Verfahrensgang
Tenor
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 19. November 2004 – 7 UF 118/04 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz, soweit er ihr das Sorgerecht für das Kind K…-N…W… entzieht, dieses auf das Landratsamt Rhön-Grabfeld, Kreisjugendamt, als Pfleger überträgt und ihr aufgibt, das Kind an das Kreisjugendamt herauszugeben. Insoweit wird der Beschluss aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Bamberg zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Entziehung des Sorgerechts für ihren 1997 geborenen Sohn.
Das Kind ist aus ihrer Ehe mit dem Kindesvater hervorgegangen. In dem Haushalt der Kindeseltern lebte neben dem Sohn zunächst noch dessen im Januar 1992 geborene Halbschwester, die leibliche Tochter der Beschwerdeführerin. Nachdem die Kriminalpolizei gegen den Kindesvater Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs zu Lasten seiner Stieftochter aufgenommen hatte, entzog das Amtsgericht den Kindeseltern im Mai 2003 einstweilen das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Sohn. Aufgrund der Ermittlungen ergebe sich ein erheblicher Anfangsverdacht, dass die Tochter sexuell missbraucht worden sei. Aus den polizeilichen Vernehmungen ergebe sich weiter, dass beim Sohn ebenfalls erhebliche Auffälligkeiten seit Oktober 2002 vorlägen.
Der vom Gericht hierauf bestellte Sachverständige führte aus, sexuelle Übergriffe durch den Kindesvater oder leichtfertige und nicht kindgerechte Konfrontationen mit sexualisierten Vorgängen zu Lasten des Sohnes könnten nicht mehr ausgeschlossen werden. Ausweislich der Ermittlungsakte habe sich die Beschwerdeführerin nicht dauerhaft schützend vor ihre Tochter gestellt. Wenn sich die Beschwerdeführerin vom Kindesvater trenne, könnte sie ihren Sohn (allerdings) unter Auflagen und mit Unterstützung des Jugendamtes allein versorgen.
Im März 2004 hob das Amtsgericht seine vorangegangene Anordnung auf. Es beließ die elterliche Sorge für den Sohn bei den Kindeseltern und erteilte ihnen unter anderem die Auflage, einmal im Monat zum Jugendamt Kontakt aufzunehmen. Das Gericht gehe davon aus, dass die entsprechenden pornographischen Fotos und Handlungen vom Kindesvater durchgeführt worden seien. Dennoch sei es der Ansicht, dass ein Entzug der elterlichen Sorge und Trennung des Kindes von der Familie nicht erforderlich sei, da allein aufgrund dieser Verfehlungen nicht auf eine entsprechende Gefährdung des Sohnes geschlossen werden könne.
Am 4. November 2004 wurde der Kindesvater in Untersuchungshaft genommen.
Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 19. November 2004 entzog das Oberlandesgericht beiden Eltern unter Abänderung der amtsgerichtlichen Entscheidung das Sorgerecht für ihren Sohn. Es sei davon auszugehen, dass eine Gefährdung des Kindeswohls gegeben sei. Mit Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 4. November 2004 sei der Kindesvater unter anderem wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Auch wenn sich die Taten gegen die Tochter gerichtet hätten, könne eine Gefährdung des Kindeswohls des Sohnes nicht ausgeschlossen werden, wie sich aus dem Sachverständigengutachten ergebe. Danach dürfe das jetzt fassbare Risiko von missbräuchlichen Handlungen nicht dem Kind auferlegt werden, das sich kaum differenziert mitteilen könne. Gerade diese Schwäche erfordere einen besonderen Schutz, der mit Kontrollbesuchen des Jugendamtes unter diesen Umständen nicht geleistet werden könne.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG und aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die angebliche Gefahr, die nach Auffassung des Oberlandesgerichts vom Vater für das Kind ausgehen könnte, bestehe nicht mehr, da er sich in Untersuchungshaft befinde und somit auf absehbare Zeit nicht mehr im Haushalt der Familie lebe. Soweit der Beschwerdeführerin durch das Jugendamt vorgeworfen worden sei, sie habe sich während der strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihren Ehemann hinter diesen gestellt, ihrer Tochter nicht geglaubt und sich damit als ungeeignet erwiesen, könne dies nicht als Rechtfertigung dafür herangezogen werden, ihr auch die elterliche Sorge für den Sohn zu entziehen und das Kind aus der Familie zu nehmen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen Fragen zum Elternrecht bereits beantwortet (vgl. BVerfGE 31, 194 ≪204≫; 60, 79 ≪88, 91≫; 61, 358 ≪371 f.≫; 75, 201 ≪218≫; 104, 373 ≪385≫; 107, 104 ≪117≫).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
a) Art. 6 Abs. 2 GG schützt die Eltern-Kind-Beziehung und sichert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder (vgl. BVerfGE 31, 194 ≪204≫; 104, 373 ≪385≫). Dieses den Eltern verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Freiheitsrecht dient in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist (vgl. BVerfGE 61, 358 ≪371 f.≫; 75, 201 ≪218≫; 104, 373 ≪385≫; 107, 104 ≪117≫). Die Trennung der Kinder von ihren Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten vorstellbaren Eingriff in das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dar (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪91≫). Diese darf nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (Art. 6 Abs. 3 GG – vgl. BVerfGE 60, 79 ≪88≫). Wegen der besonderen Eingriffsintensität können neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere von Umfang seines Schutzbereiches beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 60, 79 ≪91≫).
b) Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Das Oberlandesgericht hat das Elternrecht der Beschwerdeführerin verkannt.
Zwar hat der Senat das Kindeswohl in den Mittelpunkt seiner Erwägungen gestellt. Dabei hat er auch – anders als das Amtsgericht – nachvollziehbar dargelegt, dass von dem Kindesvater eine Gefahr für das Kind ausgehe. Worauf das Gericht indes nicht eingegangen ist, ist der Umstand, dass der Kindesvater seit dem 4. November 2004 inhaftiert ist. Demgemäß hat der Senat auch nicht erwogen, dass sich ein etwaiger Erziehungsmangel der Beschwerdeführerin, das Kind nicht vor dem Vater beschützen zu können oder zu wollen, wegen dessen Abwesenheit – jedenfalls gegenwärtig – nicht nachteilig auf das Kindeswohl auswirken kann. Dass die Beschwerdeführerin auch aus anderen Gründen erziehungsungeeignet ist, etwa weil sie an den Missbrauchshandlungen mitgewirkt hätte, hat das Oberlandesgericht nicht festgestellt. Dagegen hat der Sachverständige, auf dessen Gutachten der Senat seine Entscheidung maßgeblich gegründet hat, ausgeführt, die Beschwerdeführerin könnte ihren Sohn – wenn auch unter Auflagen und mit Unterstützung des Jugendamtes – allein versorgen, wenn sie sich vom Kindesvater trenne.
Die Frage, ob die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung des – soweit ersichtlich noch nicht rechtskräftig verurteilten – Kindesvaters die Entziehung des Sorgerechts zu Lasten der Beschwerdeführerin rechtfertigen könnte, kann hier dahingestellt bleiben, da das Oberlandesgericht sie ausweislich der Entscheidungsgründe weder erwogen noch Feststellungen hierzu getroffen hat.
c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei hinreichender Beachtung des Elternrechts der Beschwerdeführerin gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG eine andere Entscheidung getroffen hätte.
2. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG begründet ist, bedarf die Frage, ob das Oberlandesgericht auch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen hat, weil es die Beschwerdeführerin nicht persönlich angehört hat, keiner Beantwortung mehr.
3. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist festzustellen, dass die angegriffene Entscheidung die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, soweit ihre Rechtssphäre betroffen ist. Die mit der Entscheidung gleichzeitig erfolgte Entziehung des Sorgerechts zu Lasten des Vaters bleibt von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unberührt. Gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG ist die Entscheidung auch nur insoweit aufzuheben; die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen