Verfahrensgang
OLG Hamm (Urteil vom 03.07.2007; Aktenzeichen 7 UF 288/06) |
AG Gladbeck (Urteil vom 23.10.2006; Aktenzeichen 10 F 7/06) |
Tenor
1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 3. Juli 2007 – 7 UF 288/06 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 3. Juli 2007 – 7 UF 288/06 – wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht Hamm zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zulassung der Revision anlässlich eines sogenannten Scheinvaterregressprozesses nach § 1607 Abs. 3 Satz 2 BGB.
I.
1. Der Beschwerdeführer war bis 1983 verheiratet. Seine Ehefrau brachte im August 1982 ein Kind zur Welt, dessen rechtlicher Vater der Beschwerdeführer gemäß § 1591 Abs. 1 Satz 1 BGB war. Bis 2001 leistete der Beschwerdeführer dem Kind Unterhalt. Anfang 2002 erfuhr der Beschwerdeführer von gegen seine leibliche Vaterschaft sprechenden Umständen, weshalb er Klage auf Anfechtung seiner Vaterschaft erhob. Aus dem vom Amtsgericht in Auftrag gegebenen Abstammungsgutachten ergab sich, dass der Beschwerdeführer als Vater des Kindes ausgeschlossen werden könne, während die Vaterschaft des in die Begutachtung einbezogenen Mehrverkehrszeugen mit einer statistischen Plausibilität von 99,9999998 % „praktisch erwiesen” sei. Darauf stellte das Amtsgericht mit Urteil vom 1. September 2003 fest, dass der Beschwerdeführer nicht der Vater des Kindes sei. Der Mehrverkehrszeuge anerkannte die Vaterschaft nicht; diese wurde mangels Antrags der Feststellungsberechtigten auch nicht gerichtlich festgestellt.
a) Im Ausgangsverfahren wies das Amtsgericht Gladbeck mit Urteil vom 23. Oktober 2006 eine Klage des Beschwerdeführers ab, mit welcher er vom Mehrverkehrszeugen aus übergegangenem Recht gemäß § 1607 Abs. 3 BGB die Zahlung des von ihm als Scheinvater an das Kind geleisteten Unterhalts begehrt hatte. Der Beschwerdeführer habe gegen den Beklagten keinen Regressanspruch, da der Beklagte rechtlich nicht als Vater des Kindes festgestellt sei. Eine Inzidentprüfung der Vaterschaft im Regressprozess sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durch § 1600d Abs. 4 BGB ausgeschlossen (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1993 – XII ZR 238/91 –, juris).
b) Gegen das Urteil wandte sich der Beschwerdeführer mit der Berufung zum Oberlandesgericht Hamm. Gleichzeitig regte er die Zulassung der Revision für den Fall an, dass der Senat die Durchbrechung der Rechtsausübungssperre des § 1600d Abs. 4 BGB für unzulässig erachte, obwohl der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens von dem höchstrichterlich entschiedenen Sachverhalt abweiche und einige Oberlandesgerichte die Rechtsansicht verträten, im Falle einer sachverständig festgestellten Vaterschaft sei die Durchbrechung der Rechtsausübungssperre des § 1600d Abs. 4 BGB zulässig.
c) Während der Anhängigkeit der Berufung des Beschwerdeführers beim 7. Senat des Oberlandesgerichts Hamm ließ der 11. Senat des Oberlandesgerichts Hamm mit Urteil vom 14. Februar 2007 die Revision in einem Scheinvaterregressprozess zu, in dem eine rechtliche Feststellung der Vaterschaft des Beklagten ebenfalls nicht erfolgt und dessen leibliche Vaterschaft ebenfalls unstreitig war (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 14. Februar 2007 – 11 UF 210/06 –, juris). Zur Begründung führte der 11. Senat aus, der Bundesgerichtshof habe sich nicht dazu verhalten, wie die Fälle zu beurteilen seien, in denen die Kindesmutter einen Mann – letztlich unwidersprochen – als Vater benenne. In der obergerichtlichen Rechtsprechung und im Schrifttum würden Ausnahmen angenommen, in denen die Berufung auf die Rechtsausübungssperre gegen Treu und Glauben verstoße und die Inanspruchnahme des leiblichen Vaters nicht hindere, etwa wenn die Kindesmutter und das volljährige Kind die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft unterließen und der Erzeuger die Vaterschaft nicht anerkenne. Der Bundesgerichtshof habe insbesondere auf die gemäß Art. 2 Abs. 1 GG anzuerkennenden Belange des Kindes abgestellt, eine Vaterschaft nicht feststellen zu lassen. Diese Argumente hätten aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. April 2003 an Gewicht gewonnen, in der angenommen worden sei, dass das Kindeswohl durch die Feststellung des wirklichen Vaters in diesen Fällen nicht wesentlich berührt werde (vgl. BVerfGE 108, 82 ≪109 f.≫). Im Hinblick auf diese Feststellung erscheine die Fortgeltung der vom Bundesgerichtshof zugrunde gelegten Erwägung zweifelhaft, das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes stehe der inzidenten Feststellung der Vaterschaft innerhalb eines Regressprozesses nach § 1607 Abs. 3 BGB entgegen.
d) Auf den Hinweis des erkennenden 7. Senats des Oberlandesgerichts, die Absicht zu haben, die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, da die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach wie vor Bestand und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe, beantragte der Beschwerdeführer unter Verweis auf die Zulassung der Revision durch den 11. Senat in einem vergleichbaren Verfahren nochmals die Zulassung der Revision im Ausgangsverfahren. Darauf zog der 7. Senat das Urteil des 11. Senats bei.
e) Mit Urteil vom 3. Juli 2007 wies der 7. Senat des Oberlandesgerichts Hamm die Berufung des Beschwerdeführers zurück, da eine inzidente Feststellung der Vaterschaft im Rahmen eines sogenannten Scheinvaterregressprozesses ausscheide. Die Revision sei nicht zuzulassen. Dem Rechtsstreit komme keine grundsätzliche Bedeutung zu. Eine Entscheidung des Revisionsgerichts sei weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, nachdem der Bundesgerichtshof die Rechtsfrage eindeutig mit Urteil vom 17. Februar 1993 (a.a.O.) entschieden und der erkennende Senat sich der dort vertretenen Rechtsansicht angeschlossen habe. Es sei nicht zu erwarten, dass der Bundesgerichtshof seine Meinung im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 108, 82 f.) ändern werde.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Revision nicht zuzulassen.
3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und der Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers geboten ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist, § 93c Abs. 1 BVerfGG.
1. Das Urteil des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Oberlandesgericht hat durch eine aus Sachgründen nicht zu rechtfertigende Handhabung des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO den Zugang des Beschwerdeführers zur Revisionsinstanz unzumutbar eingeschränkt.
a) Für den Zivilprozess ergibt sich das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 85, 337 ≪345≫; 97, 169 ≪185≫).
Effektiver Rechtsschutz in diesem Sinne umfasst nicht nur das Recht auf Zugang zu den Gerichten sowie auf eine verbindliche Entscheidung durch den Richter aufgrund einer grundsätzlich umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Streitgegenstandes (vgl. BVerfGE 85, 337 ≪345≫; 97, 169 ≪185≫). Das Gebot effektiven Rechtsschutzes beeinflusst auch die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Es begründet zwar keinen Anspruch auf eine weitere Instanz; die Entscheidung über den Umfang des Rechtsmittelzuges bleibt vielmehr dem Gesetzgeber überlassen (vgl. BVerfGE 54, 277 ≪291≫; 89, 381 ≪390≫; 107, 395 ≪401 f.≫). Hat der Gesetzgeber sich jedoch für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 ≪385≫; 74, 228 ≪234≫; 77, 275 ≪284≫; BVerfGK 5, 189 ≪193≫).
Diese Grundsätze finden auf das angegriffene oberlandesgerichtliche Urteil Anwendung. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Revision nicht zuzulassen, war für den Beschwerdeführer gemäß § 26 Nr. 9 EGZPO in der bis zum 31. August 2009 geltenden Fassung nicht mit der Nichtzulassungsbeschwerde angreifbar, so dass ihm der Weg zur Revision infolge deren Nichtzulassung durch das Oberlandesgericht endgültig versperrt war.
b) Das Oberlandesgericht hat § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO (Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung) in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise falsch angewendet und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.
aa) Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt einer Sache zu, wenn sie eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2008 – 1 BvR 2587/06 –, juris, Rn. 19; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2002 – V ZB 16/02 –, juris, Rn. 4; Ball, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 7. Aufl. 2009, § 543 ZPO Rn. 5). Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind. Hat der Bundesgerichtshof eine Rechtsfrage bereits geklärt, kann sich weiterer Klärungsbedarf ergeben, wenn nicht nur einzelne Instanzgerichte oder Literaturstimmen der Auffassung des Bundesgerichtshofs weiterhin widersprechen oder wenn neue Argumente ins Feld geführt werden, die den Bundesgerichtshof zu einer Überprüfung seiner Auffassung veranlassen könnten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2008 – 1 BvR 2587/06 –, juris, Rn. 19; Ball, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 7. Aufl. 2009, § 543 ZPO Rn. 5a).
bb) Für das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm war eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage entscheidungserheblich, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt.
Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass ein Scheinvater den tatsächlichen Vater erst dann gemäß § 1607 Abs. 3 BGB in Regress nehmen könne, wenn dessen Vaterschaft gemäß § 1600d Abs. 4 BGB rechtlich feststehe. Damit hat es die inzidente Feststellung der Vaterschaft in einem Verfahren nach § 1607 Abs. 3 BGB abgelehnt. Mit dieser Ansicht hat das Oberlandesgericht sich nicht maßgeblich auf Umstände des Einzelfalls gestützt, sondern auf die gesetzliche Vorschrift des § 1600d Abs. 4 BGB und dessen Auslegung. Da die Sachverhaltskonstellation sogenannter Scheinvaterprozesse nicht außergewöhnlich ist, kann sich die vom Oberlandesgericht für maßgebend gehaltene Rechtsfrage in einer Vielzahl weiterer Fälle stellen, so dass das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt ist.
Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage war klärungsfähig, da sie die Auslegung des § 1600d Abs. 4 BGB, also Bundesrecht und damit revisibles Recht im Sinne des § 545 Abs. 1 ZPO betrifft. Sie war auch klärungsbedürftig. Sie war umstritten und bei Erlass des Urteils des Oberlandesgerichts am 3. Juli 2007 höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärt.
So wurde zwar durchaus wie vom Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung vertreten, dass die Rechtsausübungssperre des § 1600d Abs. 4 BGB die inzidente Feststellung der Vaterschaft in einem Scheinvaterregressprozess ausschließe (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 20. Oktober 2003 – 12 U 1462/02 –, juris, Rn. 11; Saarländisches OLG, Beschluss vom 7. Januar 2005 – 6 WF 91/04 –, juris, Rn. 1; OLG Celle, Urteil vom 9. August 2006 – 15 UF 46/06 –, juris, Rn. 7 ff.). Andernorts wurde dagegen obergerichtlich die Ansicht vertreten, die Inzidentfeststellung der Vaterschaft sei im Regressprozess nach § 1607 Abs. 3 BGB zulässig, wenn dem nicht ausnahmsweise schützenswerte Interessen des Kindes entgegenstünden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Juni 1999 – 3 WF 152/99 –, juris, Rn. 4 ff.). Letzterer Ansicht schlossen sich Stimmen im fachwissenschaftlichen Schrifttum an (vgl. Mutschler, in: Münchner Kommentar zum BGB, 3. Aufl., § 1600a Rn. 15; Rauscher, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2004, § 1600d Rn. 94; Eschenbruch, Der Unterhaltsprozess, 3. Aufl. 2002, Rn. 4077 ff.; Huber, FamRZ 2004, S. 145 ff.; Schwonberg, FamRZ 2008, S. 449 ff.).
Der Bundesgerichtshof hatte sich zwar im Urteil vom 17. Februar 1993 (a.a.O.) mit der Frage der inzidenten Feststellung der Vaterschaft im Rahmen eines Scheinvaterregresses befasst, jedoch in einer abweichenden Fallkonstellation. Die Entscheidung betraf ein Verfahren, in welchem der Beklagte seine Vaterschaft bestritten hatte, so dass er sich im Rahmen der inzidenten Feststellung seiner Vaterschaft einer Untersuchung nach § 372a ZPO hätte unterziehen müssen. Dagegen war im Ausgangsverfahren die leibliche Vaterschaft des Beklagten nicht nur unstreitig, sondern aufgrund eines Sachverständigengutachtens, an welchem der Beklagte freiwillig mitgewirkt hatte, mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9999998 % „praktisch erwiesen”.
Klärungsbedarf ergab sich weiter mit Rücksicht auf die zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen Zweifel geäußert worden waren, ob und in welchem Umfang ein Kind ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Nichtkenntnis der eigenen Abstammung habe (vgl. BVerfGE 108, 82 ≪108 f.≫; 117, 202 ≪229≫). Damit war eine der Grundlagen der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. Februar 1993, nämlich das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kindes nach Art. 2 Abs. 1 GG fließende Recht, selbst über die Feststellung seiner Abstammung zu entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1993 – XII ZR 238/91 –, juris, Rn. 11), im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einer neuen Beurteilung zuzuführen.
Schließlich führte eine Gesetzesänderung zu neuem Klärungsbedarf, der geeignet war, den Bundesgerichtshof zu einer Überprüfung seiner Auffassung zu veranlassen. Bis zum 30. Juni 1998 konnte die alleinsorgeberechtigte Mutter in den alten Bundesländern ihr nichteheliches Kind nicht vertreten, soweit es um die Feststellung der Vaterschaft ging; die gesetzliche Vertretung stand gemäß §§ 1706, 1709 BGB (a.F.) dem Jugendamt als Pfleger zu, das in aller Regel im Interesse des Kindes ein solches Verfahren einleitete. Mit Rücksicht darauf schien es vertretbar, den Scheinvater wegen der Rechtsausübungssperre des § 1600a Satz 2 BGB (a.F.) darauf zu verweisen, den rechtskräftigen Abschluss dieses Verfahrens abzuwarten, bevor er den als Vater festgestellten Erzeuger des Kindes gemäß § 1615b Abs. 2 BGB (a.F.) in Regress nehmen konnte. Dies führte allenfalls zu einer Verzögerung, nicht aber einer dauernden Vereitelung der Durchsetzung seiner Ansprüche. Durch das am 1. Juli 1998 in Kraft getretene Gesetz zur Abschaffung der gesetzlichen Amtspflegschaft und Neuordnung des Rechts der Beistandschaft (Beistandschaftsgesetz) wurde die gesetzliche Amtspflegschaft für nichteheliche Kinder abgeschafft. Dies hat zur Folge, dass es, solange der potentielle Erzeuger des Kindes nicht selbst Vaterschaftsfeststellungsklage erhebt, bis zur Volljährigkeit des Kindes allein vom Willen der Mutter abhängt, ob sie Vaterschaftsfeststellungsklage erhebt. Damit wird der Rückgriffsanspruch des Scheinvaters immer dann undurchsetzbar, wenn weder der Erzeuger, noch die Kindesmutter von dem allein ihnen zustehenden Recht Gebrauch machen, die Vaterschaft gerichtlich feststellen zu lassen.
cc) Das Oberlandesgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verneint. Sein Standpunkt beruht nicht lediglich auf einer von dem oben erörterten Verständnis des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zwar abweichenden, verfassungsrechtlich womöglich jedoch noch unbedenklichen Rechtsansicht.
Das Oberlandesgericht hat die Nichtzulassung der Revision alleine auf die seiner Ansicht nach gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gestützt, weshalb der Sache keine grundsätzliche Bedeutung zukomme.
Mit dieser Begründung hat es sich bereits nicht ausreichend damit auseinandergesetzt, ob ihm zur Beurteilung überhaupt ein der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vergleichbarer Sachverhalt vorlag, was im Hinblick auf die im Ausgangsverfahren feststehende Vaterschaft des Beklagten zweifelhaft war. Das Oberlandesgericht hat sich im Übrigen mit der veränderten Sach- und Rechtslage nicht auseinandergesetzt und keine Erwägungen dazu angestellt, ob neuer Klärungsbedarf entstanden war. Dies wäre im Hinblick auf die seit Erlass des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 17. Februar 1993 eingetretene Gesetzesänderung zum 1. Juli 1998 ebenso erforderlich gewesen wie im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, mit der Zweifel geäußert worden waren, ob und in welchem Umfang ein Kind ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Nichtkenntnis der eigenen Abstammung habe (vgl. BVerfGE 108, 82 ≪108 f.≫; 117, 202 ≪229≫). Schließlich hätte der erkennende Senat sich mit der ihm bekannten Begründung der Zulassung der Revision durch den 11. Senat des Oberlandesgerichts Hamm in einem vergleichbaren Verfahren inhaltlich auseinandersetzen und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache zumindest erwägen müssen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die seitens des 11. Senats des Oberlandesgerichts Hamm geäußerten Bedenken hinsichtlich der Vergleichbarkeit des dem Bundesgerichtshof im Urteil vom 17. Februar 1993 zugrundeliegenden Sachverhalts mit demjenigen des Verfahrens des 11. Senats des Oberlandesgerichts Hamm sowie der nach wie vor divergierenden Rechtsansicht innerhalb der Obergerichte und innerhalb des Schrifttums zur Frage der Zulässigkeit einer inzidenten Vaterschaftsfeststellung.
Auf der Grundlage des dargelegten, einhelligen Verständnisses des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO (s.o.) hätte das Oberlandesgericht bei Beachtung dieser Umstände zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass unter Berücksichtigung der von ihm entscheidungstragend zugrunde gelegten materiellrechtlichen Rechtsauffassung die Revision hätte zugelassen werden müssen. Die Nichtzulassung der Revision stellt daher einen Ausschluss des vorliegend verfassungsrechtlich gebotenen Zugangs zur Revisionsinstanz dar und ist mit dem Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht mehr zu vereinen.
2. Das Urteil des Oberlandesgerichts beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
3. Infolge des Grundrechtsverstoßes durch das Oberlandesgericht ist zur Beseitigung des festgestellten Verfassungsverstoßes dessen Entscheidung gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Das Verfahren ist an das Oberlandesgericht als zuständiges Gericht im Sinne des § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 BVerfGG zurückzuverweisen. Mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des oberlandesgerichtlichen Urteils verbunden mit der Aufhebung und Zurückverweisung des Verfahrens an das Oberlandesgericht ist dem verfassungsrechtlichen Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers Genüge getan und der Weg zur Selbstkorrektur innerhalb der Fachgerichtsbarkeit eröffnet. Das Oberlandesgericht wird aufgrund der Rückverweisung Gelegenheit haben, unter Einbeziehung der zwischenzeitlich ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2008 – XII ZR 144/06 –, juris; Urteil vom 22. Oktober 2008 – XII ZR 46/07 –, juris) über die hier für die Sachentscheidung maßgebliche Frage erneut zu entscheiden, wobei es nicht ausgeschlossen ist, dass der Rechtsstreit letztlich einen für den Beschwerdeführer günstigeren Ausgang nimmt.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Hohmann-Dennhardt, Gaier, Paulus
Fundstellen
Haufe-Index 2368743 |
FamRZ 2010, 1235 |
FF 2010, 377 |
FamFR 2010, 406 |