Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitteilungspflicht von Vertragsärzten der gesetzlichen Krankenversicherungen
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
Die Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die in § 295 Abs. 1 SGB V enthaltene Verpflichtung von Vertragsärzten der gesetzlichen Krankenversicherung, Diagnosen ihrer Patienten auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und in den Abrechnungsunterlagen mitzuteilen.
I.
Der Beschwerdeführer ist bei der Deutschen Angestellten Krankenkasse als Ersatzkasse versichert. Zugleich ist er als Arzt für Neurologie und Psychiatrie in C. niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen.
Mit seiner am 15. April 1993 erhobenen Verfassungsbeschwerde begehrt er die Aufhebung von § 295 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) als verfassungswidrig. Die Vorschrift ist in das SGB V durch das Gesundheitssturkturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S. 2266) eingefügt worden und am 1. Januar 1993 in Kraft getreten. Sie hatte, soweit erheblich, in der angegriffenen Fassung den folgenden Wortlaut:
Abrechnung ärztlicher Leistung
(1) Die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen sind verpflichtet,
- in dem Abschnitt der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, den die Krankenkasse erhält, die Diagnosen,
- in den Abrechnungsunterlagen für die vertragsärztlichen Leistungen die von ihnen erbrachten Leistungen einschließlich des Tages der Behandlung, bei ärztlicher Behandlung mit Diagnosen, bei zahnärztlicher Behandlung mit Zahnbezug und Befunden,
- in den Abrechnungsunterlagen sowie auf den Vordrucken für die vertragsärztliche Versorgung ihre Arztnummer sowie die Angaben nach § 291 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 maschinenlesbar
aufzuzeichnen und zu übermitteln.
…
Die Norm verpflichtet die Vertragsärzte, in dem Abschnitt der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, den die Krankenkasse erhält, die Diagnosen allein und in den Abrechnungsunterlagen die Diagnosen mitsamt den erbrachten Leistungen einschließlich des Tages der Behandlung aufzuzeichnen und zu übermitteln. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung enthält Angaben über die Person des Versicherten. Auch die Diagnoseangabe nach Nr. 2 ist versichertenbezogen, da gemäß Nr. 3 in Verbindung mit § 291 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 SGB V auf den Abrechnungsunterlagen die auf der Krankenversichertenkarte enthaltenen Daten anzugeben sind.
Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht auf Schutz der Privat- und Intimsphäre und auf informationelle Selbstbestimmung als Arzt und Patient.
Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Gesundheit, der 6. Senat des Bundessozialgerichts, der AOK-Bundesverband im Namen der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Marburger Bund, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der Hamburgische Datenschutzbeauftragte und der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität muss der Beschwerdeführer vorab den Rechtsweg beschreiten. Über die von der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen, durchaus gewichtigen verfassungsrechtlichen Fragen kann daher nicht entschieden werden.
1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft allerdings nur einen Teil der mit der Kodierung und Weitergabe von Diagnosedaten in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Fragen. Ihr Gegenstand ist nach dem gestellten Antrag § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB V, der die Übermittlung von Diagnosen an die Kassenärztlichen Vereinigungen und an die Krankenkassen vorschreibt. Nummer 3 der Vorschrift ist insofern mit angegriffen, als sich daraus eine Pflicht zur Angabe bestimmter persönlicher Daten des Versicherten und damit die Personenbezogenheit der Diagnosemitteilung ergibt. Demgegenüber ist die Verfassungsbeschwerde nicht auf die in Nummer 3 niedergelegte Pflicht zur maschinenlesbaren Aufzeichnung und Übermittlung der Angaben erstreckt worden.
Auch die weiteren Regelungen des § 295 SGB V sind nicht angegriffen worden. So sind die in Satz 2 enthaltene Pflicht, die Diagnose nach der jeweils aktuellen Fassung des Kodes der Internationalen Klassifikation der Krankheiten zu verschlüsseln, und die Ermächtigung an das Bundesministerium für Gesundheit, diese Fassung bekannt zu geben, nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde. Das Gleiche gilt für die auf der Grundlage von § 295 Abs. 1 Satz 3 SGB V ergehende Bekanntmachung des Kodes und für den Kode selbst.
Ein weiter reichender Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ergibt sich auch nicht aus den aus dem Jahr 1996 stammenden Ausführungen des Beschwerdeführers zur Verschlüsselungspflicht. Auch wenn der Beschwerdeführer bezweckt haben sollte, diese Pflicht eigenständig zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde zu machen, kann dies wegen Verfristung nicht berücksichtigt werden (§ 93 Abs. 3 BVerfGG).
Schließlich sind Fragen des Umgangs mit der Diagnoseangabe nach ihrer Übermittlung nicht zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht worden. Zwar enthält die Begründung Ausführungen insbesondere zur Diagnoseweitergabe innerhalb der Krankenkassen; der Antrag beschränkt sich jedoch ausdrücklich auf die erstmalige Übermittlung an die Krankenkassen.
2. Die für eine Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde geltende Jahresfrist (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) ist eingehalten worden. Die angegriffene Norm ist am 1. Januar 1993 in Kraft getreten, die Verfassungsbeschwerde ist am 15. April 1993 erhoben worden.
Eine Verfristung liegt nicht etwa deshalb vor, weil die Pflicht zur Diagnoseangabe auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Abrechnungsunterlagen schon vorher bestanden hat (BSG, Urteil vom 4. Mai 1994 – 6 RKa 37/92 –, SozR 3-2500 § 295 Nr. 1 = NSZ 1995, S. 92 ff.). Eine neue Frist beginnt zwar dann nicht, wenn ein bereits bestehendes Gesetz unverändert neu bekannt gemacht, nur berichtigt, lediglich in der Paragraphenzählung neu gefasst, mit kleinen Änderungen an andere Vorschriften angepasst oder sonst wie in einer so unbedeutenden Weise geändert wird, dass keine neue Beschwer entsteht (vgl. BVerfGE 12, 139 ≪141≫; 17, 364 ≪369≫; 43, 108 ≪115 f.≫; 79, 1 ≪14≫; 80, 137 ≪149≫). Die Frist wird aber durch ein Änderungsgesetz erneut in Lauf gesetzt, wenn es rechtlich stärker belastende Wirkungen als bisher verursacht und deshalb einen neuen Inhalt gewonnen hat (vgl. BVerfGE 78, 350 ≪356≫). Gleiches gilt, wenn der Gesetzgeber den Anwendungsbereich einer Norm eindeutiger als bisher bestimmt, etwa um in einem Auslegungsstreit eine Entscheidung herbeizuführen (vgl. BVerfGE 11, 351 ≪359 f.≫; 74, 69 ≪73≫).
Im vorliegenden Fall hat die angegriffene Norm durch Präzisierung einen neuen Inhalt erhalten. Ob den vor der Gesetzesänderung geltenden Vorschriften eine Pflicht der Vertragsärzte, den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen zur Erfüllung bestimmter Aufgaben auch Diagnosen mitzuteilen, zu entnehmen war, hatte nämlich bis zu dem dieses bejahenden Urteil des Bundessozialgerichts vom 4. Mai 1994 (a.a.O.) in Streit gestanden. Der Gesetzgeber hatte sich zu einer Klarstellung dahin veranlasst gesehen, dass die Diagnose in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und in den Abrechnungsunterlagen anzugeben ist (Begründung zum Gesetzentwurf, BTDrucks 12/3209, S. 60 und 12/3608, S. 122).
3. Der Beschwerdeführer ist als Patient in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) gegenwärtig und selbst betroffen. Er ist in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert und hat Anspruch auf Zahlung von Krankengeld ab dem 22. Tag der von einem Arzt festgestellten Arbeitsunfähigkeit. Der Rechtsbefehl der angegriffenen Regelung richtet sich zwar unmittelbar an die Ärzte, nicht an die Patienten. Die Pflicht der Ärzte betrifft aber die über die Patienten erhobenen Daten. Werden diese personenbezogenen Daten den gesetzlich vorgesehenen Stellen übermittelt, liegt in der Verfügbarkeit dieser Daten für andere Stellen als den erhebenden Arzt ein eigener Eingriff in das Recht der Patienten auf informationelle Selbstbestimmung.
An einer hinreichenden eigenen Beschwer fehlt es demgegenüber, soweit der Beschwerdeführer seine Grundrechte als Arzt rügt. Insoweit wird auf die Ausführungen in dem von der 2. Kammer des Ersten Senats erlassenen Nichtannahmebeschluss vom 10. April 2000 (1 BvR 422/00, ArztR 2000, S. 168 ff.) verwiesen.
4. Es fehlt jedoch an dem Erfordernis der Unmittelbarkeit der Beschwer. Vorauszusetzen ist nämlich, dass das Gesetz ohne einen weiteren vermittelnden Akt in den Rechtskreis des Beschwerdeführers einwirkt (vgl. BVerfGE 72, 39 ≪43≫ m.w.N.). Setzt die Durchführung der angegriffenen Vorschrift einen besonderen Vollzugsakt voraus, muss der Beschwerdeführer grundsätzlich zunächst diesen Akt angreifen und den gegen ihn eröffneten Rechtsweg erschöpfen, bevor er die Verfassungsbeschwerde erhebt (vgl. BVerfGE 1, 97 ≪102 f.≫; 58, 81 ≪104 f.≫; 68, 376 ≪379 f.≫). Der Vorrang der Anrufung der Fachgerichte soll eine umfassende Vorprüfung des Beschwerdevorbringens gewährleisten (vgl. BVerfGE 4, 193 ≪198≫; 16, 124 ≪127≫; 51, 386 ≪396≫).
Die angegriffene gesetzliche Regelung aktualisiert sich in der Übermittlung der Diagnose durch den behandelnden Arzt. Zur Weitergabe ist der Arzt nur berechtigt, wenn entweder eine Einwilligung des Patienten oder eine gesetzliche Ermächtigung zur Weitergabe besteht. Eine Einwilligung hat der Beschwerdeführer nicht gegeben. Die Berechtigung – und Verpflichtung – des Arztes zur Weitergabe beruht daher auch im Verhältnis zu ihm auf der Gültigkeit des § 295 Abs. 1 SGB V. Gegen eine rechtswidrige Weitergabe von personenbezogenen Daten kann der Patient Gerichtsschutz beanspruchen. Kommt es zu einem Rechtsstreit, so hat das Gericht auch die Verfassungsmäßigkeit des § 295 Abs. 1 SGB V zu überprüfen. Hat es verfassungsrechtliche Zweifel und kommt es zu dem Ergebnis, dass die Norm nicht verfassungskonform ausgelegt werden kann, sondern verfassungswidrig ist, hat es gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
Von diesem über die Fachgerichte führenden Weg zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm kann nur ausnahmsweise abgewichen werden. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde besteht nur, wenn der mit dem Grundsatz der Subsidiarität verfolgte Zweck, eine fachgerichtliche Klärung der Sach- und Rechtsfragen herbeizuführen, nicht erreichbar ist (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪37 f.≫). Das ist vorliegend indessen nicht der Fall. Eine Fallkonstellation, wie sie in der diese Ausnahme gewährenden Entscheidung, dem Volkszählungsurteil (BVerfG, a.a.O.), vorgelegen hatte, ist nicht gegeben. Im vorliegenden Fall wäre es durchaus sinnvoll, die aufgeworfenen Rechtsfragen vorab fachgerichtlich klären zu lassen. Reichweite und Umfang des Datenschutzes in der gesetzlichen Krankenversicherung ist in erster Linie, wie in anderen Rechtsgebieten auch, eine Frage des einfachen Rechts. Dabei bestehen erhebliche Kontroversen, ob und wieweit die vorhandenen datenschutzrechtlichen Regeln ausreichen oder zu ergänzen sind (vgl. Jacob, Notwendigkeit und Grenzen der Datentransparenz in der GKV, KrV 2000, S. 12 ff. und Weichert, Gesundheitsreform – Einstieg in die pseudonyme Datenverarbeitung?, Datenschutz Nachrichten 4/1999, S. 21 ff.).
Der gerügten Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung liegt kein leicht überschaubarer, einfach strukturierter und rechtlich ohne weiteres beurteilbarer Sachverhalt zu Grunde, der es etwa erlaubte, sogleich über die Verfassungsbeschwerde zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungsurteil dargelegt, dass auf persönliche Daten kein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft besteht. Vielmehr müsse der Einzelne als eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 43 f.). Dabei bedürfe es zur Feststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeutung eines Datums der Kenntnis seines Verwendungszusammenhangs: Erst wenn Klarheit darüber bestehe, zu welchem Zweck Angaben verlangt werden und welche Verknüpfungs- und Verwendungsmöglichkeiten bestehen, lasse sich die Frage einer zulässigen Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beantworten (BVerfG, a.a.O., S. 45).
Dementsprechend hängt auch die Beantwortung der Frage der datenschutzrechtlichen Zulässigkeit der ärztlichen Diagnoseübermittlungspflichten nicht allein von der sicher zutreffenden Einschätzung ab, dass diese Angaben höchstpersönliche und sensible Daten eines Erkrankten betreffen, dass ihr Gebrauch auf das unverzichtbare Mindestmaß zu beschränken ist und dass jeder Missbrauch praktisch auszuschließen sein muss. Vielmehr ist konkret zu beurteilen, wie die jeweiligen Stellen mit den fraglichen Daten nach ihrer Übermittlung umgehen und welche datenschutzrechtlichen Vorkehrungen insoweit bestehen. Dies bedarf umfangreicher Ermittlungen, Einschätzungen und Wertungen. Hierzu sind in erster Linie die Fachgerichte wegen ihrer besonderen Sachnähe, ihrer umfassenden Erfahrung und den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Erhebung von Beweisen berufen.
Der Weg zu den Fachgerichten ist auch nicht etwa deshalb aussichtslos, weil diese die einschlägigen Fragen bereits entschieden hätten. Eine obergerichtliche Entscheidung liegt bislang – soweit ersichtlich – nicht vor. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 4. Mai 1994 (a.a.O.) die Frage, ob durch die Übermittlungspflichten das informationelle Selbstbestimmungsrecht einzelner Patienten verletzt werde oder nicht, ausdrücklich offen gelassen. Der klagende Arzt habe dieses nicht ihm zustehende Recht nämlich nicht geltend machen können (a.a.O., S. 94).
Die vom Beschwerdeführer angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofes, nach der die Unterlassung einer Diagnosestellung nicht auf der Grundlage von § 1004 BGB verlangt werden könne, äußert sich nicht zur Problematik des vorliegenden Falles. Während es dort um den – dem dortigen Kläger falsch erscheinenden – Inhalt einer Diagnose ging („Zeichen der chronischen Alkoholintoxikation”), geht es hier um die Übermittlung einer Diagnose überhaupt an Sozialversicherungsträger.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 565237 |
DStR 2002, 414 |
NJW 2001, 3402 |
PP 2002, 36 |
SozSi 2002, 398 |