Verfahrensgang
Tenor
- Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 25. Januar 2006 gegen die Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums Dortmund vom 24. Januar 2006 – VL 1.29-60.13.04(231)-153/05 wird wiederhergestellt.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot. Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.
I.
1. Der Antragsteller meldete mit Schreiben vom 1. Oktober 2005 sein Vorhaben an, in Dortmund am 28. Januar 2006 eine Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Sie sollte das Motto “Gegen staatliche Repression – weg mit dem § 130 StGB” tragen und war als Aufzug durch den Stadtbereich Dortmund geplant.
Nach zwei am 19. Dezember 2005 und 6. Januar 2006 geführten Kooperationsgesprächen genehmigte die Versammlungsbehörde – die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens (nachfolgend: die Antragsgegnerin) – die angemeldete Versammlung unter Auflagen. Mit Bescheid vom 24. Januar 2006 untersagte die Antragsgegnerin jedoch unter Aufhebung ihres vorherigen Bescheids die Durchführung der Versammlung sowie jede Form von Ersatzveranstaltungen und ordnete die sofortige Vollziehung an. Die auf § 15 Abs. 1 VersG gestützte Verbotsverfügung wurde damit begründet, dass die Durchführung der Versammlung die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar gefährde. Dabei berief die Antragsgegnerin sich insbesondere auf Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Lüneburg (Beschluss vom 20. Januar 2006 – 3 B 3/06 –) und des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg (Beschluss vom 24. Januar 2006 – 11 ME 20/06 –).
2. Einen Eilantrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verbotsverfügung lehnte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit Beschluss vom 26. Januar 2006 ab. Zur Begründung führte es aus, die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin sei offensichtlich rechtmäßig. Die Voraussetzungen eines auf § 15 Abs. 1 VersG gestützten Versammlungsverbots lägen vor. Es werde ausdrücklich offen gelassen, ob die Annahme der Versammlungsbehörde tragfähig sei, dass bei einer Gesamtwürdigung von Thema der Veranstaltung und Inhalt der zur Ankündigung der Versammlung vorgesehenen Flugblätter die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet werde. Jedenfalls gefährde die Durchführung der Versammlung die öffentliche Ordnung unmittelbar. Mit den Erwägungen der von der Antragsgegnerin in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen sei auch im Hinblick auf die vorliegende Veranstaltung davon auszugehen, dass eine Kundgebung einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar 2006, zu einer nicht hinnehmbaren Provokation der grundlegenden sittlichen, sozialen und ethischen Anschauungen der Bevölkerung in Deutschland und zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führe. Zudem habe einer der Anmelder der Versammlung ein Flugblatt herausgegeben, mit dem zur Teilnahme an der Versammlung aufgerufen und zugleich die “vor kurzem” erfolgte Verurteilung eines “politisch aktiven Nationalsozialisten in Nordrhein-Westfalen auf Grund von Meinungsäußerungen unter Heranziehung des § 130 StGB zu zwei Jahren und neun Monaten Haft” kritisiert werde. Die perfide Verharmlosung der rechtskräftig abgeurteilten Äußerung durch den Inhalt des Flugblatts erhärte die nicht hinnehmbare Provokationswirkung der geplanten Versammlung zusätzlich.
3. Die gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen eingelegte Beschwerde, mit der auch die Hinnahme erforderlicher Auflagen ausdrücklich angeboten wurde, wies das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 27. Januar 2006 zurück. Dem Oberverwaltungsgericht lag ein am Tag zuvor von der 1. Kammer des Ersten Senats (1 BvQ 3/06) erlassener Beschluss vor, durch den das Bundesverfassungsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederhergestellt hatte, mit dem sich der Veranstalter der für Lüneburg geplanten Versammlung gegen das dortige Verbot gewandt hatte.
Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen fällt die Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO zu Lasten des Antragstellers aus, da sich die angegriffene Verbotsverfügung als offensichtlich rechtmäßig erweise. Sie finde ihre Rechtsgrundlage in § 15 Abs. 1 VersG.
Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ergebe sich daraus, dass die auf Flugblättern und im Internet verbreitete Einladung zur Versammlung den Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 4 StGB erfülle. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift seien hier gegeben, da der Flugblattverantwortliche und weitere Anmelder der Versammlung nicht allein eine vor kurzem erfolgte Verurteilung eines Dritten wegen Volksverhetzung kritisiert hätten; vielmehr werde diese Straftat weitergehend in unerträglicher Weise verharmlost, wenn sie in dem Flugblatt als gerechte und wahrheitsgetreue Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hingestellt werde. Damit mache sich der Verfasser des Flugblatts Äußerungen zu Eigen, für die dieser Dritte zuvor zu Recht nach § 130 StGB verurteilt worden sei. Zudem mache der Verfasser dieses Flugblatts deutlich, dass in der angemeldeten Versammlung die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft zumindest gebilligt werden solle. Durch Erteilung von Auflagen könne dieser Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht entgegen gewirkt werden, da der verwaltungsgerichtliche Streitgegenstand durch die aus dem grundrechtlichen Selbstbestimmungsrecht des Versammlungsleiters über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung resultierende Verantwortung des Veranstalters für die kommunikativen Inhalte der Versammlung begrenzt werde. Deshalb scheide die Erteilung solcher Auflagen von vornherein aus.
Unabhängig hiervon und selbständig tragend sei bei Durchführung der angemeldeten Versammlung eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung gegeben, die schon für sich genommen das ausgesprochene Versammlungsverbot rechtfertige. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Brokdorf-Beschluss (BVerfGE 69, 315 ≪352 f.≫) ein gemäß § 15 Abs. 1 VersG auf eine drohende Gefährdung der öffentlichen Ordnung gestütztes Verbot von Versammlungen nur im Allgemeinen, jedoch nicht ausnahmslos ausgeschlossen. Ein solcher Ausnahmefall folge hier im Wege einer Gesamtschau aller die Versammlung prägenden Einzelmomente aus der besonderen, nicht hinnehmbaren Provokationswirkung der beabsichtigten Veranstaltung. Entgegen der in dem Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2006 – 1 BvQ 3/06 – vertretenen Auffassung bedeute es einen denklogischen Bruch, allein aus der (vermeintlichen) Unbedenklichkeit einzelner Umstände (Ort, Zeitpunkt und Thema der Versammlung) im Rahmen einer isolierten Betrachtung die rechtliche Unbedenklichkeit der Demonstration als solcher zu folgern. Die Versammlung stelle ein einheitliches Ganzes dar, dessen maßgebliches Gepräge sich erst aus einer Gesamtschau und -bewertung dieser Einzelaspekte (insbesondere der zeitlichen Nähe zum Holocaust-Gedenktag) ergebe.
4. Seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG begründet der Antragsteller wie folgt:
Versammlungsverbot und Entscheidungen der Verwaltungsgerichte seien rechtswidrig und verletzten den Antragsteller in seinen Grundrechten aus Art. 8 und Art. 5 GG. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts habe den Aussagen des Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 26. Januar 2006 (1 BvQ 3/06) nicht hinreichend Rechnung getragen, da der hier zu beurteilende Fall in verfassungsrechtlicher Hinsicht gleich gelagert gewesen sei. Der von dem Oberverwaltungsgericht erstmals geltend gemachten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit habe hier etwa durch die Auflage entgegen gewirkt werden können, während der Versammlung keinen konkreten Bezug zu einzelnen nach § 130 StGB erfolgten Verurteilungen herzustellen. Der Antragsteller sei während des gesamten Verfahrens zur Kooperation mit der Versammlungsbehörde und den Gerichten bereit gewesen.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat allerdings keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (vgl. BVerfGE 88, 169 ≪171 f.≫; 91, 328 ≪332≫). Das ist vorliegend nicht der Fall.
Im Eilrechtsschutzverfahren sind die erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn – wie hier – aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ergibt die Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren, dass eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz der schwere Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 111, 147 ≪152 f.≫).
2. Die dem Bundesverfassungsgericht im Eilrechtsverfahren allein mögliche vorläufige Prüfung lässt eine Rechtsgrundlage für das ausgesprochene Versammlungsverbot nicht erkennen. Die Argumentation des Oberverwaltungsgerichts ist in rechtlicher Hinsicht offensichtlich nicht tragfähig.
a) Soweit das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung darauf stützt, dass das zur Teilnahme an der Versammlung aufrufende Flugblatt einen nach § 130 Abs. 4 StGB strafbaren Inhalt aufweise, der auch die Versammlung prägen werde, liegt dem eine mit Art. 103 Abs. 1 GG unvereinbare Überraschungsentscheidung zu Grunde. Sie hat es dem Antragsteller unmöglich gemacht, selbst zu bestimmen, ob er die geplante Versammlung unter Auflagen durchführen möchte, die nicht zu der vom Oberverwaltungsgericht angenommenen Strafbarkeit führen. Damit ist auch Art. 8 Abs. 1 GG verletzt.
aa) In dem beim Oberverwaltungsgericht durchzuführenden Beschwerdeverfahren sind gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die mit der Beschwerde dargelegten Gründe zu prüfen. Der Antragsteller kann seine Beschwerde allerdings nur auf tatsächliche Umstände oder rechtliche Bewertungen stützen, die in der angegriffenen Entscheidung enthalten sind. Ob das Beschwerdegericht seine Entscheidung gleichwohl auf eine andere rechtliche Begründung als die Vorinstanz stützen darf, ist eine Frage einfachen Rechts (bejahend etwa VGH Mannheim, NVwZ-RR 2006, S. 75 ≪76≫ m.w.N.). Wird diese bejaht, bleibt der Grundsatz rechtlichen Gehörs gleichwohl beachtlich (vgl. BVerfGE 65, 227 ≪233≫). Ein Absehen von der Gewährung rechtlichen Gehörs ist allein dort zulässig, wo der Schutz gewichtiger Interessen die Überraschung eines Beteiligten unabweisbar erfordert (vgl. BVerfGE 49, 329 ≪342≫). Diese Grundsätze sind auch auf Eilverfahren anzuwenden, deren tatsächliche Auswirkungen das Ergebnis der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorwegnehmen (vgl. BVerfGE 65, 227 ≪235 f.≫).
Art und Umfang des nach Art. 103 Abs. 1 GG zu gewährenden rechtlichen Gehörs hängen nicht davon ab, ob neue Tatsachen und Beweisergebnisse vorliegen. Wird dem Rechtsstreit durch eine erstmals von dem Gericht angeführte Rechtsansicht eine Wendung gegeben, mit welcher der betroffene Beteiligte auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem Gang des bisherigen Verfahrens nicht zu rechnen brauchte, so hat das Gericht auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen und eine Möglichkeit zur Stellungnahme zu eröffnen (vgl. BVerfGE 84, 188 ≪191≫; 86, 133 ≪144≫; 98, 218 ≪263≫).
bb) Diesen Anforderungen hat das Oberverwaltungsgericht nicht hinreichend Rechnung getragen.
(1) Das Gericht hat seine Entscheidung, soweit es eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit bejaht, darauf gestützt, dass das Flugblatt selbst den Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 4 StGB) erfülle und dass mittels des Flugblatts zugleich deutlich gemacht werde, in der angemeldeten Versammlung solle die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft zumindest gebilligt werden. Die Strafbarkeit des Inhalts des Flugblatts war bisher weder in der behördlichen Verfügung noch in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts angenommen worden. Sie drängte sich allein nach dem Text des Flugblatts – also ohne die vom Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vorgenommene Hinzufügung von Äußerungen, derentwegen ein anderer im Flugblatt erwähnter Rechtsextremist wegen Volksverhetzung verurteilt worden war – nicht auf. Dies findet seine Bestätigung auch darin, dass die zuständige Staatsanwaltschaft Dortmund ein von der Staatsschutzabteilung der Polizei ausgelöstes Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller schon einige Tage vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts mangels strafrechtlicher Relevanz des Flugblatts eingestellt hatte (155 Js 23/06).
Angesichts dieser Umstände handelt es sich bei der Argumentation des Oberverwaltungsgerichts um eine Art. 103 Abs. 1 GG verletzende Überraschungsentscheidung.
(2) Durch sie ist die Möglichkeit vereitelt worden, die vom Oberverwaltungsgericht angenommene Gefahr durch ein milderes Mittel als ein Verbot auszuräumen und damit die Voraussetzungen für eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu schaffen.
Dass der Antragsteller eine ihm günstigere Entscheidung hätte erreichen können, wäre ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden, lässt sich hier schon deshalb nicht ausschließen, weil er im Beschwerdeverfahren und in der Antragsschrift für das hiesige Verfahren ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass als milderes Mittel gegenüber einem Verbot Auflagen hinsichtlich des Umgangs mit dem vom Oberverwaltungsgericht in Bezug genommenen Urteil, das die Verurteilung wegen Volksverhetzung betraf, in Betracht gekommen wäre.
(3) Das Oberverwaltungsgericht hat die Möglichkeit, der von ihm erstmals gesehenen Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit durch geeignete Auflagen entgegen zu wirken, allein deshalb ausgeschlossen, weil der Antragsteller sich im gerichtlichen Eilverfahren an der einmal von ihm gewählten thematischen Ausrichtung der Versammlung festhalten lassen müsse. Mit dieser Erwägung hat das Gericht dem Grundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG nicht hinreichend Rechnung getragen.
Von Art. 8 Abs. 1 GG wird das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über Art und Inhalt der Veranstaltung gewährleistet (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪343≫). Aus dem Selbstbestimmungsrecht folgt, dass der Veranstalter sein Versammlungsanliegen auch während des behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens noch jederzeit eigenständig konkretisieren darf. Die im behördlichen Verfahren geltenden, die Handhabung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mitbestimmenden Kooperationsobliegenheiten (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪355≫) setzen sich im gerichtlichen Eilverfahren als Anforderungen an die gerichtliche Verfahrensführung fort. Die Gerichte dürfen dem Antragsteller daher nicht die Möglichkeit nehmen, selbst zu bestimmen, ob er die Veranstaltung unter Hinnahme solcher Auflagen durchführen will, die sich erst aufgrund eines seitens des Gerichts im Verfahren erfolgten Austauschs der rechtlichen Begründung für das Verbot als erforderlich erweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001 – 1 BvQ 13/01 –, NJW 2001, S. 2069 ≪2071 f.≫).
b) Als gleichfalls nicht tragfähig erweist sich die weitere Begründung des Oberverwaltungsgerichts, wonach von einer Störung der öffentlichen Ordnung auszugehen sei.
Insoweit hat das Oberverwaltungsgericht die in § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordnete Bindungswirkung einer hier einschlägigen verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht beachtet und ist damit seiner in Art. 20 Abs. 3 GG angeordneten Gesetzesbindung nicht gerecht geworden.
aa) Verkennt ein Fachgericht den Umfang der in § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordneten Bindung an einschlägige verfassungsgerichtliche Entscheidungen, so liegt darin ein Verstoß gegen seine in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Bindung an Gesetz und Recht (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪94≫). Zugleich verletzt dies den Betroffenen in der grundrechtlichen Gewährleistung, auf welche sich die bindend gewordenen Aussagen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung beziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 2004 – 1 BvR 2495/04 –, NVwZ 2005, S. 439).
Gemäß § 93d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG kann die Kammer, soweit der Senat nicht über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde entschieden hat, alle das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen erlassen. Allerdings kann nur der Senat eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird (§ 93d Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz BVerfGG). Darum geht es hier nicht.
Eine stattgebende Kammerentscheidung steht der Entscheidung des Senats gleich (§ 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG). Dies schließt die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG ein (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 2004 – 1 BvR 2495/04 –, NVwZ 2005, S. 439). Zu den das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen gehören auch Eilentscheidungen nach § 32 Abs. 1 BVerfGG. Eine stattgebende Eilentscheidung nimmt im Ausmaß ihrer Bindungsfähigkeit an der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG teil (vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31 Rn. 84 ≪Stand: Juni 2001≫; Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., 2001, Rn. 1228; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 1991, S. 256), und zwar gemäß § 93d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auch eine Entscheidung einer Kammer.
Wie weit der bindungsfähige Gehalt von Eilentscheidungen reicht, bedarf hier keiner grundsätzlichen Klärung. Bindungsfähig ist eine Eilentscheidung jedenfalls nur unter Beachtung des summarischen Charakters der rechtlichen Prüfung und nur bis zur Entscheidung in der Hauptsache. Im Hinblick auf eine im einstweiligen Rechtsschutz zu treffende Entscheidung der Fachgerichte, der eine umfassende und abschließende Sachprüfung ebenfalls nicht zu Grunde liegen kann, steht der summarische Charakter einer Entscheidung im Eilverfahren der Bindungswirkung für die Fachgerichte nicht entgegen. Enthalten verfassungsgerichtliche Entscheidungen im Eilrechtsschutz Ausführungen zur Auslegung und Anwendung von Verfassungsrechtsnormen – wie häufig versammlungsrechtliche Entscheidungen, die in vielem in ihrer praktischen Bedeutung einer Hauptsacheentscheidung nahe kommen (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪364≫; 110, 77 ≪87≫) – sind die Fachgerichte bei ihren Eilentscheidungen daran gebunden. Die verfassungsgerichtliche Entscheidung ist somit von den Fachgerichten auch über den konkreten Ausgangsfall hinaus zu beachten.
Bindend für die Fachgerichte sind danach die verfassungsrechtlichen Feststellungen über die offensichtliche Rechtswidrigkeit einer Auslegung oder Anwendung des Verfassungsrechts durch ein Fachgericht. Es ist dem Fachgericht daher verwehrt, davon abzuweichen und für einen rechtlich und tatsächlich vergleichbar gelagerten Sachverhalt den in Frage stehenden Hoheitsakt als offensichtlich rechtmäßig zu bewerten und deshalb zu einer dem Antragsteller nachteiligen Entscheidung zu gelangen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2003 – 1 BvQ 32/03 –, NVwZ 2004, S. 90 ≪92≫).
bb) Das Oberverwaltungsgericht hat sich in Widerspruch zu hiernach bindenden Aussagen des Beschlusses der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2006 – 1 BvQ 3/06 – gesetzt, als es eine das Versammlungsverbot selbständig tragende Gefährdung der öffentlichen Ordnung angenommen hat.
In dem Beschluss vom 26. Januar 2006 war einstweiliger Rechtsschutz im Hinblick auf eine Versammlung gewährt worden, die bezogen auf die der Prüfung einer Verletzung der öffentlichen Ordnung maßgebenden Umstände in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der in Dortmund geplanten glich. Beide Versammlungen waren für den 28. Januar 2006, also einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag, vorgesehen. Veranstalter und voraussichtliche Teilnehmer waren Rechtsextremisten. Dass das Motto der für Dortmund geplanten Veranstaltung anders als das für Lüneburg ausdrücklich auf die Abschaffung von § 130 StGB zielte, war für die rechtliche Bewertung ohne Belang, da das für die Versammlung in Lüneburg vorgesehene Motto von den Gerichten so ausgelegt wurde, dass es den gleichen Inhalt hatte.
Das Bundesverfassungsgericht hatte unter Verweis auf die bisherige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung dargelegt, dass diese Umstände nicht ausreichen, um eine Verletzung der öffentlichen Ordnung annehmen zu können. Dem Oberverwaltungsgericht lag diese Entscheidung im Wortlaut vor. Die von ihm vorgenommene rechtliche Würdigung widersprach den nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine Störung der öffentlichen Ordnung durch Versammlungen von Rechtsextremisten nicht aus einem für sich genommen rechtlich unbedenklichen Motto – etwa der Aufforderung zur Abschaffung einer Strafrechtsnorm – und auch nicht aus der unmittelbaren zeitlichen Nähe der Versammlung zu einem Gedenktag wie dem Holocaust-Gedenktag gefolgert werden darf und auch eine Gesamtschau beider Umstände grundsätzlich nicht geeignet ist, eine solche Störung zu begründen. Umstände, die eine Ausnahme hätten rechtfertigen können, waren nicht ersichtlich.
Das Oberverwaltungsgericht hat keine fallbezogenen Umstände aufgezeigt, die eine gegenüber dem der Kammerentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung tragen können. Soweit es eine besondere Provokationswirkung daraus herleitete, dass der Aufruf zur Demonstration die Richtigkeit hetzerischer Aussagen betont und sich so zu eigen gemacht habe, liegt dem eine Abweichung von der gleichfalls nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Erwägung der Entscheidung vom 26. Januar 2006 zu Grunde, dass für die Begründung einer Störung der öffentlichen Ordnung unter dem Gesichtspunkt einer Provokationswirkung nicht auf die von dem Schutzgehalt des Art. 5 Abs. 1 GG umfasste thematische Ausrichtung der Versammlung oder zu erwartenden Äußerungen der Versammlungsteilnehmer abgestellt werden darf. Der Inhalt einer Meinungsäußerung, der im Rahmen des Art. 5 GG nicht unterbunden werden darf, kann auch nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden, die das Grundrecht des Art. 8 GG beschränken (vgl. BVerfGE 90, 241 ≪246≫; 111, 147 ≪155≫).
3. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 26. Januar 2006 zu bescheiden. Aus den dort dargelegten Gründen ist auch im vorliegenden Verfahren die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Es ist Aufgabe der Versammlungsbehörde zu entscheiden, ob und welche Auflagen gemäß § 15 VersG erforderlich und unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Schutzes des Antragstellers aus Art. 5 und 8 GG angemessen sind.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Antragstellers beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Steiner, Hoffmann-Riem, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1489112 |
NVwZ 2006, 586 |
NPA 2007 |
www.judicialis.de 2006 |