Verfahrensgang
OLG Koblenz (Beschluss vom 30.10.2012; Aktenzeichen 2 VAs 5/12) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Oktober 2012 – 2 VAs 5/12 – und die Gnadenentscheidung vom 21. Dezember 2011 – 110 Gns 85/05 (2010 Js 9520/03 – 2899 VRs) – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Oktober 2012 – 2 VAs 5/12 – wird aufgehoben. Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten an das Oberlandesgericht Koblenz zurückverwiesen.
3. Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den Widerruf einer Gnadenentscheidung.
I.
Mit Gnadenentscheidung vom 21. Dezember 2006 wurde die Vollstreckung einer durch Strafbefehl vom 22. Juli 2003 verhängten Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers, deren Aussetzung zur Bewährung im Jahr 2005 widerrufen worden war, erneut zur Bewährung ausgesetzt. In einem Begleitschreiben erfolgte ein Hinweis, dass die Strafaussetzung unter anderem bei Begehung einer Straftat in der Bewährungszeit widerrufen werden könne. In der Gnadenentscheidung wurde die Bewährungszeit zunächst auf drei Jahre festgesetzt, im Jahr 2008 bis zum 20. Dezember 2010 verlängert.
Wegen eines am 6. Juli 2009 begangenen Betrugs wurde der Beschwerdeführer am 15. Oktober 2010 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Der Beschwerdeführer legte Berufung gegen das Urteil ein, welche er in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Koblenz am 21. März 2011 auf das Strafmaß beschränkte. Die Verurteilung wurde aufgrund Beschlusses des Oberlandesgerichts Koblenz vom 3. August 2011 rechtskräftig, mit dem die Revision des Beschwerdeführers verworfen wurde.
Am 10. Oktober 2011 hörte die Staatsanwaltschaft Koblenz den Beschwerdeführer zum beabsichtigten Widerruf der Gnadenentscheidung vom 21. Dezember 2006 an. Am 4. Dezember 2011 ging die Stellungnahme des Beschwerdeführers ein. Mit Gnadenentscheidung vom 21. Dezember 2011 widerrief der Leitende Oberstaatsanwalt in Koblenz den erteilten Gnadenerweis wegen erneuter Straffälligkeit des Beschwerdeführers während des Laufs der Bewährungszeit.
Eine erste Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz über den Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Widerrufs wurde aus prozessualen Gründen vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben, die Sache wurde an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. September 2012 – 1 BvR 1766/12 –, NJW 2013, S. 39).
In seinem erneuten Beschluss vom 30. Oktober 2012 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung gegen die Gnadenentscheidung vom 21. Dezember 2011 als unbegründet.
Zur Begründung nahm es auf die Ausführungen der Gnadenbehörde Bezug, wonach es unschädlich sei, dass der Widerruf erst circa ein Jahr nach Ablauf der Bewährungszeit erfolgt sei. Eine Frist, innerhalb derer der Widerruf nach Ablauf der Bewährungszeit auszusprechen sei, sehe die Gnadenordnung – wie auch die entsprechende Regelung im Strafgesetzbuch – nicht vor. Der Widerruf sei innerhalb einer angemessenen Zeit erfolgt. Der Beschwerdeführer sei noch innerhalb der Bewährungszeit erstinstanzlich wegen der neuerlichen Straftat verurteilt worden. Nach Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung sei der Beschwerdeführer zum beabsichtigten Widerruf angehört worden. Die Stellungnahme des Beschwerdeführers sei am 4. Dezember 2011 eingegangen. Angesichts dieses Verfahrensverlaufs, der keine außergewöhnlichen Verzögerungen erkennen lasse, habe der Beschwerdeführer in der Zeit zwischen Ende der Bewährungszeit und Widerruf der Strafaussetzung kein Vertrauen bilden können, auf die Tat vom 6. Juli 2009 werde ein Widerruf nicht gestützt werden.
Der Einwand, der Widerruf habe nicht ausgesprochen werden dürfen, da das aus Nrn. 28, 35 der Anordnung über das Verfahren in Gnadensachen in der Fassung vom 22. September 2003 – Gnadenordnung – ersichtliche Höchstmaß von fünf Jahren für die bei der Aussetzung einer Strafe zu bestimmende Bewährungszeit längst abgelaufen gewesen sei, gehe fehl. Der Beschwerdeführer stelle bei der Berechnung auf den ursprünglichen Strafbefehl ab und verkenne, dass die Höchstfrist nur für die in der Aussetzungsentscheidung zu bestimmende Bewährungsfrist gelte. Einer Hinzurechnung sonstiger Bewährungsfristen stehe außerdem entgegen, dass die mit der Rechtskraft des Strafbefehls in Lauf gesetzte Bewährungsfrist bereits mit dem Widerruf der Strafaussetzung im Jahre 2005 obsolet geworden sei.
II.
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner gegen den Widerruf und den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz gerichteten Verfassungsbeschwerde eine Überschreitung der „gesetzlichen Grenzen des Ermessens unter Missachtung der Gnadenordnung”. Nach Nrn. 28, 35 Gnadenordnung dürfe die Bewährungszeit höchstens fünf Jahre betragen. In seinem Fall seien jedoch seit der Rechtskraft des Strafbefehls bis zu der für den Widerruf angeführten Tat fast sechs Jahre und zum Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung bereits mehr als acht Jahre Bewährungszeit verstrichen. Die vorgeschriebene Widerrufsfrist von einem Jahr (§ 56g Abs. 2 Satz 2 StGB) sei nicht eingehalten. Es hätte am 21. Dezember 2011 im Wege der Schlussentscheidung ein Straferlass ergehen müssen. Nach Nr. 34 Gnadenordnung solle die Prüfung so rechtzeitig erfolgen, dass die Schlussentscheidung spätestens drei Monate nach Ablauf der Bewährungszeit ergehen könne.
Das Oberlandesgericht Koblenz habe gegen seine im Grundgesetz verankerten Menschenrechte, die er durch Wiedergabe der entsprechenden Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte näher bezeichnet, verstoßen.
III.
Das Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz hat mit Schriftsatz vom 28. Februar 2013 Stellung genommen. Der Beschwerdeführer sei nicht darauf hingewiesen worden, dass sich die Gnadenentscheidung wegen Abwartens der Rechtskraft einer Verurteilung verzögere. Eine solche Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit des Widerrufs nach Ablauf der Bewährungszeit sei nach Nr. 34.2 Gnadenordnung regelmäßig geboten. Das Unterlassen einer entsprechenden Belehrung sei allerdings nur einer von vielen Aspekten, die für die Frage einer etwaigen Vertrauensbildung von Bedeutung seien. In Strafvollstreckungsverfahren ergehe in den Bezirken der Staatsanwaltschaften Bad Kreuznach, Mainz und Trier regelmäßig ein entsprechender Hinweis. In Koblenz erfolgten entsprechende Hinweise regelmäßig nicht. Der Beschwerdeführer habe allein aufgrund des Unterlassens des gebotenen Hinweises keine derart starke Vertrauensposition erlangt, dass ein Widerruf der gnadenweisen Strafaussetzung zur Bewährung nicht mehr zulässig gewesen, im Ergebnis also ein im Gnadenverfahren an sich nicht gegebener Anspruch auf Erteilung eines positiven Gnadenerweises – Erlass der Strafe im Gnadenwege – entstanden wäre.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Kammer gibt der Verfassungsbeschwerde statt, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie enthält zumindest eine zulässige Rüge einer Grundrechtsverletzung (zur Unschädlichkeit der Unzulässigkeit einzelner Rügen für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfGE 79, 292 ≪301≫; 85, 23 ≪30≫; 121, 69 ≪88 f.≫).
1. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde allerdings, soweit sie rügt, die Bewährungszeit von höchstens fünf Jahren sei rechtswidrigerweise überschritten worden.
Zwar kann der Beschwerdeführer diesen Einwand nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch noch gegen die Widerrufsentscheidung richten, wäre also nicht aus Subsidiaritätsgründen gehalten gewesen, unmittelbar gegen die Verlängerung der Bewährungszeit vorzugehen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 12. Februar 1993 – 1 Ws 73-75/93 –, NStZ 1993, S. 510 ≪510≫; OLG Hamm, Beschluss vom 14. Juni 2000 – 2 Ws 147-149/2000 –, NStZ-RR 2000, S. 346 ≪346 f.≫).
Es fehlt jedoch insoweit an einer hinreichenden Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Der Beschwerdeführer zeigt einen Grundrechtsverstoß nicht plausibel auf. Das Oberlandesgericht geht davon aus, dass die durch den Strafbefehl vom 22. Juli 2003 in Lauf gesetzte Bewährungsfrist nicht hinzuzurechnen sei. Die Bestimmungen in der Gnadenordnung erfassten allein die in der gnadenrechtlichen Aussetzungsentscheidung bestimmte Bewährungszeit. Zudem bezögen sich die Vorgaben für die Länge der Bewährungszeit nur auf die jeweils konkrete Aussetzungsentscheidung. Mit diesen Ausführungen setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Darauf, dass es auch an einer Auseinandersetzung damit fehlt, dass die Höchstgrenze von fünf Jahren (Nrn. 28, 35.2 Gnadenordnung) nach der Systematik der Gnadenordnung wohl auch gar nicht für die Verlängerung der Bewährungszeit anstelle eines Widerrufs (Nr. 33.4 Gnadenordnung) gilt (so zum insoweit vergleichbaren Problem bei § 56f Abs. 2 StGB: Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 56f Rn. 11a; Hubrach, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2008, § 56f Rn. 35; Mosbacher, in: Satzger/Schmitt/Widmaier ≪Hrsg.≫, StGB, 2009, § 56f Rn. 28; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 56f Rn. 17), kommt es daher nicht mehr an.
2. Die Verfassungsbeschwerde rügt zulässigerweise, die Widerrufsentscheidung und der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz hätten zeitliche Beschränkungen für das Ergehen eines Widerrufs nach Ablauf der Bewährungszeit in grundrechtswidriger Weise missachtet. Insbesondere genügt sie insoweit noch den Anforderungen an die Substantiierung. Zwar hält der Beschwerdeführer fälschlicherweise die Vorschrift des § 56g StGB für einschlägig. Aus dem Vorbringen zur dort normierten Jahresfrist in Verbindung mit dem Verweis auf Nr. 34 Gnadenordnung, wonach die Prüfung so rechtzeitig erfolgen soll, dass die Schlussentscheidung spätestens drei Monate nach Ablauf der Bewährungszeit ergehen kann, ergibt sich jedoch hinreichend klar, dass die Widerrufsentscheidung nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht mehr in dem rechtlich gebotenen zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende der Bewährungszeit erfolgt ist. Durch den Verweis auf Art. 3, 8, 9 und 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird deutlich, dass er dies als willkürliche und rechtsstaatswidrige Beschränkung seiner Freiheit und seiner Rechtsschutzmöglichkeiten erachtet. Einer ausdrücklichen Benennung des als verletzt gerügten Grundrechtsartikels bedarf es nicht (BVerfGE 47, 182 ≪187≫; stRspr).
Auch liegen die zur Beurteilung der Verfassungsbeschwerde erforderlichen Unterlagen vor. Zwar hat der Beschwerdeführer seiner neuen Verfassungsbeschwerde die schon mit der ersten Verfassungsbeschwerde vorgelegten Unterlagen (insbesondere die nun angegriffene Widerrufsentscheidung) nicht noch einmal beigefügt. Grundsätzlich müssen alle relevanten Unterlagen im Verfahren selbst vorgelegt werden; eine Bezugnahme auf andere Verfassungsbeschwerden wahrt die Mindestformerfordernisse nicht (vgl. BVerfGE 8, 141 ≪143≫; 32, 365 ≪368≫). Hier aber betrifft die neue Verfassungsbeschwerde eine Entscheidung, die nach einer Aufhebung und Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht ergangen ist. Es ist damit jedenfalls hier ein besonders enger Zusammenhang zum ursprünglichen Verfahren gegeben. In einer solchen Konstellation reicht es aus, dass die maßgeblichen Unterlagen im ersten Verfahren vorgelegt wurden.
Obwohl der Beschwerdeführer zwischenzeitlich nach Verbüßung der Freiheitsstrafe aus der Haft entlassen wurde, besteht aufgrund des tiefgreifenden und schwerwiegenden Grundrechtseingriffs, der mit der Freiheitsentziehung verbunden war, ein schutzwürdiges Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fort (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪233≫; 105, 239 ≪246≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. August 2001 – 2 BvR 406/00 –, NJW 2001, S. 3770).
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die Widerrufsentscheidung und der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. a) Entscheidungen über den Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung sind an Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutz des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) zu messen (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Februar 1995 – 2 BvR 168/95 –, NStZ 1995, S. 437, zu § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB; vgl. auch BVerfGE 63, 215 ≪223 f.≫, zum Auslieferungsverfahren). Danach kann sich der Verurteilte, dessen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist, darauf verlassen, dass die mit abgeschlossenen Tatbeständen verknüpfte Rechtsfolge anerkannt bleibt, mithin seine durch Bewährung erlangte Rechtsposition nicht für ihn unvorhersehbar aufgehoben wird (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Februar 1995 – 2 BvR 168/95 –, NStZ 1995, S. 437; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juni 2009 – 2 BvR 847/09 –, StV 2010, S. 312; vgl. auch BVerfGE 63, 215 ≪223 f.≫). Er kann sich grundsätzlich darauf verlassen, dass ein Widerruf nur in den gesetzlich vorgesehenen Grenzen erfolgt. So kann die Missachtung zeitlicher Beschränkungen für den Widerruf zur Verletzung des verfassungsrechtlich gesicherten Vertrauensschutzes führen (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juni 2009 – 2 BvR 847/09 –, StV 2010, S. 312). Die Anforderungen aus dem verfassungsmäßigen Gebot des Vertrauensschutzes, die für einen Widerruf nach § 56f StGB gelten, sind auch beim Widerruf einer gnadenweise erfolgten Aussetzungsentscheidung zu beachten (zur Übertragung der für § 56g StGB geltenden Grundsätze auf den Widerruf einer gnadenweisen Strafaussetzung zur Bewährung vgl. KG, Beschluss vom 2. Juli 2001 – 4 VAs 18/01 –, juris Rn. 4; OLG Hamburg, Beschluss vom 29. September 2003 – 1 VAs 7/03 –, NJW 2003, S. 3574 ≪3575≫; Beschluss vom 10. Februar 2004 – 2 VAs 15/03 –, NStZ-RR 2004, S. 223 ≪224≫). Durch den Ausspruch eines Gnadenerweises werden dem Verurteilten Freiheitsrechte eingeräumt, auf deren Fortbestand er grundsätzlich vertrauen kann (vgl. BVerfGE 30, 108 ≪110 f.≫; siehe auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 1994 – 2 BvR 213/92 –, NStZ 1995, S. 205). Der einem Verurteilten im Gnadenwege gewährte Freiheitsraum unterliegt nicht mehr der freien Verfügung der Exekutive. Anders als die Ablehnung eines Gnadenerweises, auf den ein Anspruch nicht besteht, ist der Widerruf einer Gnadenentscheidung ein rechtlich gebundener Akt (vgl. BVerfGE 30, 108 ≪111≫).
b) Schon mit dem Begriff „Bewährung” verbindet jedermann die sichere Vorstellung, ab sofort keine Straftat mehr begehen zu dürfen, ohne mit Konsequenzen für die Bewährung rechnen zu müssen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1992 – 2 BvR 294/91 –, NJW 1992, S. 2877). Bei einem bewährungsbrüchigen Verhalten muss der Betroffene daher grundsätzlich mit einem Widerruf der Strafaussetzung rechnen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. April 1989 – 2 BvR 355/89 –; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Februar 1995 – 2 BvR 168/95 –, NStZ 1995, S. 437). Erfolgt ein Widerruf nach Ablauf der Bewährungszeit, so hat er jedoch – auch, wenn einfachgesetzlich keine Frist vorgesehen ist – insbesondere aus Gründen des Vertrauensschutzes binnen einer angemessenen Frist zu erfolgen. Dafür, welche Frist im konkreten Fall noch angemessen ist, kommt es nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Rechtsprechung der Fachgerichte auf die Umstände des Einzelfalls an. Neben dem Zeitablauf als solchem ist maßgebend, ob das Verfahren ungebührlich verschleppt worden ist, so dass der Verurteilte mit dem Widerruf nicht mehr zu rechnen brauchte. Für die Frage der Schutzwürdigkeit eines etwaigen Vertrauens des Verurteilten sind auch Art, Schwere und Häufigkeit der neuerlichen Taten zu berücksichtigen (zu allem vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 1 Ws 379/06 –, juris Rn. 12; KG, Beschluss vom 13. März 2003 – 5 Ws 90/03 –, NJW 2003, S. 2468 ≪2469≫; OLG Köln, Beschluss vom 25. Juni 1999 – 2 Ws 335/99 –, StV 2001, S. 412; OLG Rostock, Beschluss vom 21. Januar 2004 – I Ws 18/04 –, juris Rn. 13 ff.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 15. April 2003 – 3 Ws 361/03 –, juris Rn. 9 f.; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 27. Mai 2008 – 1 Ws 100/08 –, NStZ-RR 2009, S. 95 ≪95≫; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 56f Rn. 19a; Groß, in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2012, § 56f StGB Rn. 38; Hubrach, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2008, § 56f StGB Rn. 50; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 56f Rn. 13; jeweils m.w.N.).
2. Diesen Maßstäben genügen die Widerrufsentscheidung vom 21. Dezember 2011 und der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Oktober 2012 nicht. Die angegriffenen Entscheidungen lassen maßgebliche Umstände außer Acht, die für die Frage eines den Widerruf hindernden Vertrauenstatbestands beim Beschwerdeführer erheblich sind, und verkennen damit die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
a) Ein Vertrauenstatbestand des Beschwerdeführers ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass ein Widerruf nicht während oder unmittelbar nach Ablauf der Bewährungszeit erfolgt ist.
Nach den obigen Maßstäben hat der Beschwerdeführer als unter Bewährung Stehender grundsätzlich damit zu rechnen, dass Straftaten innerhalb der Bewährungszeit zu negativen Konsequenzen auch für die Bewährung führen können. Dies gilt zunächst einmal unabhängig davon, ob die Bewährungszeit selbst noch läuft oder schon abgelaufen ist. Schließlich „weiß er (gemeint: der Verurteilte) am besten, dass er die Bewährung gebrochen, also den Widerruf jedenfalls insoweit eigentlich zu erwarten hat; er kann daher allenfalls in seiner Hoffnung enttäuscht werden, dass der Widerruf der Aussetzung der Strafe wegen der alten Tat in Vergessenheit gerät” (Schall, in: SK-StGB, Losebl., Stand: 135. EL Oktober 2012, § 56f Rn. 46; ähnlich Horn, „Vertrauensschutz” contra Aussetzungswiderruf?, in: Hirsch u.a. ≪Hrsg.≫, Gedächtnisschrift Hilde Kaufmann, 1986, S. 545 ≪554≫, in Anlehnung an KG, Beschluss vom 8. März 1958 – I Gns 83/58 –, JR 1958, S. 189). Somit konnte der Beschwerdeführer mit Ablauf der Bewährungszeit nicht darauf vertrauen, dass die Bewährung nicht mehr widerrufen werden würde. Selbst wenn man wegen der Unschuldsvermutung davon ausginge, dass zunächst kein Anlass für den Beschwerdeführer bestand, einen Widerruf einzukalkulieren, so musste er jedenfalls ab der – noch während der Bewährungszeit erfolgten – erstinstanzlichen Verurteilung wegen der Tat damit rechnen, dass auch die Gnadenbehörde einen Widerruf prüfen könnte. Endgültig wäre die Grundlage für ein etwaiges Vertrauen mit der am 21. März 2011 eingetretenen Teilrechtskraft des amtsgerichtlichen Urteils hinsichtlich des Schuldspruchs entfallen. Zu diesem Zeitpunkt lag der Ablauf der Bewährungszeit erst drei Monate zurück.
b) Auch Vertrauensschutz wegen Überschreitens einer etwaigen absoluten zeitlichen Grenze durch den Widerruf bestand nicht. Der bloße Zeitablauf als solcher kann – jedenfalls, sofern er sich noch in einem angemessenen Rahmen hält – grundsätzlich noch kein hinreichender Anknüpfungspunkt für die Entstehung von Vertrauen dahingehend sein, dass die ausstehende Schlussentscheidung zugunsten des Verurteilten ausfallen wird. Zwar sollen nach Nr. 34.1 Satz 3 Gnadenordnung die erforderlichen Ermittlungen so rechtzeitig erfolgen, dass die Schlussentscheidung spätestens drei Monate nach Ablauf der Bewährungsfrist ergehen kann. Daraus allein kann jedoch nicht schon abgeleitet werden, dass mit Ablauf dieser Zeit darauf vertraut werden kann, ein Widerruf werde nicht mehr erfolgen. Zudem ist die Wertung des § 56g StGB zu berücksichtigen. Die – vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandete (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juni 2009 – 2 BvR 847/09 –, StV 2010, S. 312) – gesetzgeberische Entscheidung, Vertrauensschutz auf den Fortbestand eines Straferlasses erst nach einem Jahr eintreten zu lassen, spricht dafür, dass bei Widerruf einer Aussetzung zur Bewährung ein Zeitraum, der sich – wie hier – in derselben Größenordnung bewegt, noch nicht kritisch zu bewerten ist. Dies gilt zumal angesichts des Umstands, dass durch eine Erlassentscheidung ein Vertrauenstatbestand gesetzt wird, mit welchem die bloße Aussetzung zur Bewährung nicht vergleichbar ist (vgl. Hubrach, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2008, § 56f Rn. 51).
c) Ein Vertrauen des Beschwerdeführers lässt sich auch nicht etwa daran knüpfen, dass die Gnadenbehörde das Verfahren ungebührlich verschleppt hätte. Erst mit Rechtskraft des Schuldausspruchs am 21. März 2011 war ein Widerruf der Gnadenentscheidung rechtlich sicher möglich (zu den Voraussetzungen einer Entscheidung gemäß § 56f Abs. 1 StGB vgl. BVerfGK 14, 144 ≪147≫). Es ist ferner nicht zu beanstanden, dass die Gnadenbehörde darüber hinaus die Rechtskraft des Urteils hinsichtlich des Strafmaßes abgewartet hat. Auch das Strafmaß kann für die Entscheidung über den Widerruf von Bedeutung sein. Die Gnadenbehörde hat im Vergleich zur Strafvollstreckungskammer, die über den Widerruf nach § 56f StGB entscheidet, weniger Möglichkeiten, sich durch eigene Aufklärungsmaßnahmen selbst ein Bild von der Tat zu machen. Dass hier die vollständige Aufklärung durch die Gerichte abgewartet wird, erscheint daher vertretbar. In ebenfalls noch vertretbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Rechtskraft des Urteils wurde der Beschwerdeführer zum beabsichtigten Widerruf angehört. Die weitere Verzögerung im Ablauf beruht insbesondere darauf, dass eine Äußerung des Beschwerdeführers abgewartet wurde, und ist daher nicht von der Gnadenbehörde zu vertreten.
d) Der Beschwerdeführer wurde jedoch nicht nach Ablauf der Bewährungszeit zeitnah darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung sich wegen Abwartens der Rechtskraft der Verurteilung verzögern werde. Dieses Unterlassen ist bei Beurteilung der Frage, ob sich beim Beschwerdeführer schutzwürdiges Vertrauen gebildet hat, zu berücksichtigen. Indem sie diesen Aspekt außer Acht gelassen haben, haben die Gnadenbehörde und das Oberlandesgericht Koblenz den Gehalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verkannt.
aa) Zwar erscheint ein Hinweis auf das Abwarten – anders, als in der Rechtsprechung gelegentlich angenommen wird (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 1 Ws 379/06 –, juris Rn. 15; AG Wetzlar, Beschluss vom 21. Mai 2010 – 43 AR 10/07 –, StV 2011, S. 108) – nicht schon von Verfassungs wegen aus Gründen des Vertrauensschutzes geboten. Denn damit würde der Ausgangspunkt, dass grundsätzlich nicht schon aufgrund bloßen Zeitablaufs darauf vertraut werden kann, eine in der Bewährungszeit begangene Straftat werde keine Konsequenzen für die Bewährung zeitigen, in sein Gegenteil verkehrt. Eine solche Zwischennachricht kann möglicherweise geeignet sein, schon das Entstehen von Vertrauen darauf, dass an in der Bewährungszeit begangene Straftaten keine Konsequenzen geknüpft würden, zu verhindern (OLG Koblenz, Beschluss vom 24. Oktober 1986 – 1 Ws 714/86 –, DAR 1987, S. 93 ≪94≫; OLG Rostock, Beschluss vom 21. Januar 2004 – I Ws 18/04 –, juris Rn. 16; siehe auch OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 2007 – 3 Ws 605/07 –, juris Rn. 12 f.). Umgekehrt kann ein Verurteilter aber aus dem bloßen Unterlassen der Zwischennachricht noch nicht berechtigterweise schließen, dass die verzögerte Schlussentscheidung nicht in Form eines Widerrufs ergehen werde.
bb) Wo allerdings ein solcher Hinweis erwartet werden kann, kann bei seinem Fehlen Vertrauen entstehen. Die Gnadenordnung sieht einen solchen Hinweis vor. Nach Nr. 34.1 Satz 3 Gnadenordnung soll die Schlussentscheidung innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Bewährungszeit erfolgen. In Nr. 34.2 Gnadenordnung heißt es: „Verzögert sich die Schlussentscheidung wegen eines noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens oder aus anderen Gründen, ist, falls möglich, eine Zwischennachricht zu erteilen”. Ein solcher Hinweis scheint zudem bei Bewährungswiderrufen im Strafvollstreckungsverfahren der Praxis im Bezirk des Oberlandesgerichts Koblenz zu entsprechen. Nach dessen ständiger Rechtsprechung ist es bei einem Bewährungswiderruf nach § 56f StGB, für welchen die Rechtskraft einer Verurteilung abgewartet werden soll, geboten, den Beschwerdeführer vorher darauf hinzuweisen, dass er mit einem Widerruf rechnen müsse (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 1 Ws 379/06 –, juris Rn. 15: „Ohne einen solchen Hinweis, der im Bezirk des Oberlandesgerichts Koblenz … völlig üblich ist, durfte der Verurteilte darauf vertrauen, dass diese Tat nicht mehr zum Bewährungswiderruf führen wird”; Beschluss vom 25. März 2009 – 1 Ws 127/09 –, StraFo 2009, S. 524 ≪525≫). Nach der Stellungnahme des Ministeriums für Justiz und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz wird ein solcher Hinweis in den Bezirken der drei neben dem von Koblenz befragten Staatsanwaltschaften praktiziert. Da vorliegend ein solcher sowohl durch Verwaltungsvorschrift vorgesehener und aufgrund der Selbstbindung der Verwaltung gebotener als auch der Praxis entsprechender Hinweis nicht erfolgt ist, musste der Beschwerdeführer grundsätzlich nicht mehr mit einem Widerruf rechnen. Dieser Aspekt hätte in den angegriffenen Entscheidungen Berücksichtigung finden müssen.
III.
Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Gerhardt, Huber
Fundstellen