Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 06.07.2010; Aktenzeichen 13 W 23/10) |
LG Oldenburg (Beschluss vom 07.04.2010; Aktenzeichen 14 T 792/08) |
AG Brake (Beschluss vom 08.08.2008; Aktenzeichen 2a XIV 26/08 B) |
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts Oldenburg vom 7. April 2010 – 14 T 873 und 792/08 – und des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 6. Juli 2010 – 13 W 23/10 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes, soweit durch sie die Rechtswidrigkeit der einstweiligen Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht auch für den Zeitraum seit dem Schluss der Verhandlung vor dem Amtsgericht Geldern am 6. September 2008 bis zum 8. September 2008, 16.00 Uhr, festgestellt worden ist.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Oldenburg zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer drei Viertel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verpflichtung der Gerichte zur Anhörung des Betroffenen im Verfahren der einstweiligen Freiheitsentziehung zur Sicherung einer Abschiebung.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist ein 1989 geborener serbischer Staatsangehöriger. Er wurde im Jahr 2006 bestandskräftig aus der Bundesrepublik ausgewiesen und zur Ausreise aufgefordert. Am 7. August 2008 beantragte die Ausländerbehörde die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nach § 11 Abs. 1 des bis zum 31. August 2009 geltenden Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FreihEntzG) sowie der anschließenden Sicherungshaft durch sofort wirksamen Beschluss. Bei einer geplanten Abschiebung im Juni 2008 habe die Polizei den Beschwerdeführer unter seiner Wohnanschrift nicht angetroffen. Sein Aufenthalt sei unbekannt. Er sei daraufhin zur Festnahme ausgeschrieben worden. Um diese durchführen zu können, sei eine Anordnung nach § 11 Abs. 1 FreihEntzG erforderlich. Die Anhörung und die Entscheidung über die Sicherungshaft könnten nach der Festnahme unverzüglich nachgeholt werden.
2. Das Amtsgericht Brake ordnete gegen den Beschwerdeführer mit – hier angegriffenem – Beschluss vom 8. August 2008 die einstweilige Freiheitsentziehung an. Es bestünden dringende Gründe für die Annahme, dass gegen den Beschwerdeführer Abschiebehaft gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG (in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung) angeordnet werde. Es bestünden Anhaltspunkte, dass sich der Beschwerdeführer der Abschiebung entziehen wolle. Er sei bei einer geplanten Abschiebung im Juni 2008 nicht in seiner Wohnung zu erreichen gewesen. Obwohl seinem Vater am Folgetag mitgeteilt worden sei, der Beschwerdeführer solle sich umgehend bei der Ausländerbehörde melden, habe er dies unterlassen. Trotz einer seit Januar 2008 bestehenden Ausschreibung des Beschwerdeführers zur Festnahme habe dieser bislang nicht festgenommen werden können. Zu einem Anhörungstermin im Juni 2008 seien weder der Beschwerdeführer noch dessen Verlobte erschienen. Die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung sei gemäß § 8 Abs. 1 FreihEntzG für sofort wirksam zu erklären, weil andernfalls die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer, der sich offenbar im Raum Brake aufhalte, untertauche.
3. Gegen den Beschluss des Amtsgerichts Brake ließ der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde erheben. Es bestünden keine dringenden Gründe für die Annahme, er werde in Abschiebehaft genommen werden. Er sei noch nicht persönlich angehört worden. Eine Nachholung der Anhörung erst nach der Festnahme sei unzulässig.
4. Am Samstag, den 6. September 2008, wurde der Beschwerdeführer festgenommen und noch an demselben Tag dem Amtsgericht Geldern als ortsnächstem Amtsgericht vorgeführt, welches ihm den Beschluss über die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung verkündete. Aus dem Protokoll über die Vorführung ergibt sich nicht, dass der Beschwerdeführer Gelegenheit hatte, sich zu der Freiheitsentziehung zu äußern. Am 11. September 2008 hörte das Amtsgericht Brake den Beschwerdeführer persönlich an und ordnete auf Antrag der Ausländerbehörde die Abschiebehaft an. Am 2. Oktober 2008 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft heraus abgeschoben.
5. Im Verfahren über die sofortige Beschwerde stellte der Beschwerdeführer seinen Antrag auf ein Feststellungsbegehren um und machte ergänzend geltend, das Amtsgericht Brake habe nicht begründet, warum es den Beschwerdeführer vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nicht persönlich angehört habe. Auch sei der Beschwerdeführer nicht unverzüglich nach seiner Festnahme dem zuständigen Richter vorgeführt worden. Vielmehr habe ihm das Amtsgericht Geldern lediglich den „Haftbefehl” des Amtsgerichts Brake bekanntgegeben. Dem Amtsgericht Brake sei er erst fünf Tage nach seiner Festnahme vorgeführt worden.
6. Das Landgericht wies den Feststellungsantrag mit – hier ebenfalls angegriffenem – Beschluss vom 7. April 2010 als unbegründet zurück. Das Amtsgericht Brake habe vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nach § 11 Abs. 2 FreihEntzG wegen Gefahr im Verzug von einer Anhörung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer sei in dem Verfahren erfolglos zur Anhörung geladen worden. Sein dortiger Verfahrensbevollmächtigter habe keine Angaben zu seinem Aufenthaltsort machen können.
7. Mit seiner gegen den Beschluss des Landgerichts gerichteten sofortigen weiteren Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, es sei unerheblich, dass er zu einem anberaumten Anhörungstermin nicht erschienen sei. Jedenfalls sei er nicht unverzüglich dem zuständigen Haftrichter vorgeführt worden. Insoweit wiederholte er seinen Vortrag aus der sofortigen Beschwerde. Außerdem machte er geltend, jedenfalls habe ihn das Amtsgericht Geldern nicht ordnungsgemäß angehört.
8. Das Oberlandesgericht stellte mit – hier ebenfalls angegriffenem – Beschluss vom 6. Juli 2010 die Rechtswidrigkeit der Inhaftierung im Zeitraum vom 8. September 2008, 16.00 Uhr, bis zur Anordnung der Abschiebehaft durch das Amtsgericht Brake am 11. September 2008 fest. Im Übrigen wies es die sofortige weitere Beschwerde zurück. Eine Anhörung vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung habe wegen Gefahr im Verzug unterbleiben dürfen, nachdem sich der Beschwerdeführer der Abschiebung entzogen und sein Bevollmächtigter mitgeteilt habe, ihm sei nur die Anschrift bekannt, unter der eine Abschiebung gescheitert sei. Trotz Aufforderung der Ausländerbehörde an seinen Vater, der auf Veranlassung des Beschwerdeführers bei der Behörde vorgesprochen habe, habe der Beschwerdeführer sich nicht gestellt. Daher habe eine Ladung zur Anhörung keinen Erfolg versprochen. Dem amtsgerichtlichen Beschluss lasse sich hinreichend deutlich entnehmen, dass von der Ladung wegen des unbekannten Aufenthalts abgesehen worden sei. Allerdings sei die Anhörung nicht im Sinne des § 11 Abs. 2 FreihEntzG unverzüglich nachgeholt worden. Das Amtsgericht Geldern habe den Beschwerdeführer nicht in der Sache angehört. Die Anhörung durch das Amtsgericht Brake am 11. September 2008 sei nicht mehr als unverzüglich zu werten. Zwar sei eine Anhörung noch nicht sogleich nach der Festnahme am 6. September 2008 geboten gewesen, weil es sich um einen Samstag gehandelt habe und dem richterlichen Eildienst die Akten nicht vorgelegen hätten. Jedoch hätte der Beschwerdeführer spätestens bis zum darauffolgenden Montag, den 8. September 2008, um 16.00 Uhr, angehört werden müssen. Die Anhörung hätte erforderlichenfalls das Amtsgericht Geldern im Rahmen seiner Eilzuständigkeit nach § 4 Abs. 2 FreihEntzG durchführen können.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer unter Berufung auf Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG geltend, das Amtsgericht Brake habe in dem die einstweilige Freiheitsentziehung anordnenden Beschluss bereits nicht ausreichend begründet, weshalb es von einer vorherigen Anhörung des Beschwerdeführers abgesehen habe. Darin liege ein grundrechtlich relevanter Verfahrensfehler. Die Anhörung sei außerdem nicht unverzüglich nachgeholt worden. Die Nachholung der Anhörung sei umso dringlicher, wenn der Betroffene nicht bereits vor Anordnung der Freiheitsentziehung angehört worden sei. Unvermeidbare Verzögerungen seien außerdem zu dokumentieren. Der Beschwerdeführer hätte bereits unmittelbar nach seiner Festnahme am 6. September 2008, spätestens jedoch am Folgetag angehört werden müssen. Dass dem richterlichen Eildienst die Akte nicht vorgelegen habe, sei unerheblich. Die Vorhaltung eines richterlichen Eildienstes sei verfassungsrechtlich geboten. Damit gehe auch die Verpflichtung zur Einrichtung eines korrespondierenden Bereitschaftsdienstes derjenigen Behörden einher, die eine Haft beantragten. Diese hätten außerhalb der gewöhnlichen Geschäftszeiten die Akten zur Verfügung zu stellen, weil sonst der Richtervorbehalt ins Leere liefe. Die Ausländerbehörde habe hier im Übrigen am Tag der Festnahme einen Haftantrag in der Hauptsache an das Amtsgericht Geldern übersandt. Daher hätte auch die Möglichkeit bestanden, dem richterlichen Eildienst die Akte zu übermitteln. Es sei nicht dokumentiert, weshalb dies unterblieben sei. Eine inhaltliche Anhörung durch das Amtsgericht Geldern sei möglich und zulässig gewesen. Eine dem § 115a Abs. 2 Satz 4 StPO vergleichbare Regelung bestehe für die Abschiebehaft nicht.
III.
Zu der Verfassungsbeschwerde hat sich das Niedersächsische Justizministerium im Einvernehmen mit dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport geäußert: Der Beschwerdeführer sei nicht in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt. Von einer Anhörung des Betroffenen vor Anordnung einer einstweiligen Freiheitsentziehung dürfe bei Gefahr im Verzug abgesehen werden. In den angegriffenen Entscheidungen sei die Annahme von Gefahr im Verzug hinreichend begründet worden. Die Anhörung des Beschwerdeführers sei unverzüglich nachgeholt worden. Auch wenn man diesbezüglich von einer Eilzuständigkeit des Amtsgerichts Geldern ausgehe, bestünden erhebliche Zweifel, ob das Gericht die Anhörung hätte durchführen können. Die richterliche Pflicht zur Sachaufklärung gebiete die Beiziehung der vollständigen Akte der Ausländerbehörde. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Eildienstes bei der Ausländerbehörde bestehe nicht. Die Ausländerbehörde sei daher nicht verpflichtet gewesen, dem Amtsgericht Geldern die Ausländerakte vor dem 8. September 2008 zur Verfügung zu stellen. Erst dann habe die Akte dem Amtsgericht Geldern auch tatsächlich vorgelegen.
Die Ausländerakte sowie die Akte des Ausgangsverfahrens sind beigezogen worden.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, in einer die Kammerzuständigkeit begründenden Weise offensichtlich begründet. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde insoweit zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93b Satz 1 BVerfGG).
I.
Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Amtsgericht Brake habe den Verzicht auf eine Anhörung vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nicht ausreichend begründet, sind die Annahmevoraussetzungen nicht erfüllt. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil sie nicht hinreichend substantiiert ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Der Beschwerdeführer setzt sich nicht ausreichend mit dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts auseinander, in welchem das Gericht zwar grundsätzlich von einer Begründungspflicht ausgeht, diese jedoch als erfüllt ansieht. Den diesbezüglichen Erwägungen des Gerichts tritt der Beschwerdeführer, der auch nicht ausführt, wie mangels bekannten Aufenthaltsorts eine Anhörung hätte durchgeführt werden können, nicht entgegen. Für die von ihm angenommene weiterreichende Begründungspflicht gibt er keine hinreichende verfassungsrechtliche Begründung. Von einer weiteren Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
II.
Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Die vorläufige Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers verletzte diesen bereits seit dem Schluss der Verhandlung vor dem Amtsgericht Geldern in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG.
1. Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪322≫; 58, 208 ≪220≫). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 ≪323≫; 29, 183 ≪195 f.≫; 58, 208 ≪220≫). Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfGE 58, 208 ≪222, 230≫; 70, 297 ≪308≫).
Zu den Verfahrensgarantien, die Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht, gehört auch die in § 5 Abs. 1 Satz 1 und in § 11 Abs. 2 FreihEntzG vorgesehene richterliche Pflicht, den Betroffenen vor Anordnung der Haft grundsätzlich mündlich anzuhören (vgl. BVerfGK 9, 132 ≪138≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. März 1996 – 2 BvR 927/95 –, juris, Rn. 16). Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung ist im späteren Verfahren nicht mehr mit Wirkung für die Vergangenheit zu heilen (vgl. BVerfG, a.a.O., juris, Rn. 18 ff.). Die mündliche Anhörung des Betroffenen dient darüber hinaus auch der Wahrung des Richtervorbehalts nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 GG (vgl. BVerfGK 9, 132 ≪140≫). Der Richter darf sich bei der Anordnung von Freiheitsentziehungen nicht auf die Prüfung der Plausibilität der von der antragstellenden Behörde vorgetragenen Gründe beschränken, sondern muss eigenverantwortlich die Tatsachen feststellen, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen. Hierfür ist die persönliche Anhörung des Betroffenen, namentlich bei eilbedürftigen Entscheidungen, ein geeignetes Mittel (vgl. BVerfGE 83, 24 ≪34≫; BVerfGK 9, 132 ≪142≫).
2. Nach diesen Maßstäben hätte das Amtsgericht Geldern den Beschwerdeführer bei der Vorführung am 6. September 2008 anhören und über die Fortdauer der Freiheitsentziehung entscheiden müssen. Da es dies unterlassen hat, war die gegen den Beschwerdeführer vollzogene Freiheitsentziehung seit Schluss der Verhandlung vor dem Amtsgericht Geldern nicht mehr mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 GG vereinbar.
a) Auch bei Anordnung einer einstweiligen Freiheitsentziehung ist der Betroffene grundsätzlich vorher anzuhören (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 5 Abs. 1 Satz 1 FreihEntzG; nunmehr § 427 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Nur bei Gefahr im Verzug kann die Anhörung ausnahmsweise zunächst unterbleiben; sie ist dann jedoch unverzüglich nachzuholen (§ 11 Abs. 2 Satz 2 FreihEntzG; nunmehr § 427 Abs. 2 1. Halbsatz FamFG). Die verfahrensrechtliche Pflicht zur unverzüglichen Nachholung der Anhörung nimmt über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG an dem Schutz durch das Freiheitsgrundrecht teil. Mit der Nachholung der Anhörung ist auch die Verpflichtung verbunden, den getroffenen vorläufigen Beschluss über die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung dahingehend zu überprüfen, ob er angesichts der vervollständigten Entscheidungsgrundlage aufrechterhalten werden kann oder ob er der Abänderung oder Aufhebung bedarf.
b) Zur Nachholung der Anhörung ist grundsätzlich jedes Gericht verpflichtet, das nach dem Gesetz für Entscheidungen über die einstweilige Freiheitsentziehung zuständig ist. Dies betrifft zunächst das Gericht, das die einstweilige Freiheitsentziehung selbst angeordnet hat. Die Verpflichtung trifft daneben jedoch auch das Gericht, dem – wie hier über § 4 Abs. 2 Satz 1 FreihEntzG (nunmehr § 50 Abs. 2 Satz 1, § 416 Satz 1 FamFG) – die einstweilige Zuständigkeit für eilige Anordnungen zugewiesen ist. Wird der Betroffene diesem Gericht vorgeführt, so muss es die Anhörung nachholen, um anschließend eine Entscheidung auf vollständiger Tatsachengrundlage treffen zu können. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 FreihEntzG ist die Anhörung „unverzüglich” nachzuholen. Dies bedeutet, dass die Anhörung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachzuholen ist (so für die unverzügliche Nachholung der richterlichen Entscheidung als solcher BVerfGE 105, 239 ≪249≫), sobald der Grund für das Unterbleiben der Anhörung entfallen ist. Dies ist mit der Vorführung des Betroffenen vor ein zur Entscheidung über die Freiheitsentziehung berufenes Gericht regelmäßig der Fall. Die Verpflichtung auch des nach § 4 Abs. 2 Satz 1 FreihEntzG zuständigen Gerichts, die Anhörung nachzuholen, folgt aus der gesetzgeberischen Entscheidung, diesem Gericht eine – wenngleich auf eilbedürftige Anordnungen beschränkte – eigenständige inhaltliche Entscheidungs- und Prüfungskompetenz einzuräumen, anders als dies etwa bei der Verkündung eines Haftbefehls durch das nächste Amtsgericht nach § 115a Abs. 2 Satz 4 StPO der Fall ist.
c) Das Amtsgericht Geldern hätte den Beschwerdeführer daher von Verfassungs wegen anhören müssen, als dieser ihm am Samstag, dem 6. September 2008, vorgeführt wurde. Es handelte als das nach § 4 Abs. 2 Satz 1 FreihEntzG für Eilentscheidungen zuständige Gericht. Daher oblag ihm die Prüfung, ob die (einstweilige) Freiheitsentziehung weiter aufrecht zu erhalten war. Hierfür hätte es die Tatsachengrundlage, auf der die Anordnung basierte, vervollständigen und zu diesem Zweck die Anhörung des Beschwerdeführers nachholen müssen. Dies hat es unterlassen. Ausweislich des Protokolls über die Sitzung des Amtsgerichts wurde dem Beschwerdeführer lediglich die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung bekanntgegeben und eine Abschrift des Beschlusses des Amtsgerichts Brake vom 8. August 2008 – vom Amtsgericht Geldern fälschlicherweise als Haftbefehl bezeichnet – ausgehändigt. Eine Befragung zur Sache und insbesondere zu den Umständen des Aufenthalts des Beschwerdeführers unterblieb.
Von einer Anhörung durfte das Amtsgericht Geldern nicht etwa deshalb absehen, weil ihm bei der Vorführung des Beschwerdeführers dessen Ausländerakte nicht vorlag. Ungeachtet der Frage, inwieweit ein Gericht vor einer abschiebehaftrechtlichen Entscheidung im Einzelfall die Ausländerakte beizuziehen hat (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 – 2 BvR 1033/06 –, NVwZ 2008, S. 304 ≪305≫, und vom 9. Februar 2012 – 2 BvR 1064/10 –, juris, Rn. 19), lagen dem Amtsgericht Geldern ausweislich der beigezogenen Akte des Freiheitsentziehungsverfahrens bei der Vorführung des Beschwerdeführers alle für eine Entscheidung über die Fortdauer der einstweiligen Freiheitsentziehung wesentlichen Unterlagen vor. So waren dem Gericht vor der Vorführung des Beschwerdeführers insbesondere der Haftantrag der Ausländerbehörde vom 6. September 2008 sowie der Beschluss des Amtsgerichts Brake vom 8. August 2008 übermittelt worden. Hieraus ergaben sich die Umstände, aufgrund derer das Amtsgericht Brake zu dem Ergebnis gelangt war, dass für den Beschwerdeführer kein aktueller Aufenthaltsort bekannt war. Daneben hatte das Amtsgericht Geldern auch Dokumente erhalten, aus denen sich der wesentliche aufenthaltsrechtliche Sachverhalt ersehen ließ, wie insbesondere die gegen den Beschwerdeführer ergangene Ausweisungsverfügung vom 9. Februar 2006 sowie der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 19. Februar 2008 (11 A 1513/06), mit dem die Klage des Beschwerdeführers gegen seine Ausweisung abgewiesen worden war. Diese dem Amtsgericht Geldern bei der Vorführung des Beschwerdeführers am 6. September 2008 vorliegenden Unterlagen versetzten das Gericht in die Lage, nach Anhörung des Beschwerdeführers auch ohne Beiziehung der vollständigen Ausländerakte über die weitere Freiheitsentziehung zu entscheiden. Für einen Aufschub der richterlichen Anhörung bis zum folgenden Montag, den 8. September 2008 um 16.00 Uhr – wie im Beschluss des Oberlandesgerichts zugrunde gelegt –, war angesichts der verfahrensrechtlichen Gewährleistungen des Freiheitsgrundrechts kein Raum. Da der Beschwerdeführer am 6. September 2008 tatsächlich dem Amtsgericht Geldern vorgeführt wurde, dem alle zur Entscheidung erforderlichen Unterlagen vorlagen, kommt es nicht auf die Frage an, ob es an einem gerichtlichen oder behördlichen Eildienst gefehlt haben könnte.
C.
Indem die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts eine Rechtswidrigkeit der einstweiligen Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht bereits seit dem Schluss der Verhandlung vor dem Amtsgericht Geldern am 6. September 2008 annehmen, verkennen sie die Reichweite des Freiheitsgrundrechts und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 des Grundgesetzes. Die Kammer hebt den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 6. Juli 2010 auf und verweist die Sache an dieses Gericht zurück (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2, Abs. 3 BVerfGG.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
Haufe-Index 3657922 |
ZAR 2013, 29 |