Verfahrensgang
OLG Celle (Beschluss vom 25.11.2005; Aktenzeichen 22 W 63/05) |
OLG Celle (Beschluss vom 20.10.2005; Aktenzeichen 22 W 63/05) |
LG Hannover (Beschluss vom 22.07.2005; Aktenzeichen 28 T 94/05) |
Tenor
Der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 22. Juli 2005 – 28 T 94/05 – und der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 20. Oktober 2005 – 22 W 63/05 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.
Sie werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 25. November 2005 – 22 W 63/05 – gegenstandslos.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Entscheidung über den Antrag, die Rechtswidrigkeit einer Inhaftierung in Abschiebungshaft festzustellen.
1. Der Beschwerdeführer ist indischer Staatsangehöriger. Er reiste 2003 in das Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. Der Asylantrag wurde im Frühjahr 2004 abgelehnt, nachdem sich der Beschwerdeführer in die Niederlande begeben hatte. Im November 2004 wurde er dort festgenommen. Die Bundesrepublik Deutschland stimmte der Rückübernahme zu. Das Amtsgericht Leer ordnete auf Antrag der Ausländerbehörde am 21. Dezember 2004 Sicherungshaft an. Nachdem die sofortige Beschwerde dagegen zunächst erfolglos geblieben war, verwies das Oberlandesgericht Oldenburg den Vorgang durch Beschluss vom 18. März 2005 an das Landgericht Aurich zurück, weil dieses die Anhörung des Beschwerdeführers versäumt habe.
Zwei Tage zuvor hatte das Amtsgericht Leer das Verfahren ohne vorherige Anhörung des Beschwerdeführers an das für den Haftort zuständige Amtsgericht Hannover abgegeben; eine hiergegen gerichtete Anhörungsrüge wies es später zurück.
2. Die Ausländerbehörde beantragte bei dem Amtsgericht Hannover Haftverlängerung. Bei der indischen Botschaft müssten Heimreisedokumente beantragt werden. Der Beschwerdeführer wirke dabei nicht hinreichend mit. Das Amtsgericht Hannover hörte den Beschwerdeführer am 18. März 2005 an und verlängerte die Sicherungshaft um drei Monate.
3. Das Landgericht Aurich stellte am 18. April 2005 fest, dass die vom Amtsgericht Leer angeordnete Inhaftierung des Beschwerdeführers in der Zeit vom 21. Dezember 2004 bis zum 20. März 2005 rechtswidrig war. Ein Haftgrund sei in der Vergangenheit in der Annahme bejaht worden, der Beschwerdeführer sei in die Niederlande gereist, nachdem er von der Ablehnung des Asylantrags erfahren habe. Seine Einlassung, er sei schon vor der Anhörung abgereist, sei nicht zu widerlegen. Da er zu diesem Zeitpunkt die Ablehnung des Asylantrages nicht gekannt habe, könne keine Absicht unterstellt werden, sich der Abschiebung zu entziehen.
4. In dem gleichzeitig anhängigen Beschwerdeverfahren wegen der durch das Amtsgericht Hannover angeordneten Haft verwies der Beschwerdeführer auf die Entscheidung des Landgerichts Aurich und ergänzte, wenn er von vornherein angehört worden wäre, wäre er seinerzeit in Freiheit gesetzt worden. Er sei in den Stand vor der Haftverlängerung zurückzuversetzen und freizulassen. Die Ausländerbehörde beantragte die Zurückweisung der Beschwerde. Nach Anhörung des Beschwerdeführers wies das Landgericht Hannover die sofortige Beschwerde am 25. April 2005 zurück. Der Verdacht, dass der Beschwerdeführer sich der Abschiebung entziehen wolle, ergebe sich daraus, dass er in die Niederlande gereist sei, ohne sich später über die Entscheidung über seinen Asylantrag, mit dessen Ablehnung er habe rechnen müssen, zu informieren. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es während der Haftzeit noch eine positive Entscheidung der indischen Behörden gebe. Hiergegen legte der Beschwerdeführer am 18. Mai 2005 die sofortige weitere Beschwerde ein.
Mit Schreiben vom 16. Juni 2005, das der Beschwerdeführer zunächst nicht erhielt, bat die Ausländerbehörde die Justizvollzugsanstalt, den Beschwerdeführer nach Ablauf der Sicherungshaft zu entlassen.
5. Ebenfalls am 16. Juni 2005 beantragte der Beschwerdeführer bei dem Amtsgericht Hannover, den Beschluss vom 18. März 2005 aufzuheben und ihn in Freiheit zu setzen. Da die Haft am 20. Juni 2005 ende, ein Passersatzpapier nicht beschafft worden sei und die Ausländerbehörde keinen Verlängerungsantrag stelle, sei er sofort und nicht nach Ablauf der angeordneten Haftzeit zu entlassen.
Der Beschwerdeführer wurde am 20. Juni 2005, einem Montag, aus der Haft entlassen. Er beantragte in dem Verfahren der sofortigen weiteren Beschwerde gegen die Haftanordnung vom 18. März 2005 und in dem Verfahren wegen des Haftaufhebungsantrags vom 16. Juni 2005 die Feststellung, dass die Inhaftierung in Abschiebungshaft rechtswidrig gewesen sei.
Das Amtsgericht Hannover verwarf den Feststellungsantrag im Haftaufhebungsverfahren durch Beschluss vom 8. Juli 2005 als unzulässig. Derartige Anträge seien im noch anhängigen Beschwerdeverfahren zu stellen.
6. Die im Mai 2005 eingelegte sofortige weitere Beschwerde gegen die Haftanordnung vom 18. März 2005, die mit dem Feststellungsbegehren fortgeführt wurde, wies das Oberlandesgericht Celle am 12. Juli 2005 zurück. Die Entscheidung des Landgerichts Aurich binde die niedersächsischen Gerichte nicht. Das Landgericht Hannover habe davon abweichende Feststellungen getroffen, die nicht zu beanstanden seien. Eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes sei nicht ersichtlich. Dass der Beschwerdeführer sechs Monate in Haft verbracht habe, sei nicht unverhältnismäßig. Er müsse das wegen der Schwierigkeiten bei der Passersatzpapierbeschaffung, zu denen er beigetragen habe, hinnehmen. Es habe sich nicht von vornherein absehen lassen, dass eine Abschiebung nicht innerhalb von sechs Monaten habe gelingen können. Das Oberlandesgericht habe ohne Abwarten weiteren Vortrags entscheiden können, zumal etwaige neue Tatsachen im Verfahren nach § 27 FGG nicht berücksichtigt werden könnten.
7. Ebenfalls am 12. Juli 2005 legte der Beschwerdeführer gegen die den Feststellungsantrag verwerfende Entscheidung des Amtsgerichts Hannover vom 8. Juli 2005 sofortige Beschwerde ein. Der Antrag sei nicht unzulässig, weil der Beschwerdeführer im Verfahren der bei Antragstellung anhängigen sofortigen weiteren Beschwerde keine Tatsachen vortragen könne, die zeitlich nach der landgerichtlichen Entscheidung eingetreten seien.
Das Landgericht Hannover wies die sofortige Beschwerde durch – hier angegriffenen – Beschluss vom 22. Juli 2005 aus den Gründen der Entscheidung des Amtsgerichts zurück. Die in den Beschlüssen vom 25. April 2005 und 12. Juli 2005 getroffenen Feststellungen gälten fort. Da der Beschwerdeführer mit seinem Antrag vom 16. Juni 2005 keine neuen Tatsachen vorgetragen habe, aus denen sich ein Grund ergäbe, die angeordnete Freiheitsentziehung vorzeitig aufzuheben, verfolge er mit diesem Antrag dasselbe Ziel wie mit seiner eingelegten sofortigen Beschwerde beziehungsweise weiteren sofortigen Beschwerde.
8. Mit der sofortigen weiteren Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, da die Ausländerbehörde zur Gewährung von Akteneinsicht nur in ihren Diensträumen bereit gewesen sei und keines der beteiligten Gerichte die Behördenakten beigezogen habe, habe sein Prozessbevollmächtigter die Akten am 8. September 2005 bei der Behörde eingesehen. In ihnen sei das Schreiben der Ausländerbehörde an die Justizvollzugsanstalt vom 16. Juni 2005 enthalten. An diesem Tag sei der Ausländerbehörde klar gewesen, dass der Beschwerdeführer nicht mehr abgeschoben werden könne. Wegen ihres Schreibens von diesem Tage überzeuge es nicht, dass sie behaupte, auch danach wäre im Fall einer Passersatzpapier-Zusage die Haftverlängerung beantragt worden. Jedenfalls sei die Haft aber vom Dienstschluss am Freitag, dem 17. Juni 2005, an rechtswidrig geworden.
Die Ausländerbehörde entgegnete, es sei gängige Praxis, die Aufhebung der Sicherungshaft der Justizvollzugsanstalt bereits einige Tage vorher mitzuteilen. Das könne aber bis zum Morgen des Entlassungstages storniert werden. Hätte die indische Botschaft der Ausländerbehörde bis zum 20. Juni 2005 die Ausstellung eines Passersatzpapiers zugesagt, so wäre ein Haftverlängerungsantrag gestellt worden.
Das Oberlandesgericht Celle wies die sofortige weitere Beschwerde durch – ebenfalls angegriffenen – Beschluss vom 20. Oktober 2005, zugegangen am 1. November 2005, zurück. Es bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis, weil über den Antrag des Beschwerdeführers bereits rechtskräftig entschieden sei. Die Instanzgerichte seien während des Beschwerdeverfahrens grundsätzlich nicht zur Abänderung ihrer Entscheidung befugt. Anderes gelte lediglich, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert hätten, weil das Rechtsbeschwerdegericht den geänderten Sachverhalt nicht berücksichtigen könne. Mit dem Vorbringen, am 16. Juni 2005 hätten keine Passersatzpapiere vorgelegen und die Ausländerbehörde habe keinen Antrag auf Haftverlängerung gestellt, seien keine Umstände vorgetragen worden, aus denen sich eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in Bezug auf die durch Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 18. März 2005 angeordnete Abschiebungshaft ergebe. Das vorliegende Verfahren betreffe denselben Streitgegenstand, der Inhalt des durch Beschluss vom 12. Juli 2005 abgeschlossenen Verfahrens gewesen sei. Ein Rechtsschutzbedürfnis ergebe sich auch nicht aus dem neuen Vorbringen, welches aufgrund der Akteneinsicht zum Gegenstand einer Aufklärungsrüge gemacht worden sei. Angesichts der Identität des Streitgegenstandes hätte der Beschwerdeführer diese Aufklärungsrüge ebenfalls in dem anderen Verfahren erheben müssen.
9. Der Beschwerdeführer erhob die Anhörungsrüge. Eine Aufklärungsrüge in dem anderen Verfahren sei nicht möglich gewesen. In diesem Verfahren habe das Landgericht Hannover am 25. April 2005 entschieden, so dass ihm eine Sachaufklärung hinsichtlich der dem Haftaufhebungsantrag vom 16. Juni 2005 zugrundeliegenden Fragen nicht möglich gewesen sei. Dementsprechend habe auch keine mangelnde Aufklärung gerügt werden können. Der einzige Weg, den sich am 16. Juni 2005 darstellenden neuen Sachverhalt zur Passersatzpapierbeschaffung in das Verfahren einzuführen, sei ein neuerlicher Haftaufhebungsantrag gewesen. Das Oberlandesgericht habe sich mit diesen Besonderheiten sowie der Tatsache, dass es dem Prozessbevollmächtigten bis zum 8. September 2005 verwehrt worden sei, in zumutbarer Weise Akteneinsicht zu nehmen, nicht auseinandergesetzt.
Durch – hier angegriffenen – Beschluss vom 25. November 2005 verwarf das Oberlandesgericht Celle den Antrag als unzulässig. Der Beschwerdeführer wende sich ausschließlich gegen die Gründe des Beschlusses, ohne dass sich aus seinem Vorbringen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ergebe. Soweit eine Gegenvorstellung vorliege, gebe sie keinen Anlass zur Abänderung des Beschlusses. Über den Feststellungsantrag sei in dem anderen Verfahren rechtskräftig entschieden. In dem Antrag vom 16. Juni 2005 habe der Beschwerdeführer keine neuen Umstände nach § 10 Abs. 1 FreihEntzG vorgetragen, aus denen sich eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in Bezug auf die damals vollzogene Abschiebungshaft ergebe.
10. Mit der bereits am 1. Dezember 2005 erhobenen Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, die Gerichte hätten das Überprüfungsverfahren gemäß § 10 FreihEntzG ineffektiv gemacht und leerlaufen lassen. Dadurch sei das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt worden. Der Beschwerdeführer habe keine Möglichkeit erhalten, die Umstände seiner Inhaftierung vom 16. bis zum 20. Juni 2005 überprüfen zu lassen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass angenommen worden sei, der Beschwerdeführer habe keine neuen Tatsachen vorgetragen. Dass er am 16. Juni 2005 auch nach Ansicht der Ausländerbehörde bis zum Ablauf der Haftdauer nicht mehr habe abgeschoben werden können, sei eine neue Tatsache. Er könne nicht auf eine Aufklärungsrüge verwiesen werden. Das Recht aus Art. 104 Abs. 1 GG sei verletzt, weil die Gerichte verkannt hätten, dass im Laufe der Zeit Veränderungen eintreten könnten, die eine inhaltliche Neubefassung mit der Frage, ob die Haft weiter gerechtfertigt sei, auch dann verlangten, wenn über die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung bereits zuvor entschieden worden sei. Die am 16. Juni 2005 geltend gemachten Umstände hätten im Verfahren der sofortigen weiteren Beschwerde nicht vorgetragen werden können.
11. Das Niedersächsische Justizministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer ist für die Entscheidung zuständig, da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie nimmt die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Beschlüsse des Landgerichts Hannover vom 22. Juli 2005 und des Oberlandesgerichts Celle vom 20. Oktober 2005 zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Für die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inhaftierung in Abschiebungshaft besteht auch nach Eintritt der Erledigung ein von der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG umfasstes Rechtsschutzbedürfnis. Dieses ergibt sich aus dem Gewicht des in einer Inhaftierung liegenden Eingriffs in das Grundrecht der Freiheit der Person. Die Gewährung von Rechtsschutz kann schon im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon abhängen, ob in Abschiebungshaftfällen Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪235 f.≫). Diesen Anforderungen werden die Gerichte nur gerecht, wenn sie auf einen entsprechenden Feststellungsantrag die Überprüfung des gesamten Zeitraums ermöglichen, in dem dem Betroffenen die Freiheit entzogen worden ist (vgl. auch BVerfGK 6, 303 ≪308 ff.≫). Dazu gehört, dass für das Fortbestehen eines Haftgrundes erhebliche Änderungen der Sachlage, die während des Haftvollzugs – gleich, zu welchem Zeitpunkt – eingetreten sind, berücksichtigt werden.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat allerdings nicht den Sinn, den von einem – sei es auch tiefgreifenden – Grundrechtseingriff Betroffenen von der Einhaltung der für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes allgemein geltenden Regeln des jeweiligen Verfahrensrechts zu befreien (vgl. BVerfGK 2, 14 ≪15 f.≫). Es ist Sache der Fachgerichte, anhand des maßgeblichen Verfahrensrechts zu entscheiden, auf welche Weise dem Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen Rechnung getragen wird (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 – 2 BvR 1033/06 –, NVwZ 2008, S. 304). Durch Verfassungsrecht ist nicht festgelegt, ob die Prüfung auch hinsichtlich aller während des gesamten Haftzeitraums neu eingetretener Umstände innerhalb des Rechtsmittelverfahrens gegen die Haftanordnung zu erfolgen hat oder ob sie auf mehrere gerichtliche Verfahren verteilt, etwa auch in Anknüpfung an einen späteren Haftaufhebungsantrag, stattfinden kann (vgl. zu diesem Problemkreis KG, OLGZ 1977, 161 ≪162 ff.≫; OLG Stuttgart, FGPrax 1996, S. 40; LG Lüneburg, InfAuslR 2001, S. 294 ≪295≫; Brandenburgisches OLG, FGPrax 2002, S. 278; OLG Celle, Beschluss vom 19. Mai 2003 – 17 W 40/03; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. April 2005 – 20 W 139/05 –, juris). Wählen die Gerichte die zuletzt genannte Verfahrensweise, so ist es allerdings unzulässig, ein im Haftaufhebungsverfahren angebrachtes Feststellungsbegehren, das sich auf Tatsachen stützt, die in dem Rechtsmittelverfahren gegen die Haftanordnung keine Berücksichtigung finden können, unter Hinweis auf die Rechtskraft der in diesem Verfahren ergangenen Entscheidungen abzulehnen.
Soweit Art. 19 Abs. 4 GG verlangt, dem Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen gerecht zu werden, ergeben sich aus dem Grundrecht auch Anforderungen an die gerichtliche Bewertung seines Vortrags. Legt ein Gericht den Verfahrensgegenstand in einer Weise aus, die das erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt, und verstellt es sich dadurch die an sich gebotene Sachprüfung, so liegt darin eine Rechtswegverkürzung, die den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen nach Art. 19 Abs. 4 GG verletzt (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Februar 1997 – 2 BvR 2989/95 –, juris, Absatz-Nr. 13; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 – 2 BvR 553/01 –, NJW 2002, S. 2699 ≪2700≫).
2. Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.
Landgericht und Oberlandesgericht haben angenommen, der im Rahmen des Haftaufhebungsverfahrens nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG gestellte Antrag sei unzulässig, weil er denselben Streitgegenstand betreffe wie das Beschwerdeverfahren gegen die Haftanordnung vom 18. März 2005. Das steht im Zusammenhang mit den Ausführungen des Oberlandesgerichts, die Instanzgerichte seien zur Abänderung ihrer Entscheidung nur befugt, wenn sich seit der Entscheidung des Beschwerdegerichts die tatsächlichen Verhältnisse geändert hätten. Daraus ist zu entnehmen, dass über das Feststellungsbegehren in der Sache zu entscheiden gewesen sein könnte, wenn die Gerichte zu dem Ergebnis gekommen wären, eine nach der Entscheidung des Beschwerdegerichts eingetretene Änderung der Verhältnisse sei vorgetragen. Sie haben das Verfahrensrecht folglich dahingehend ausgelegt, dass über das Feststellungsbegehren insoweit in Fortsetzung des Haftaufhebungsverfahrens zu entscheiden sei, als Änderungen des Sachverhalts nach dem Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung im Haftanordnungsverfahren geltend gemacht werden.
Von dieser Rechtsauffassung aus war es für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags von entscheidender Bedeutung, ob er sich auf in diesem Sinne neue Tatsachen bezog. Landgericht und Oberlandesgericht haben das verneint. Dadurch haben sie das Vorbringen des Beschwerdeführers zu dem Lebenssachverhalt, der den von ihm anhängig gemachten Verfahrensgegenstand bestimmte, in nicht mehr nachvollziehbarer und deswegen Art. 19 Abs. 4 GG verletzender Weise behandelt.
Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft haben die Gerichte unter anderem zu klären, ob der mit der Haft verfolgte Zweck noch erreicht werden kann. Das ist nicht nur für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, sondern auch zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich. Für die gerichtliche Beurteilung dieser Frage ist es von ganz erheblicher Bedeutung, ob die Ausländerbehörde noch auf die Erreichung dieses Zwecks hinarbeitet oder ob sie zwischenzeitlich zu der Annahme gelangt ist, die Aufenthaltsbeendigung nicht mehr während der Haftzeit – soweit zulässig, auch nach Verlängerung der Haftanordnung – herbeiführen zu können (vgl. LG Lüneburg, InfAuslR 2001, S. 294 ≪295≫). Mit dem Haftaufhebungsantrag hat der Beschwerdeführer vorgetragen, die Ausländerbehörde habe kein Passersatzpapier erhalten und stelle anlässlich des in vier Tagen bevorstehenden Haftendes keinen Verlängerungsantrag. Damit hat er die Tatsache behauptet, die Ausländerbehörde nehme zwischenzeitlich – anders als noch im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde, deren Zurückweisung die Behörde beantragt hatte – nicht mehr an, die Abschiebung während der Haftzeit bewerkstelligen zu können.
Wie das Landgericht dennoch annehmen konnte, der Beschwerdeführer habe keine neuen Tatsachen vorgetragen, aus denen sich ein Grund für die Aufhebung der Freiheitsentziehung ergeben würde, ist nicht nachvollziehbar. Gleiches gilt für die Ansicht des Oberlandesgerichtes, es seien keine Umstände vorgetragen, aus denen sich eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in Bezug auf die durch Beschluss vom 18. März 2005 angeordnete Abschiebungshaft ergebe.
In den angegriffenen Entscheidungen ist diese Einschätzung nicht begründet worden. Tragfähige Gründe lassen sich auch nicht aus den Darlegungen des Oberlandesgerichts erschließen, eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse sei von den Instanzgerichten nur zu berücksichtigen, wenn das Rechtsbeschwerdegericht sie nicht in Betracht ziehen könne. Hieraus lässt sich folgern, dass nach Ansicht des Oberlandesgerichts dann, wenn noch Rechtsmittel gegen die Haftanordnung anhängig sind, im Rahmen des Haftaufhebungsverfahrens nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG nur Sachverhaltsänderungen beachtlich sind, die nach der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Haftanordnung eingetreten sind. Es spricht aber nichts dafür, dass der Beschwerdeführer am 16. Juni 2005 habe vortragen wollen, die Ausländerbehörde habe schon zur Zeit der Entscheidung des Landgerichts vom 25. April 2005 nicht mehr den Willen gehabt, die Haft fortzusetzen, bis sich eine Abschiebungsmöglichkeit ergebe. Vielmehr zeigt sein Hinweis auf das in wenigen Tagen bevorstehende Haftende eindeutig, dass sein Vortrag dahin ging, es sei erst jetzt erkennbar geworden, dass die Beantragung einer Haftverlängerung nicht mehr gewollt sei. Insoweit ist auch der Verweis des Oberlandesgerichts auf die Aufklärungsrüge im Beschwerdeverfahren gegen die Haftanordnung nicht verständlich. Das Oberlandesgericht meint, in dieses Verfahren habe der Vortrag des Beschwerdeführers gehört, den er nach Einsicht in die Verwaltungsakte mit der sofortigen weiteren Beschwerde im Haftaufhebungsverfahren neu vorgebracht habe. Seine Behauptung, die Ausländerbehörde stelle keinen Verlängerungsantrag mehr, stützte der Beschwerdeführer nach Akteneinsicht zusätzlich auf das Haftentlassungsschreiben der Behörde vom 16. Juni 2005. Das Beschwerdeverfahren gegen die Haftanordnung war am 25. April 2005 beendet. Es ist nicht erkennbar, welcher Gedankengang zu der Annahme führen könnte, dass gegen die Entscheidung vom 25. April 2005 die Rüge möglich sei, das Beschwerdegericht habe den am 16. Juni 2005 eingetretenen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.
III.
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wären. Sie hätten dann möglicherweise seinem Vorbringen nachzugehen gehabt, aus dem sich ergab, dass am 16. Juni 2005 der Haftzweck entfallen gewesen sei. Der Vortrag der Ausländerbehörde, bei Erhalt einer Passersatzpapier-Zusage wäre die Haftentlassung noch bis zum Ende der angeordneten Haftzeit widerrufen und Haftverlängerung beantragt worden, wäre zu würdigen gewesen. Dabei wäre auch der Frage nachzugehen gewesen, inwieweit dieser Vortrag angesichts der Tatsache, dass die Ausländerbehörde selbst bereits am 16. Juni 2005 die Haftentlassung beantragt hatte und dem Tag der Haftentlassung ein Wochenende vorausging, an dem die Ausländerbehörde nicht besetzt gewesen sein dürfte, überzeugen kann.
Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Landgerichts Hannover vom 22. Juli 2005 und den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 20. Oktober 2005 auf und verweist die Sache an das Landgericht zurück; der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 25. November 2005, mit welchem die Anhörungsrüge zurückgewiesen worden ist, ist damit gegenstandslos. Auf die weiteren Grundrechtsrügen kommt es nicht an.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 2148366 |
InfAuslR 2008, 453 |