverfahren entschieden, dass der allgemeine Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren verfahrensrechtliche Vorkehrungen zur Ermittlung des wahren Sachverhalts voraussetzt, ohne die das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann. Das Recht auf ein faires Verfahren als eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, das in der Verfassung nur zum Teil näher konkretisiert ist, enthält keine im Einzelnen bestimmten Gebote und Verbote; es bedarf vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dabei ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, zwischen möglichen Alternativen bei der normativen Konkretisierung eines Verfassungsgrundsatzes zu wählen. Erst wenn sich unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip selbst angelegten Gegenläufigkeiten ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus diesem allgemeinen Prozessgrundrecht konkrete Forderungen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens im Rahmen der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250 ≪275 f.≫; 77, 65 ≪76≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. August 1996 – 2 BvR 1304/96 –, NStZ 1997, S. 94 f.). Der Grundsatz fairer Verfahrensführung verwehrt es den Gerichten deshalb generell, aus eigenen oder ihnen zurechenbaren Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile für die Beteiligten abzuleiten (BVerfGE 75, 183 ≪190≫; 78, 123 ≪126≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Dezember 1995 – 2 BvR 2033/95 –, NJW 1996, S. 1811 f.).
Für das Wehrdisziplinarverfahren hat das Bundesverfassungsgericht in dem Fall eines durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Major zum Hauptmann degradierten Berufssoldaten den Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren konkretisiert (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juli 1992 – 2 BvR 1802/91 –, EuGRZ 1993, S. 28). Dabei ist es verfassungsrechtlich um das Verhältnis von Meinungsfreiheit und der Verletzung soldatischer Dienstpflichten zu Kameradschaft und achtungswürdigem Verhalten gegangen. Das Bundesverfassungsgericht hat aus der freiheitssichernden Funktion des Grundrechts auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG für das Verhältnis von Disziplinarrecht und Meinungsfreiheit die Pflicht hergeleitet, „dass der Richter den Inhalt von Meinungsäußerungen unter Heranziehung des gesamten Kontextes einer Erklärung objektiv und sachlich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen, sozialen und politischen Geschehens, in dem sie gefallen ist, ermittelt und in der Begründung seiner Entscheidung erkennen lässt, dass er seine Einschätzung auf diese Weise gewonnen hat” (BVerfG, aaO, EuGRZ 1993, S. 28 ≪36≫).
b) Eine solche Aufklärungspflicht gilt nicht nur im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Sie erstreckt sich auf alle für die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme maßgeblichen Umstände. An diesen Grundsätzen gemessen, hält die angegriffene Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht der verfassungsgerichtlichen Prüfung nicht stand. Sie verletzt den Anspruch des Beschwerdeführer auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.
Das Bundesverwaltungsgericht stellt im Ergebnis zwar zutreffend fest, dass der Beschwerdeführer durch die zunächst unvollständige Auszahlung von Verpflegungsgeldern in Höhe von insgesamt 574,00 DM an fünfzehn zur Entlassung anstehende Wehrpflichtige ein Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 SG begangen hat. Das Bundesverwaltungsgericht beurteilt das Dienstvergehen disziplinarrechtlich als den von Zueignungswillen getragenen strafbaren Zugriff des Beschwerdeführers auf Eigentum und Vermögen des Dienstherrn, das ihm zur Verwaltung und Verwahrung anvertraut war. Diese für die verhängte disziplinare Höchstmaßnahme – hier: Aberkennung des Ruhegehalts – maßgebliche rechtliche Einordnung und Bewertung des Dienstvergehens als den „Versuch vorsätzlicher rechtswidriger Zueignung” an dem Geld beruht vorliegend auf keiner den Anforderungen an ein faires Verfahren genügenden Tatsachengrundlage.
Das Bundesverwaltungsgericht kann sich für die Feststellung, der Beschwerdeführer habe sich die unvollständig ausgekehrten Verpflegungsgelder zueignen wollen, nicht auf ein strafgerichtliches Urteil oder sonstige strafverfahrensrechtliche Maßnahmen – etwa nach § 153a StPO – stützen. Zu einem Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer kam es nicht. Der Beschwerdeführer hatte das unvollständig ausgezahlte Geld noch nicht an sich genommen. Noch während des Auszahlungsvorgangs wurden die Falschauszahlungen bekannt; der Beschwerdeführer selbst kehrte die erforderlichen Nachzahlungen an die remonstrierenden Wehrpflichtigen aus. Nach den Feststellungen des Truppendienstgerichts konnte die dem Beschwerdeführer „zur Last gelegte Zueignungsabsicht nicht mit der für die Verurteilung notwendigen Sicherheit als nachgewiesen angesehen” werden. Zur Begründung wies das Truppendienstgericht darauf hin, dass kein nachprüfbares oder auch nur nachvollziehbares sonstiges Motiv für die fehlerhafte Auszahlung der Verpflegungsgelder erkennbar geworden sei.
Das Bundesverwaltungsgericht genügt mit seiner im Hinblick auf das Merkmal „Zueignungsabsicht” vom Truppendienstgericht abweichenden tatrichterlichen Beurteilung des disziplinarrechtlich geahndeten Verhaltens des Beschwerdeführers der ihm von Amts wegen gemäß den §§ 118, 102 Abs. 1 WDO aufgegebenen Pflicht zur Erforschung der Wahrheit nicht. Ursächlich dafür ist, dass es an jeder strafgerichtlichen Aufklärung des Falls fehlt und dass das Bundesverwaltungsgericht, entgegen den Feststellungen des Ausgangsgerichts und ohne weitere eigene, darauf gerichtete Ermittlungen anzustellen, annimmt, der Beschwerdeführer habe bei den Falschauszahlungen mit Zueignungswillen gehandelt. Der Verletzung dieser tatrichterlichen Aufklärungspflicht kommt im Hinblick auf die dadurch regelmäßig zwangsläufig ausgelöste Folgewirkung – die Ahndung des Dienstvergehens mit der disziplinaren Höchstmaßnahme durch Aberkennung des Ruhegehalts – ausnahmsweise verfassungsrechtliches Gewicht zu. Das prozessuale Grundrecht auf ein rechtsstaatlich effektives und faires Verfahren erfordert im vorliegenden Einzelfall eine weitere Sachverhaltsaufklärung, weil nur die auf zureichender Tatsachengrundlage gewonnene Erkenntnis über den Zueignungswillen des Beschwerdeführers an dem von ihm zurückbehaltenen Geld die verhängte disziplinare Höchstmaßnahme unter Verhältnismäßigkeitskriterien rechtfertigen kann.
Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Dezember 1988 – 2 BvR 1522/88 –; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juni 1999 – 2 BvR 1079/98 –) und Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 27. Januar 1987 – 2 WD 11.86 –, BVerwGE 83, 273; Urteil vom 24. Januar 1996 – 2 WD 26.95 –, BVerwGE 103, 290 und Urteil vom 23. Oktober 1996 – 1 D 55.96 –, BVerwGE 113, 8) setzt die Verhängung der disziplinaren Höchstmaßnahme gegenüber Beamten oder Soldaten auf Grund von Dienstvergehen, die den Zugriff auf ihnen dienstlich anvertraute Gelder oder Vermögenswerte betreffen, regelmäßig die Strafbarkeit der begangenen Tathandlung voraus.
2. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Jentsch, Di Fabio
Fundstellen
Haufe-Index 565364 |
ZBR 2001, 208 |
DVBl. 2001, 118 |
NPA 2000 |
www.judicialis.de 2000 |