Verfahrensgang
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 30.12.2002; Aktenzeichen 16 WF 137/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 22.03.2002; Aktenzeichen 16 WF 4/02) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 03.01.2002; Aktenzeichen 16 WF 395/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 21.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 491/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 21.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 440/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 12.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 433/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 12.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 299/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 11.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 412/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 04.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 231/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 04.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 374/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 04.12.2001; Aktenzeichen 16 WF 340/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 22.11.2001; Aktenzeichen 16 WF 492/01) |
OLG Stuttgart (Vorlegungsbeschluss vom 22.11.2001; Aktenzeichen 16 WF 478/01) |
Tenor
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Vorlagen sind unzulässig.
Tatbestand
I.
Die Vorlagenverfahren betreffen die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Anpassung von vor dem 1. Januar 2001 errichteten Unterhaltstiteln an die Neuregelung der Kindergeldanrechnung nach § 1612 b Abs. 5 BGB in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung im vereinfachten Verfahren nach § 655 ZPO.
1. Dem Bundesverfassungsgericht ist die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob „§ 2 des Unterhaltstitelanpassungsgesetzes (Art. 4 des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 2. November 2000; im Folgenden: UTAG) insoweit gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 GG) verstoße, als er eine Anpassung von Unterhaltstiteln, die bisher auf nicht mehr als 100 % des Regelbetrages – in dem Verfahren 1 BvL 7/02 auf nicht mehr als 106 % des Regelbetrages – abzüglich des hälftigen Kindergeldes lauteten, im vereinfachten Verfahren nach § 655 ZPO ermöglicht.”
2. In den Ausgangsverfahren waren die Antragsgegner ihren minderjährigen Kindern aufgrund von vor dem 1. Januar 2001 errichteten Unterhaltstiteln zur Leistung von Kindesunterhalt in Höhe von 100 % – beziehungsweise in einem Verfahren in Höhe von 106 % – des Regelbetrages nach der Regelbetrag-Verordnung, jeweils abzüglich des hälftigen Kindergeldes, verpflichtet. Infolge der Änderung des § 1612 b Abs. 5 BGB mit Wirkung zum 1. Januar 2001 sind die Antragsgegner in den zugrunde liegenden Ausgangsverfahren im vereinfachten Verfahren gemäß § 2 UTAG in Verbindung mit § 655 ZPO auf Änderung der Unterhaltstitel dahin in Anspruch genommen worden, dass die Anrechnung des Kindergeldes entfalle, soweit der geschuldete Betrag zuzüglich des hälftigen Kindergeldes 135 % des Regelbetrages nicht übersteige. Gegen die von den Amtsgerichten erlassenen Abänderungsbeschlüsse haben die Antragsgegner fristgerecht sofortige Beschwerden vor dem vorlegenden Gericht erhoben.
a) Dieses ist der Überzeugung, die Vereinbarkeit von § 2 UTAG mit dem Grundgesetz sei für die Ausgangsverfahren entscheidungserheblich. Halte § 2 UTAG einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand, müssten die Beschwerden zurückgewiesen werden. Sei § 2 UTAG in der vorliegenden Fallkonstellation hingegen verfassungswidrig, hätten die Neufestsetzungen des Unterhalts im vereinfachten Verfahren nicht erfolgen dürfen, so dass die Beschwerden Erfolg hätten.
b) § 2 UTAG verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip, soweit er eine Anpassung von Unterhaltstiteln, die bisher auf nicht mehr als 100 % beziehungsweise 106 % des Regelbetrages abzüglich des hälftigen Kindergeldes lauteten, im vereinfachten Verfahren nach § 655 ZPO ermögliche. Im Falle fehlender Leistungsfähigkeit könne der Unterhaltsschuldner diesen Einwand im vereinfachten Verfahren nicht geltend machen. Er habe lediglich die Möglichkeit, nach § 656 ZPO – innerhalb eines Monats nach Zustellung des Abänderungsbeschlusses – im Wege der Klage eine entsprechende Abänderung zu verlangen. Ihm werde mithin zugemutet, einen – sogleich vollstreckbaren – Unterhaltstitel gegen sich ergehen zu lassen und den Einwand fehlender Leistungsfähigkeit erst in einem – zudem fristgebundenen – Nachverfahren geltend zu machen. Das vereinfachte Verfahren führe hier nicht zu einer Vereinfachung, sondern zu einer Komplizierung der Durchsetzung des materiellen Rechts. Eine solche Verfahrensgestaltung sei daher mit dem Gebot eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht vereinbar, wenn es bei der Neufestsetzung in der Mehrzahl der Fälle zu einem materiell unrichtigen Zahlbetrag komme. Dies gelte auch, wenn die Ausgestaltung des vereinfachten Verfahrens nicht alle hiervon betroffenen Unterhaltsschuldner, aber doch einzelne (nicht nur kleine) Gruppen von ihnen in der beschriebenen Weise benachteilige, sofern diese sich tatbestandlich von den übrigen abgrenzen ließen; der Vorteil der Typisierung könne eine teilweise benachteiligende Regelung nur rechtfertigen, wenn von der Benachteiligung nicht ganze Personengruppen betroffen seien, und mindere sich auf Null, wenn die nachteilig Betroffenen ihrerseits von einer typisierenden Regelung erfasst (also von der generellen Regelung ausgenommen) werden könnten.
Ein Blick auf die Praxis der Unterhaltsbemessung zeige, dass die Anpassung im vereinfachten Verfahren überwiegend eine Überforderung der Leistungsfähigkeit derjenigen Unterhaltsschuldner zur Folge habe, die bisher Kindesunterhalt in Höhe eines Betrages geschuldet hätten, der den Regelbetrag abzüglich des hälftigen Kindergeldes nicht überstiegen habe. Bis 1995 habe es der herrschenden Meinung entsprochen, dass im Rahmen der durchzuführenden Bedarfskontrolle der Kindesunterhalt mit den Bedarfsbeträgen vom Einkommen des Verpflichteten abzusetzen sei. Seit 1996 werde dies nicht mehr einheitlich gehandhabt. Eine Vielzahl von Gerichten setze zur Bedarfskontrolle nur noch die tatsächlichen Zahlbeträge vom Einkommen ab. Mit welcher statistischen Häufigkeit das eine oder andere praktiziert werde, lasse sich nicht zuverlässig beurteilen. Relativ sicher sei nur, dass beide Berechnungsmethoden angewandt würden, ohne dass zwischen ihnen von einem eindeutigen Regel-Ausnahme-Verhältnis gesprochen werden könne. Dies sei dem Senat aus Gesprächen mit Kollegen sowie aus Erörterungen mit Anwälten bekannt. Wenn bei einem vor dem 31. Dezember 2000 errichteten Titel, der keinen höheren Zahlbetrag als den Regelbetrag abzüglich des hälftigen Kindergeldes ausweise, bei der Festsetzung die zweite Methode praktiziert worden sei, könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Unterhaltsschuldner nach der Neufestsetzung den vollen Regelbetrag aus dem laufenden Einkommen aufbringen könne. Hinzu komme, dass die vorgesehene Abhilfemöglichkeit nach § 656 ZPO umso unzulänglicher sei, als zu dem betroffenen Schuldnerkreis in überdurchschnittlichem Umfang Menschen mit geringer „sozialer Kompetenz” gehörten, die mehr als andere Gefahr liefen, die Wahrnehmung ihrer Rechte zu versäumen und denen die finanziellen Mittel zur Inanspruchnahme anwaltlichen Rates fehlten. Die Mehrzahl der Unterhaltspflichtigen werde durch die konkrete Verfahrensgestaltung regelrecht überrollt. Ein solches Verfahren widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen.
Entscheidungsgründe
II.
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Vorlagen sind unzulässig.
1. Ein Gericht kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 ≪76≫). Der Grundgedanke des Art. 100 Abs. 1 GG, die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung zu wahren (vgl. BVerfGE 63, 131 ≪141≫), gebietet es dabei, dass das Gericht sich seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm in Auseinandersetzung mit den hierfür wesentlichen Gesichtspunkten, insbesondere auch den Erwägungen des Gesetzgebers, bildet, bevor es das Bundesverfassungsgericht anruft.
Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluss daher nur, wenn die Ausführungen erkennen lassen, dass das Gericht die hiernach gebotene Prüfung vorgenommen hat. Eine Vorlage ist deshalb unzulässig, wenn nach dem Stand des Ausgangsverfahrens nicht feststeht, ob die zur Prüfung gestellte Norm entscheidungserheblich sein wird. Neben der Entscheidungserheblichkeit muss das Gericht auch seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm nachvollziehbar darlegen und sich dabei jedenfalls mit nahe liegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auseinander setzen (vgl. BVerfGE 86, 52 ≪57≫; 86, 71 ≪77 f.≫).
2. Diesen Anforderungen genügen die zur Entscheidung stehenden Vorlagen nicht. Das vorlegende Gericht hat seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm nicht in hinreichend nachvollziehbarer Weise dargelegt und sich nicht mit nahe liegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auseinander gesetzt.
Das Oberlandesgericht hat schon in keinem der Ausgangsverfahren dargelegt, dass die Unterhaltsschuldner tatsächlich durch die Abänderung der Titel im vereinfachten Verfahren materiell rechtswidrig wegen Überschreitung ihrer Leistungsfähigkeit belastet worden sind. Auch ist nicht ersichtlich, dass von den jeweils Betroffenen der Einwand der Leistungsunfähigkeit mit dem Entfallen der Kindergeldanrechnung begründet worden ist.
Das Oberlandesgericht hat einen Verstoß des § 2 UTAG gegen das Rechtsstaatsprinzip bejaht, soweit er eine Anpassung von Unterhaltstiteln, die auf nicht mehr als 100 % – beziehungsweise auf nicht mehr als 106 % – des Regelbetrages der Regelbetrag-Verordnung abzüglich des hälftigen Kindergeldes lauten, ermöglicht, ohne zuvor hinreichend darauf einzugehen, dass die in der beschriebenen Weise nachteilig betroffenen Personen nicht rechtlos gestellt sind. Der Gesetzgeber hat mit § 656 ZPO sowie § 769 Abs. 1 ZPO rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung gestellt, mit denen ein Unterhaltsschuldner im Falle einer Übersteigerung seiner Leistungsfähigkeit den Abänderungsbeschluss beseitigen lassen und einer vorläufigen Vollstreckung begegnen kann. Da es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn sich Regelungen der Verfahrensordnung für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken (vgl. BVerfGE 88, 118 ≪123 f.≫), solange hierdurch der Rechtsweg nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert wird, hätte es zur Annahme eines Verfassungsverstoßes weiterer Ausführungen bedurft. So erfordert die Feststellung einer „durch Sachgründe nicht zu rechtfertigenden unverhältnismäßigen Belastung” eine Gegenüberstellung und Abwägung des gesetzgeberischen Zweckes des § 2 UTAG mit den hierdurch verursachten Einschränkungen und Nachteilen des betroffenen Personenkreises. Diesen Anforderungen genügt jedenfalls nicht die pauschale Behauptung des Gerichtes, die Betroffenen würden de facto rechtlos gestellt, da zu dem betroffenen Schuldnerkreis in überdurchschnittlichem Umfang Menschen mit geringer „sozialer Kompetenz” gehörten, die die ergänzenden Regelungen der §§ 655, 656 ZPO nicht verstünden und denen für die Inanspruchnahme anwaltlichen Rates das Geld fehle, wobei hinzukomme, dass die Rechtsantragstellen der Amtsgerichte überfordert seien. Weder hat das Gericht ausgeführt, woraus es einen Kausalzusammenhang zwischen der zu Unterhaltszwecken zur Verfügung stehenden Einkommenshöhe und der „sozialen Kompetenz” der Unterhaltsschuldner herzuleiten gedenkt, noch hat es sich damit auseinander gesetzt, dass der Gesetzgeber jedenfalls für den Personenkreis der „Unbemittelten” die Institute der Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe zur Schaffung vergleichbarer Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stellt.
Im Übrigen setzen sich die Vorlagebeschlüsse nicht sorgfältig und umfassend mit der – unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG ergangenen – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit typisierender und generalisierender Regelungen auseinander. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach hervorgehoben, dass der Gesetzgeber zu generalisierenden, typisierenden und pauschalierenden Lösungen befugt sei. „Bei notwendig typisierenden Regelungen” seien „gewisse Härten oder Ungerechtigkeiten hinzunehmen”, was jedoch voraussetze, dass die durch eine typisierende Regelung entstehenden Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv sei (vgl. BVerfGE 26, 265 ≪275≫; 84, 348 ≪365≫). Da vorliegend nur die Titel infolge der Abänderung im vereinfachten Verfahren zu einem die Leistungsfähigkeit übersteigenden Zahlbetrag führen können, die zum einen auf nicht mehr als 100 % beziehungsweise 106 % des Regelbetrages lauten und bei denen zudem die Bedarfskontrolle durch Abzug des Zahlbetrages vom bereinigten Einkommen durchgeführt wurde, wäre vom vorlegenden Gericht darauf einzugehen gewesen, ob nicht die Zahl der tatsächlich mit einem rechtswidrigen Titel belasteten Unterhaltsschuldner so gering ist, dass die Vorschrift als verfassungsgemäß angesehen werden könnte. Dies gilt umso mehr, als das Oberlandesgericht eine Verfassungsmäßigkeit des § 2 UTAG betreffend Titel, die mehr als 100 % beziehungsweise 106 % des Regelbetrages festschreiben, unter Hinweis auf den gesetzgeberischen Zweck bejaht hat, obgleich auch in diesen Fällen nach den Darlegungen des Gerichts durch die Abänderung ein rechtswidriges Ergebnis erzielt werden könnte.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen