Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriterien der Wahlprüfung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Tatbestandsmerkmale „gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen” in Artikel 78 Absatz 2 der Verfassung des Landes Hessen verweisen auf die in der wahlprüfungsrechtlichen Spruchpraxis allgemein geteilten Rechtsüberzeugungen. Eine sittenwidrige Wahlbeeinflussung setzt danach voraus, dass in erheblicher Weise gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl verstoßen wurde. Je weiter die Wirkungen einer wahlprüfungsrechtlichen Entscheidung reichen, desto schwerer muss der Wahlfehler wiegen, auf den der Eingriff gestützt wird.
2. Rechtsprechende Gewalt im Sinne des Artikel 92 des Grundgesetzes ist auch dann gegeben, wenn der Gesetzgeber für einen Sachbereich eine Ausgestaltung wählt, die bei funktioneller Betrachtung nur der rechtsprechenden Gewalt zukommen kann. In funktioneller Hinsicht handelt es sich um Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können.
3. Die Prüfung der Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag ist in funktioneller Hinsicht teilweise als rechtsprechende Tätigkeit ausgeformt. § 17 des Wahlprüfungsgesetzes des Landes Hessen misst der Entscheidung des Wahlprüfungsgremiums eine Rechtswirkung zu, die nur von unabhängigen staatlichen Gerichten herbeigeführt werden kann.
Normenkette
GG Art. 28 Abs. 1 Sätze 1-2, Art. 92, 93 Abs. 1 Nr. 2; BVerfGG § 35; Verf HE Art. 78 Abs. 1-3; WahlPrG HE §§ 2, 1, 17
Beteiligte
Hessische Landesregierung |
a) Rechtsanwalt Prof. Dr. Konrad Redeker |
b) Rechtsanwalt Prof. Dr. Gunter Widmaier |
Tenor
1. Artikel 78 Absatz 2 der Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Hessen, Seite 229), soweit darin bestimmt ist, dass im Falle der Erheblichkeit für den Ausgang der Wahl gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, eine Wahl ungültig machen, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
2. Artikel 78 Absatz 3 der Verfassung des Landes Hessen und §§ 1, 2 des Wahlprüfungsgesetzes des Landes Hessen vom 5. August 1948 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen, Seite 93) sind mit dem Grundgesetz vereinbar. § 17 des Wahlprüfungsgesetzes des Landes Hessen ist mit Artikel 92 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.
3. Gemäß § 35 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht wird angeordnet:
Ein Urteil des Wahlprüfungsgerichts beim Hessischen Landtag wird nicht vor Ablauf eines Monats nach seiner Verkündung wirksam.
Tatbestand
A.
Das abstrakte Normenkontrollverfahren betrifft die Vereinbarkeit von Regelungen über die Prüfung der Wahl zum Hessischen Landtag mit dem Grundgesetz.
I.
1. Die Prüfung der Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag ist in Art. 78 der Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (GVBl S. 229) – HV – geregelt. Die Vorschrift lautet:
(1) Die Gültigkeit der Wahlen prüft ein beim Landtage gebildetes Wahlprüfungsgericht. Es entscheidet auch über die Frage, ob ein Abgeordneter seinen Sitz verloren hat.
(2) Im Falle der Erheblichkeit für den Ausgang der Wahl machen eine Wahl ungültig: Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren und strafbare oder gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen.
(3) Das Wahlprüfungsgericht besteht aus den beiden höchsten Richtern des Landes und drei vom Landtag für seine Wahlperiode gewählten Abgeordneten.
(4) Das Nähere wird durch Gesetz geregelt.
2. Das gemäß Art. 78 Abs. 4 HV erlassene Wahlprüfungsgesetz vom 5. August 1948 (GVBl S. 93) – WahlPrüfG – bestimmt in den hier maßgeblichen Vorschriften:
§ 1
Das Wahlprüfungsgericht beim Landtag besteht aus dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes, dem Oberlandesgerichtspräsidenten und drei gewählten Mitgliedern.
§ 2
(1) Die zu wählenden Mitglieder werden vom Landtag aus dem Kreise der Abgeordneten im Wege der Verhältniswahl nach dem Listenwahlsystem für die Dauer der Wahlperiode gewählt.
(2) Die Sitze sind auf die Wahlvorschläge nach der Reihenfolge der Höchstzahlen zu verteilen, die sich durch Vollrechnung, Hälftelung und Drittelung der auf die Wahlvorschläge entfallenden Stimmenzahlen ergeben.
§ 5
(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Ausschließung von Gerichtspersonen (§ 41), die Leitung der Verhandlung (§§ 136, 139, 140), das persönliche Erscheinen (§ 141), den Beweis durch Zeugen und Sachverständige (§§ 373-414) sowie die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Beratung und Abstimmung (§§ 194-198) finden entsprechende Anwendung. Als Zeuge kann auch ein Beteiligter vernommen werden.
(2) bis (4)…
§ 6
(1) Das Wahlprüfungsgericht prüft von Amts wegen oder auf Einspruch die Gültigkeit der Wahlen zum Landtag.
(2) …
§ 8
(1) Wird gegen die Wahl ein Einspruch nicht erhoben, und sind keine Fehler bei der Feststellung des Wahlergebnisses ersichtlich, so stellt das Wahlprüfungsgericht dies nach Ablauf der Einspruchsfrist durch Beschluß fest.
(2) …
§ 9
Wird Einspruch eingelegt, oder erachtet das Wahlprüfungsgericht von Amts wegen eine eingehendere Prüfung für erforderlich, so leitet es ein ordentliches Wahlprüfungsverfahren ein und entscheidet aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil. Für das Verfahren gelten die Vorschriften der §§ 10-17.
§ 10
Die Verhandlungen vor dem Wahlprüfungsgericht sind öffentlich.
§ 11
Die Durchführung des Verfahrens außerhalb der Verhandlung vor dem Wahlprüfungsgericht liegt in den Händen eines dem Verwaltungsgerichtshof als Mitglied angehörigen, vom Wahlprüfungsgericht auf Vorschlag des Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes gewählten Richters. In der Verhandlung tritt er als Berichterstatter auf. Er gehört dem Wahlprüfungsgericht nicht an.
§ 13
Von dem Verhandlungstermin, in dem die Gültigkeit einer Wahl geprüft werden soll, sind als Beteiligte diejenigen Personen mindestens eine Woche vor dem Termin zu benachrichtigen, deren Wahl geprüft wird, und diejenigen, welche gegen die Wahl Einspruch erhoben haben. Haben mehrere Wahlberechtigte gemeinschaftlich oder mit inhaltlich gleicher Begründung Einspruch erhoben, so genügt die Benachrichtigung eines von ihnen. Die Beteiligten haben das Recht, sich schriftlich zu äußern, Akten einzusehen und an der Verhandlung oder Beweisaufnahme teilzunehmen oder einen Vertreter zu entsenden. Sie sind in der Verhandlung zu hören.
§ 15
(1) Das Wahlprüfungsgericht entscheidet durch Urteil
- über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der gesamten Wahlen in einem Wahlbezirk,
- über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer bestimmten Anzahl von Stimmzetteln,
- über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Wahl aus Gründen, die in der Person der Gewählten liegen,
- über die Frage, ob ein Abgeordneter seinen Sitz verloren hat.
(2) Falls das Wahlprüfungsgericht gemäß (1) b eine bestimmte Anzahl von Stimmzetteln für ungültig erklärt, hat es gleichzeitig die Wahl oder Wahlen, die durch die Ungültigkeitserklärung beeinflußt werden, für ungültig zu erklären.
§ 17
Das Urteil wird mit seiner Verkündung rechtskräftig.
§ 18
Über eine Wiederaufnahme des Verfahrens entscheidet das Wahlprüfungsgericht durch Beschluß. Sie ist nur zulässig, wenn wesentliche Tatsachen bekannt werden, die der früheren Verhandlung nicht zugrunde gelegt werden konnten.
§ 19
Die gerichtlichen Kosten des Verfahrens fallen der Staatskasse zur Last. Die Beteiligten haben keinen Anspruch auf Erstattung der ihnen entstandenen Auslagen.
II.
1. Am 7. Februar 1999 wurden die Abgeordneten für die 15. Wahlperiode des Hessischen Landtags gewählt. Von den insgesamt 110 Sitzen des Hessischen Landtags entfielen auf die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) 50 Sitze, auf die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 46 Sitze, auf die Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN acht Sitze und auf die Freie Demokratische Partei (F.D.P.) sechs Sitze. Nachdem mehrere Wahlberechtigte gegen die Gültigkeit der Landtagswahl Einspruch eingelegt hatten, entschied das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag (im Folgenden: Wahlprüfungsgericht) durch Urteil vom 1. Juli 1999, dass die Wahl vom 7. Februar 1999 gültig ist.
2. Am 3. März 2000 beschloss das Wahlprüfungsgericht, das Wahlprüfungsverfahren wieder aufzunehmen. Einer Presseerklärung des Vorsitzenden des Wahlprüfungsgerichts zufolge seien wesentliche Tatsachen bekannt geworden, die der früheren Verhandlung nicht hätten zu Grunde gelegt werden können. Es gehe dabei um die Mitfinanzierung des Landtagswahlkampfes des CDU-Landesverbands Hessen aus Mitteln, die ihm aus einem in Liechtenstein unterhaltenen Stiftungsvermögen zugeflossen seien. Dieses Auslandsvermögen in Höhe von zuletzt rund 17 Millionen DM sei zuvor in den jährlichen Rechenschaftsberichten der CDU entgegen den Publizitätsvorschriften des Parteiengesetzes nicht deklariert worden. Das Wahlprüfungsgericht halte den Einsatz dieses verschleierten Vermögens zur Mitfinanzierung des Wahlkampfes für sittenwidrig. Es bestünden Anhaltspunkte dafür, dass durch diese sittenwidrigen Handlungen das Ergebnis der Landtagswahl mandatsrelevant beeinflusst worden sein könnte.
III.
Die Hessische Landesregierung beantragt, Art. 78 Abs. 2 und 3 HV sowie die §§ 1, 2 und 17 WahlPrüfG für unvereinbar mit dem Grundgesetz und nichtig zu erklären, soweit in ihnen bestimmt ist, dass gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, die Wahl im Falle der Erheblichkeit für deren Ausgang ungültig machen, und dass das Wahlprüfungsgericht neben den beiden höchsten Richtern des Landes mit drei vom Landtag gewählten Abgeordneten besetzt ist und seine Entscheidungen durch Urteil trifft, das mit seiner Verkündung rechtskräftig wird.
1. Der Wahlungültigkeitstatbestand „sittenwidrige Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen” in Art. 78 Abs. 2 HV widerspreche den Erfordernissen des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips im Sinne von Art. 28 Abs. 1 GG. Für eine Wahlungültigkeit könnten nur solche Verstöße gegen die Grundsätze einer demokratischen Wahl Bedeutung erlangen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der konkreten Wahl begangen worden seien. Sie stellten die Legitimation der Volksvertretung in Frage und berührten damit den Kernbereich des Demokratieprinzips. Außerhalb von Fehlern der Wahlorgane im Wahlverfahren sei die Erheblichkeit von Wahlfehlern durch Dritte strikt zu begrenzen. Auch seien hohe Anforderungen an die Bestimmtheit materiell-rechtlicher Vorschriften über die Wahlprüfung zu stellen, um politisch motivierte Entscheidungen auszuschließen und den in der Wahl zum Ausdruck gekommenen Willen des Volkes zu respektieren.
Diesen Maßstäben genüge der zur Kontrolle gestellte materielle Wahlungültigkeitstatbestand nicht. Die herkömmlichen Auslegungsmethoden böten keine Anhaltspunkte für die Inhaltsbestimmung. Insbesondere sei es nicht möglich, den bürgerlich-rechtlichen Begriff der Sittenwidrigkeit in das Verfassungsrecht zu übertragen. Es könnten sowohl erlaubte als auch rechtswidrige Handlungen Dritter die guten Sitten verletzen und damit zu einer uferlosen Weite der Wahlungültigkeitsgründe führen. Wäre im Übrigen ein Verstoß gegen Rechtsnormen zugleich ein Sittenverstoß, hätte das in Art. 78 Abs. 2 HV ebenfalls enthaltene Tatbestandsmerkmal „Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren” keine selbstständige Bedeutung mehr.
2. a) Die Ungültigerklärung einer Parlamentswahl mache die mit Mehrheit getroffene Wahlentscheidung der Wahlbürger zunichte und greife mit äußerster Intensität in deren subjektives aktives und passives Wahlrecht ein. Hoheitliche Eingriffe in dieses vornehmste demokratische Bürgerrecht setzten einen mit Suspensiveffekt versehenen Rechtsweg zu einem unabhängigen staatlichen Gericht voraus. Das ergebe sich sowohl aus Art. 19 Abs. 4 GG als auch aus dem Rechtsstaatsprinzip, das über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG für die Länder verbindlich sei. Art. 19 Abs. 4 GG gelte in den Wahlprüfungsverfahren der Länder. Eine Verdrängung dieser Vorschrift durch nachrangiges Landesverfassungsrecht komme nach dem Grundsatz der Normenhierarchie nicht in Betracht. Art. 19 Abs. 4 GG trete nur auf Bundesebene hinter Art. 41 GG zurück. Bei Landtagswahlen verlange das Grundrecht dagegen Geltung im Wahlprüfungsrecht. Den Erfordernissen des Art. 19 Abs. 4 GG und des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG werde nur ein effektiver Rechtsschutz gerecht.
b) Die erforderliche gerichtliche Kontrolle der Gültigkeit der Landtagswahl sei in Hessen nicht gewährleistet. Das Wahlprüfungsgericht sei nach seiner personellen Struktur und nach seiner Entstehungsgeschichte ein um zwei berufsrichterliche Mitglieder erweiterter Wahlprüfungsausschuss des Landtags. Es erfülle nicht die an ein Gericht zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die richterliche Neutralität dürfe nicht durch eine mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung unvereinbare persönliche Verbindung zwischen Ämtern der Rechtspflege und der Verwaltung oder der Legislative in Frage gestellt werden. Die Mitwirkung von Landtagsabgeordneten in einem mit der Entscheidung über die Gültigkeit der Landtagswahl betrauten Gericht verstoße gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Art. 92 und Art. 97 GG, wenn – wie hier – die Mehrheit seiner Mitglieder sachnotwendig ihren eigenen Abgeordnetenstatus beurteilen müsse und damit in eigener Sache entscheide.
Das Wahlprüfungsgericht verfehle die Qualifikation eines unabhängigen staatlichen Gerichts auch deshalb, weil es jedenfalls dann den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht genüge, wenn die Gültigkeit der gesamten Landtagswahl in Frage gestellt werde. Der richterlichen Tätigkeit sei wesentlich, dass sie von einem nicht beteiligten Dritten ausgeübt werde. Stünden die Mandate sämtlicher Abgeordneter zur Prüfung, so sei jeder Abgeordnete unmittelbar Beteiligter des Wahlprüfungsverfahrens.
Auch wenn man die Tätigkeit des Wahlprüfungsgerichts dem Bereich der Rechtsprechung zuordne, sei die geforderte Neutralität und Selbstständigkeit der Richter im Wahlprüfungsverfahren nicht gewährleistet. Setze der Gesetzgeber ein Gericht ein, wofür nach der gesetzgeberischen Konzeption des hessischen Wahlprüfungsverfahrens Anhaltspunkte bestünden, so griffen zugleich die grundgesetzlichen Rechtsprechungsgarantien ein.
c) Der Rechtsschutz durch die Grundrechtsklage nach Art. 131 Abs. 1 HV gegen das rechtskräftige Urteil des Wahlprüfungsgerichts könne den in Wahlprüfungsangelegenheiten von Verfassungs wegen gebotenen Weg zu einem Gericht nicht ersetzen. Die Grundrechtsklage sei ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der nicht zum Rechtsweg des Art. 19 Abs. 4 GG gehöre und gegenüber dem grundrechtlichen Rechtsschutz durch die Fachgerichte subsidiär sei. Im Übrigen gewährleiste die Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof des Landes Hessen keinen ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutz, weil sie nur unter engen Voraussetzungen zulässig sei, keinen Suspensiveffekt besitze und ihr Prüfungsumfang begrenzt sei.
IV.
Zu dem Normenkontrollverfahren haben sich der Bundestag, die Fraktionen der CDU, SPD und F.D.P. im Hessischen Landtag, der Staatsgerichtshof des Landes Hessen, das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag, der Landtag und der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz sowie der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin geäußert.
1. Der Bevollmächtigte des Bundestages hält den Normenkontrollantrag für unbegründet.
a) Das Grundgesetz mache für Landtagswahlen nur die Vorgaben des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, indem es die tradierten Wahlgrundsätze aus Gründen der politischen Homogenität für die Länder für verbindlich erkläre. Es gehöre zu dem Kernbereich der Verfassungsautonomie der Länder, wie sie die Bedingungen für das Zustandekommen des Parlaments sowie die Kontrolle des Wahlverfahrens und des Wahlaktes festlegten. Die Länder könnten daher strengere Anforderungen an eine demokratische Wahl als der Bund stellen.
b) Mit der Wahl ende die Möglichkeit, die Korrektur von Wahlfehlern als solchen durchzusetzen. Der bürgerschaftliche Akt der Wahl gehe in den staatsorganisatorischen Akt der Konstituierung eines Staatsorgans über und unterfalle ab dann den Regeln über die innerstaatliche Organisation. Diese sähen den Ausschluss des auf dem Staat-Bürger-Verhältnis beruhenden Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG vor und böten stattdessen mit der Wahlprüfung ein eigenständiges staatsorganisatorisches Instrument der Kontrolle an. Die Wahlprüfung sei darauf gerichtet, die ordnungsgemäße Zusammensetzung der Volksvertretung zu gewährleisten. Weder die Wähler noch die Wahlbewerber hätten Anspruch auf Bestand des einmal gewählten Parlaments.
Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG mache deutlich, dass die Entscheidung über die Gültigkeit einer Parlamentswahl primär eine Angelegenheit des Parlaments selbst sei. Da Art. 19 Abs. 4 GG nicht zur Anwendung komme, seien die Länder in der Gestaltung der Wahlprüfung als eines staatsinternen Kontrollverfahrens grundsätzlich frei. Ein Gericht im Sinne der Art. 92 ff. GG brauche die Kontrollinstanz nicht zu sein. Gleichwohl sei das Wahlprüfungsgericht einem Gericht im verfassungsrechtlichen Sinn stark angenähert.
2. Die Fraktion der CDU im Hessischen Landtag vertritt die Auffassung, der Normenkontrollantrag sei zulässig und begründet. Seien die zur Prüfung gestellten Vorschriften anwendbar, entfalle mit Verkündung der Ungültigerklärung der Wahl durch das Wahlprüfungsgericht die demokratische Legitimation des Landtags. Der Landtag könne aber nicht zur Disposition eines spezifisch zusammengesetzten Gremiums stehen, das keine Gerichtsqualität besitze. Der außerordentliche Rechtsbehelf der Grundrechtsklage ermögliche keine ausreichende gerichtliche Überprüfung der Entscheidung über die Gültigkeit der Landtagswahl. Die Grundrechtsklage sei in ihren Wirkungen unklar und besitze keine aufschiebende Wirkung. Auch könne durch eine einstweilige Anordnung des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen eine hinreichende demokratische Legitimation des Landtags nicht geschaffen werden.
3. Nach Ansicht der Fraktion der SPD im Hessischen Landtag hat der Normenkontrollantrag keine Aussicht auf Erfolg.
a) Der Antrag sei bereits unzulässig. Es fehle das erforderliche objektive Interesse an der Feststellung der Nichtigkeit der zur Prüfung gestellten Normen. Der Antragstellerin gehe es allein um die konkrete Anwendung des Art. 78 HV in dem sie betreffenden Einzelfall. Darin liege ein institutioneller Rechtsmissbrauch.
b) Der Antrag sei auch unbegründet, da sich Art. 78 HV als grundgesetzkonform erweise. Der in Art. 78 Abs. 2 HV geregelte Wahlungültigkeitsgrund der „sittenwidrigen Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen”, leide nicht unter mangelnder Bestimmtheit. Zur näheren Bestimmung des Inhalts der vielfach in Gesetzestexten vorkommenden Verweisungen auf die „guten Sitten” oder ähnliche Maßstäbe der Ethik werde regelmäßig auf rechtliche Normen des einfachen Gesetzes oder der Verfassung abgehoben. Da das Tatbestandsmerkmal der sittenwidrigen Handlungen in engem Zusammenhang mit dem Ungültigkeitsgrund der strafbaren Handlungen stehe, sei es entsprechend diesem Grund zu entwickeln. Außerdem sei das weitere Tatbestandsmerkmal der Beeinflussung des Wahlergebnisses ein zusätzliches Korrektiv.
Auch die Ausgestaltung des hessischen Wahlprüfungsverfahrens begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleiste eine weit gehende Autonomie der Länder bei der Staatsorganisation. Art. 19 Abs. 4 GG finde im Rahmen der Wahlprüfung keine Anwendung. Das Wahlprüfungsverfahren habe grundsätzlich den Schutz der objektiv richtigen Zusammensetzung der Volksvertretung zum Ziel. Der subjektive Rechtsschutz werde im Wahlprüfungsverfahren nur so weit gewährleistet, als es der Schutz des objektiven Wahlrechts verlange und vertrage.
Die Wahlprüfung sei im Grundgesetz wie in allen Landesverfassungen als ein besonderes Verfahren ausgewiesen, das nicht den üblichen Voraussetzungen folge. Ein Wahlprüfungsgericht müsse auf Grund der Verfassungstradition die sich aus dem Gewaltenteilungsprinzip ergebenden Anforderungen an ein Gericht nicht vollständig erfüllen. Art. 41 Abs. 1 GG mache deutlich, dass die Entscheidung über die Zusammensetzung des Organs der ersten Gewalt auf Grund der Volkssouveränität und des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht von der dritten Gewalt dominiert werden solle.
Die Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof des Landes Hessen ermögliche eine gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts. Die Kontrollintensität entspreche derjenigen des Bundesverfassungsgerichts im Wahlprüfungsverfahren.
4. Nach Auffassung der F.D.P.-Fraktion im Hessischen Landtag ist das Wahlprüfungsgericht kein unabhängiges, überparteiliches Gericht, sondern ein bloßer Wahlprüfungsausschuss des Hessischen Landtags. Angesichts der fehlenden Gerichtsqualität des Wahlprüfungsgremiums einerseits und der potenziellen Intensität des Eingriffs in die Rechte der Wahlbürger und Abgeordneten andererseits erscheine es zwingend erforderlich, dass die Entscheidung des Wahlprüfungsgremiums vor ihrer Wirksamkeit einer Überprüfung durch ein unabhängiges und überparteiliches Gericht unterzogen werde. Dies könne nur dadurch erreicht werden, dass einem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des parlamentarischen Wahlprüfungsorgans aufschiebende Wirkung zukomme.
Die Möglichkeit, nachträglich Eilrechtsschutz durch eine einstweilige Anordnung im Rahmen einer Grundrechtsklage gegen die Entscheidung des Wahlprüfungsgremiums zu erlangen, stelle keine hinreichende Alternative dar. Die Regelungskompetenzen des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen gingen nicht so weit, dass er einen Landtag, der nicht mehr existent sei, vorläufig im Amt belassen könne.
5. Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen hat auf seine Entscheidung vom 9. August 2000 Bezug genommen, in der er das Wahlprüfungsgericht als parlamentarisches Wahlprüfungsorgan qualifiziert und im Rahmen einer Grundrechtsklage gegen eine Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts eine Kompetenz zur umfassenden Prüfung der Gültigkeit der Landtagswahl in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht angenommen hat.
6. Der Vorsitzende des Wahlprüfungsgerichts hat auf Beschlüsse des Wahlprüfungsgerichts vom 29. Juni 2000 und 25. September 2000 verwiesen. In der Entscheidung vom 29. Juni 2000 hat das Wahlprüfungsgericht ausgeführt, dass der Normenkontrollantrag aussichtslos erscheine, soweit die Verfassungswidrigkeit des in Art. 78 Abs. 2 HV genannten Wahlungültigkeitstatbestands „sittenwidrige Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen” geltend gemacht werde. Von einer uferlosen Weite des Ungültigkeitstatbestands könne keine Rede sein, weil der Begriff der „guten Sitten” durch die Gesetzgebungsmaterialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch und die an sie anknüpfende Rechtsprechung, die heute noch der vom Gesetzgeber bei der Abfassung des Art. 78 Abs. 2 HV vorgefundenen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs entspreche, hinreichend verfestigt sei. In seiner Entscheidung vom 25. September 2000 hat das Wahlprüfungsgericht ergänzend ausgeführt, dass durch den Beschluss des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen vom 9. August 2000 die von der Antragstellerin vorgetragenen Bedenken gegen eine letztinstanzliche Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts über die Gültigkeit der Landtagswahl weitgehend ausgeräumt seien.
7. Der Präsident des Landtages Rheinland-Pfalz und der Präsident des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz haben in ihren Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass Art. 82 der Verfassung für Rheinland-Pfalz in seiner ursprünglichen Fassung vom 18. Mai 1947 (VOBl S. 209) dem Art. 78 Abs. 1 und 3 HV ähnlich war. Bei der Änderung der Vorschrift im Jahre 1975 sei betont worden, dass es rechtsstaatlichen Bedürfnissen sowie dem Selbstverständnis und dem Ansehen des Landtags mehr entspreche, wenn ihm zunächst die Möglichkeit der Selbstprüfung eingeräumt werde, deren Ergebnis dann einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliege.
8. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin hat ausgeführt, die nunmehr dem Verfassungsgerichtshof obliegende Wahlprüfung im Land Berlin sei bis November 1992 vom Wahlprüfungsgericht bei dem Abgeordnetenhaus von Berlin wahrgenommen worden. In der amtlichen Begründung des Wahlprüfungsgesetzes sei darauf hingewiesen worden, die an ein Gericht zu stellenden Anforderungen in der Wahlprüfung würden dadurch modifiziert, dass der im deutschen Verfassungsrecht herkömmliche Grundsatz der Selbstprüfung der parlamentarischen Legitimation das Hinzutreten von Abgeordneten zu einer Mehrheit von Berufsrichtern zur Folge habe.
Entscheidungsgründe
B.
Der Antrag ist zulässig.
Die zur Prüfung gestellten Vorschriften des Art. 78 Abs. 2 und Abs. 3 HV vom 1. Dezember 1946 sowie der §§ 1, 2 und 17 WahlPrüfG vom 5. August 1948 sind zulässige Kontrollgegenstände nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Der abstrakten Normenkontrolle unterliegen auch landesverfassungsrechtliche Regelungen (vgl. Klein in: Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, Rn. 653). Unerheblich ist ferner, ob es sich bei der nachzuprüfenden Norm um vor- oder nachkonstitutionelles Recht handelt; Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle kann im Gegensatz zur konkreten Normenkontrolle auch vorkonstitutionelles Recht sein (vgl. BVerfGE 2, 124 ≪131≫; 24, 174 ≪179 f.≫).
Auch besteht das erforderliche objektive Interesse daran klarzustellen, ob die zur Prüfung gestellten Normen gültig sind (vgl. BVerfGE 6, 104 ≪110≫; 101, 1 ≪30≫). Das Klarstellungsinteresse ist durch die von der Antragstellerin dargelegten Zweifel über die Gültigkeit der Normen bereits indiziert (vgl. BVerfGE 52, 63 ≪80≫). Ein darüber hinausgehendes individuelles Rechtsschutzinteresse ist nicht gefordert. Das abstrakte Normenkontrollverfahren ist ein von subjektiven Berechtigungen unabhängiges objektives Verfahren, das lediglich der Prüfung von Rechtsnormen am Maßstab des Grundgesetzes und sonstigen Bundesrechts dient (vgl. BVerfGE 2, 213 ≪217≫; 20, 350 ≪351≫; 52, 63 ≪80≫). Auf den Weg einer Gesetzesinitiative mit dem Ziel der Verfassungsänderung kann die Antragstellerin schon mit Rücksicht auf die Anforderungen des Art. 123 Abs. 2 HV (qualifizierte Mehrheit und Volksabstimmung) nicht verwiesen werden. Anhaltspunkte dafür, dass der Normenkontrollantrag rechtsmissbräuchlich gestellt ist, bestehen nicht. Der Anlass zur Überprüfung einer Rechtsnorm entspringt regelmäßig einem konkreten Einzelfall; dass die Entscheidung über den Normenkontrollantrag sich dann auch konkret auswirkt, ist typische Folge eines Normenkontrollverfahrens.
C.
Der Antrag führt nur teilweise zum Erfolg. Art. 78 Abs. 2 HV ist in dem zur verfassungsrechtlichen Kontrolle gestellten Umfang mit dem Grundgesetz vereinbar (I.). Auch die Vorschriften des Art. 78 Abs. 3 HV und der §§ 1, 2 WahlPrüfG halten der verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Dagegen ist § 17 WahlPrüfG mit Art. 92 GG unvereinbar und nichtig (II.).
I.
Der Antrag zu 1. ist unbegründet. Die Vorschrift des Art. 78 Abs. 2 HV ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit sie für die Wahl zum Hessischen Landtag bestimmt, dass im Falle der Erheblichkeit für den Ausgang der Wahl gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, eine Wahl ungültig machen.
1. Diese Regelung des materiellen Wahlprüfungsrechts erfasst ein – herkömmlicherweise mit dem Begriff „Wahlbeeinflussung” umschriebenes – wahlbezogenes Verhalten von Amtsträgern oder Privaten, das dazu bestimmt und geeignet ist, vor der Stimmabgabe auf die Wählerwillensbildung einzuwirken (vgl. Rupp-von Brünneck/Konow in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Art. 78 Erl. 7 c). Ihrer verfassungsrechtlichen Beurteilung ist bei der gebotenen Heranziehung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln ein enges Verständnis der Wendung „gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen” zu Grunde zu legen. Danach ist der Wahlfehlertatbestand der sittenwidrigen Wahlbeeinflussung erfüllt, wenn in erheblicher Weise gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl verstoßen wurde.
a) Der Wortlaut der zur Prüfung gestellten Regelung ist sachbereichsbezogen zu deuten. Der Sinn des Begriffs „gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen” lässt sich durch einen Rückgriff auf außerrechtliche Vorstellungen, etwa auf die Formel vom „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden”, die zur Konkretisierung des – namentlich in § 138 Abs. 1 BGB verwendeten – bürgerlich-rechtlichen Begriffs der guten Sitten geprägt wurde, nicht in angemessener Weise erschließen. Vielmehr bedarf es der Feststellung, was unter den Bedingungen des Wahlwettbewerbs, der sich regelmäßig durch scharfe, mitunter polemische Angriffe auf den politischen Gegner und eine Zuspitzung unterschiedlicher politischer Standpunkte auszeichnet, von der Rechtsgemeinschaft als eine wahlfehlerbegründende unlautere Einwirkung auf die Wählerwillensbildung angesehen wird. Art. 78 Abs. 2 HV verweist damit auf die in der einschlägigen wahlprüfungsrechtlichen Spruchpraxis allgemein geteilten Rechtsüberzeugungen, von denen er sich nicht durch eine eigenständige, erheblich strengere Beurteilung wahlbeeinflussenden Verhaltens lösen, sondern in deren Überlieferung und Weiterentwicklung er sich einfügen will (vgl. Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 6. Aufl., 1998, S. 607; Seifert, Bundeswahlrecht, 3. Aufl., 1976, S. 396; von Heyl, Wahlfreiheit und Wahlprüfung, 1975, S. 108 ff., S. 110).
b) Dieser Befund wird durch die Entstehungsgeschichte der zur Prüfung gestellten Vorschrift bestätigt.
Als wahlbeeinflussende Verhaltensweisen, die zur Ungültigkeit einer Wahl führen können, standen dem hessischen Verfassungsgeber neben der Einwirkung von Organen der vollziehenden Gewalt auf die Wählerwillensbildung in erster Linie die wahlbezogene Einflussnahme kirchlicher Amtsträger unter Einsatz der zur Durchsetzung von Lehre und Bekenntnis zur Verfügung stehenden Druckmittel vor Augen. Im Übrigen wurde in den Beratungen allgemein auf Erfahrungen mit der Wahlpraxis der Vergangenheit verwiesen:
Art. 78 Abs. 2 HV geht auf einen – unter dem unmittelbaren Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entstandenen – Vorschlag Walter Jellineks für eine Verfassung Groß-Hessens zurück, der an die Wahlprüfungspraxis des Reichstags nach 1871 und der Wahlprüfungsorgane unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung anknüpfte und zur Grundlage der weiteren Erörterungen wurde. Er lautete (vgl. Berding ≪Hrsg.≫, Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946, 1996, Dokument 17, S. 153 ≪160≫):
Im Falle der Erheblichkeit für den Ausgang der Wahl machen eine Wahl ungültig: Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren, strafbare und gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, sowie amtliche und seelsorgerliche Wahlbeeinflussungen.
In dem von der Verfassungsberatenden Landesversammlung gebildeten Verfassungsausschuss beantragten die Vertreter der CDU, die Wendung „sowie amtliche und seelsorgerliche Wahlbeeinflussungen” zu streichen, weil diese bereits von dem Begriff „gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen” erfasst sei. Es gebe auch von Trägern anderer Ämter oder Berufe oder von politischen Parteien ausgehende Wahlbeeinflussungen, die gegen die guten Sitten verstoßen könnten. Die Mehrheit der Mitglieder des Ausschusses fand sich aber nur dazu bereit, amtliche und seelsorgerische Wahlbeeinflussungen als Beispiele sittenwidrigen Verhaltens anzuführen. Der Missbrauch der Kanzel zur Beeinflussung politischer Wahlen sei durchaus nicht so selten zu beobachten gewesen, dass auf eine entsprechende Vorschrift in der Verfassung verzichtet werden könnte (vgl. Berding, aaO, Dokument 51, S. 735 ≪759 ff.≫).
In der Folgezeit vereinbarten CDU und SPD, von einer Erwähnung amtlicher und seelsorgerischer Wahlbeeinflussungen in der Verfassung abzusehen. Man war sich darin einig, dass diese Erscheinungsformen der Einflussnahme auf die Wählerwillensbildung eine Wahl ungültig machen könnten, sie aber nicht ausdrücklich aufgeführt werden müssten, zumal die Unzulässigkeit einer seelsorgerischen Wahlbeeinflussung bereits im – jetzigen – Art. 50 HV zum Ausdruck komme. Die Verfassungsberatende Landesversammlung machte sich diesen Standpunkt mehrheitlich zu Eigen. So erhielt die Vorschrift des Art. 78 Abs. 2 HV ihre heutige Fassung (vgl. Berding, aaO, Dokument 59, S. 964 ≪965≫ und Dokument 61, S. 980 ≪1002 f., 1020≫).
c) Nach der wahlprüfungsrechtlichen Praxis, in deren Tradition und Weiterentwicklung Art. 78 Abs. 2 HV steht, liegt eine unzulässige, einen Wahlfehler begründende Wahlbeeinflussung nur vor, wenn durch die in Rede stehende Einwirkung auf die Wählerwillensbildung in erheblichem Maße gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl verstoßen wird.
aa) So galten in der Zeit der konstitutionellen Monarchie unter der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 alle als „amtliche Wahlbeeinflussung” zu wertenden Vorgänge wie „Wahlaufrufe … unter Beifügung des Amtscharakters” oder amtliche Auftritte von „obrigkeitlichen Personen” in Wahlversammlungen als geeignet, einen Wahlfehler zu begründen; ebenso wurde die „geistliche Wahlbeeinflussung” beurteilt. Demgegenüber blieben Einflussnahmen Dritter auf den Wähler wie Entlassungs- oder Ausschlussdrohungen privater Arbeitgeber oder von Vereinen und „Wahlmanöver” der im Wahlkampf stehenden Parteien oder einzelner Wahlbewerber, einschließlich der Verbreitung von „Täuschungen und Lügen”, auch dann grundsätzlich unbeanstandet, wenn man sie für „sittlich zu missbilligen” hielt. Nur in den Fällen, in denen Private in nötigender Form Druck auf Abhängige ausübten, sodass von der Verwirklichung eines unverfälschten Wählerwillens im Wahlakt und dessen Schutz durch das Wahlgeheimnis nicht mehr die Rede sein konnte, wurde eine Ungültigerklärung der Wahl in Betracht gezogen (vgl. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1915, S. 550 ff.; Ball, Das materielle Wahlprüfungsrecht – seine Entwicklung und seine Rechtsgrundsätze, 1931, S. 55 ff.).
bb) Unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 – WRV – knüpften die zuständigen Wahlprüfungsorgane, insbesondere das gemäß Art. 31 WRV beim Reichstag gebildete Wahlprüfungsgericht an diese Grundsätze an. Der ehedem vom Kulturkampf geprägte Tatbestand der geistlichen Wahlbeeinflussung erlangte in ihrer Spruchpraxis allerdings keine Bedeutung mehr (vgl. Ball, aaO, S. 158 ff.).
cc) Die grundsätzliche Anerkennung der amtlichen und der nötigenden Wahlbeeinflussung als Wahlfehler bei gleichzeitiger Zurückhaltung, Einwirkungen Dritter auf die Willensbildung des Wählers als Wahlungültigkeitsgrund anzusehen, setzte sich nach dem In-Kraft-Treten des Grundgesetzes in der Praxis der Wahlprüfungsorgane der Länder fort.
So ging der Staatsgerichtshof der Freien und Hansestadt Bremen in einer Entscheidung zur Gültigkeit der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft vom 7. Oktober 1979 davon aus, dass eine Verpflichtung staatlicher Stellen zu neutralem Verhalten im Wahlkampf bestehe. Zwar sah er die Fraktionen des Parlaments dieser Verpflichtung nicht unterworfen, erachtete sie aber auf Grund des Gebots der Chancengleichheit der Wahlbewerber gehindert, mit Hilfe öffentlicher Mittel in den Wahlkampf einzugreifen. Gleichwohl blieb die konkret erhobene Rüge, die SPD-Bürgerschaftsfraktion habe den Einsatz von sechs Zeitungsanzeigen und einem Faltblatt aus den ihr gewährten Fraktionszuschüssen finanziert, ohne Erfolg, weil der Staatsgerichtshof diesen Sachverhalt für wahlprüfungsrechtlich nicht hinreichend gewichtig hielt. Der Sinn der Wahlprüfung bestehe nicht vorrangig in der Ahndung von Gesetzesverstößen. Zudem könne eine unzulässige Wahlwerbung jedenfalls bis zu einem gewissen Ausmaß durch den jeweiligen politischen Gegner zu einem Thema des Wahlkampfes gemacht werden. Vor diesem Hintergrund seien nur ins Gewicht fallende, häufige und massive offenkundige Verstöße gegen das Verbot der Verwendung öffentlicher Mittel im Wahlkampf geeignet, einen Wahlfehler zu begründen (vgl. BremStGHE 4, 111 ≪145 ff.≫).
Das Hamburgische Verfassungsgericht stellte zu einer von der Deutschen Volksunion (DVU) geltend gemachten Behinderung des Wahlkampfes durch private Dritte (Zerstörung von Plakatstellschildern) fest, dass eine Wahlbeeinflussung aus dem nichtstaatlichen Bereich grundsätzlich zulässig sei; selbst ein gesetzwidriges Handeln Privater führe nicht zu Wahlfehlern. Zum einen bestehe die Möglichkeit, Rechtsschutz bei den staatlichen Gerichten zu finden. Zum anderen setze der Gesetzgeber voraus, dass der Wähler reif genug sei, selbst massive rechtswidrige Einflüsse zu durchschauen und darauf in seiner Wahlentscheidung zu reagieren. Die Qualifikation von Vorgängen der geltend gemachten Art als Wahlfehler komme allenfalls dann in Betracht, wenn der Wahlkampf so schwer wiegend und ohne die Möglichkeit rechtlich zulässiger Gegenwehr behindert worden sei, dass das Wort „Wahlterror” angemessen sei (vgl. NVwZ-RR 1999, S. 354 ≪355≫).
Art. 78 Abs. 2 HV selbst war Gegenstand einer Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts beim Hessischen Landtag. Sie betraf unter anderem die Sammlung von Unterschriften gegen den Golf-Krieg des Jahres 1991 im Zugangsbereich zu mehreren Wahllokalen. Das Wahlprüfungsgericht wertete diesen Vorgang als Verstoß gegen die „Bannmeilenregelung” nach § 31a Abs. 1 des Gesetzes über die Wahlen zum Landtag des Landes Hessen (Landtagswahlgesetz), sah den Wahlfehlertatbestand der sittenwidrigen Wahlbeeinflussung aber nicht als erfüllt an, weil die Unterschriftensammlung ihrer Zielrichtung wegen nicht als ein unlauteres Handeln zu qualifizieren sei (vgl. NVwZ-RR 1993, S. 116 ≪118≫).
dd) Die wahlprüfungsrechtliche Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte auf dem Gebiet des Kommunalwahlrechts stimmt mit dieser Praxis im Wesentlichen überein. So ist durchweg anerkannt, dass Organe der Gemeindeverwaltung, die die Wahl zu einer Gemeindevertretung in erheblicher Weise beeinflussen, gegen die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl verstoßen (vgl. BayVGH, NVwZ-RR 1996, S. 680 und BVerwGE 104, 323; VGH Baden-Württemberg, NVwZ 1992, S. 504; HessVGH, ESVGH 49, 167). Entsprechendes gilt für Einflussnahmen auf die Willensbildung des Wählers mit Mitteln des Zwangs oder Drucks (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, OVGE 18, 1 und NVwZ-RR 1998, S. 196 sowie BVerwGE 18, 14). Demgegenüber lassen die Verwaltungsgerichte Vorgänge wie die so genannte Scheinkandidatur von Bürgermeistern bei Wahlen zu Gemeindevertretungen regelmäßig unbeanstandet (vgl. HessVGH, DÖV 1970, S. 643 und DVBl 1980, S. 66; OVG Rheinland-Pfalz, NVwZ-RR 1992, S. 255). Der weiter gehende Standpunkt, ein Wahlfehlertatbestand könne auch dann erfüllt sein, wenn ein Wahlbewerber im Wahlkampf zu Mitteln der Täuschung greife, Gerüchte über den politischen Gegner verbreitet würden oder dieser beleidigt werde, hat sich nicht durchgesetzt. Die in der früheren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vereinzelt anzutreffende Auffassung, ein unlauteres wahlbeeinflussendes Verhalten vermöge bereits als solches ohne das Hinzutreten weiterer Umstände die Ungültigerklärung einer Wahl zu rechtfertigen, wird in der Rechtsprechung mittlerweile allgemein abgelehnt (vgl. Schmiemann, Wahlprüfung im Kommunalwahlrecht, 1972, S. 38 ff., 79 ff.).
ee) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, der Prozess der Willensbildung des Volkes müsse staatsfrei verlaufen, und es hat aus dem Grundsatz der Freiheit der Wahl und dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit das Verbot hergeleitet, den Wahlkampf durch eine die Form der Wahlwerbung annehmende Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zu beeinflussen. Werde das verfassungsrechtliche Gebot der Neutralität der Regierung im Wahlkampf nicht beachtet und lasse sich infolgedessen nicht mehr ausschließen, dass dadurch die Mandatsverteilung beeinflusst worden sei, so könne das im Wahlprüfungsverfahren nicht ohne Konsequenzen bleiben und die Gültigkeit der Wahl gefährden (vgl. BVerfGE 44, 125 ≪138 ff., 154≫).
In einer Entscheidung, die die Versendung von Kunststoffschneidebrettchen in einem Wahlkreis durch den dortigen Kandidaten der CDU zum Gegenstand hatte, stellte das Bundesverfassungsgericht fest, der Vorgang habe die Möglichkeit der freien Kritik und des offenen Wettbewerbs der Meinungen nicht beeinträchtigt. Weder sei dadurch das Demokratieprinzip verletzt, noch sei gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber und Parteien verstoßen worden. Ob die in Rede stehende Handlungsweise mit § 108b StGB und dem Grundsatz der Wahlfreiheit vereinbar gewesen sei, ließ der Senat offen. Die Versendung der Brettchen habe das Stimmenverhältnis offensichtlich nicht wesentlich beeinflusst (vgl. BVerfGE 21, 196 ≪198 ff.≫).
Den Gesichtspunkt des Wahlwettbewerbs stellte das Bundesverfassungsgericht auch in einer weiteren Entscheidung in den Mittelpunkt. Mit einer Wahlprüfungsbeschwerde war gerügt worden, der Bundeskanzler und der SPD angehörende Minister hätten an einer Verletzung des in § 74 Abs. 2 BetrVG normierten Verbots parteipolitischer Betätigung mitgewirkt, indem sie in Betrieben vor Belegschaftsversammlungen gesprochen hätten. Der Senat erklärte einen möglichen Verstoß der einladenden Arbeitgeber und Betriebsräte gegen die genannte Vorschrift des Betriebsverfassungsgesetzes für wahlprüfungsrechtlich irrelevant. Entscheidend sei, dass für eine Verletzung der Grundsätze der Wahlfreiheit und Wahlgleichheit durch die Ansprachen nichts ersichtlich sei. Es sei nicht erkennbar, dass Druck auf Betriebsangehörige ausgeübt worden sei, an den Versammlungen teilzunehmen, oder andere Parteien unter Verletzung der Chancengleichheit nicht eingeladen worden wären (vgl. BVerfGE 40, 11 ≪39 f.≫).
Im Verfahren über eine Wahlprüfungsbeschwerde, mit der geltend gemacht worden war, der Christlich Bayerischen Volkspartei (C.B.V.) sei der Einsatz von Lautsprechern bei Wahlkampfveranstaltungen polizeilich untersagt worden und „Stoßtrupps und bezahlte Organe der CSU” hätten Wahlplakate der Partei zerstört, wies der Senat darauf hin, dass es nahe gelegen hätte, gegen eine rechtswidrige Verhinderung des Einsatzes von Lautsprechern die Gerichte anzurufen und gegen eine Zerstörung von Wahlplakaten polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerfGE 48, 271 ≪279≫).
In einem Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren zur Frage, ob der Wählerwille dadurch verfälscht worden sei, dass einzelne Unternehmer für den Fall eines Wahlerfolgs der SPD Entscheidungen mit nachteiligen Folgen für die Beschäftigungslage angekündigt oder zumindest nicht ausgeschlossen hatten, führte das Bundesverfassungsgericht aus, der Grundsatz der Freiheit der Wahl schütze den Wähler auch vor Beeinflussungen, die geeignet seien, seine Entscheidungsfreiheit trotz des bestehenden Wahlgeheimnisses ernstlich zu beeinträchtigen. Zu diesen Beeinflussungen gehöre die im Tatbestand des § 108 StGB verfassungsgemäß näher umschriebene Ausübung unzulässigen Drucks auf Wahlberechtigte durch andere Bürger oder gesellschaftliche Gruppen. Eine Ausübung wirtschaftlichen Drucks im Sinne dieser Vorschrift, der die Entscheidungsfreiheit des Wählers ernstlich beeinträchtigt hätte, vermochte der Senat den in Rede stehenden Äußerungen nicht zu entnehmen. Zu der Erklärung eines Unternehmers, er werde seinen Betrieb bei einem Wahlerfolg der SPD einstellen, wies der Senat darauf hin, dass über die betreffende Ankündigung eine öffentliche Auseinandersetzung stattgefunden habe (vgl. BVerfGE 66, 369 ≪380 ff.≫).
d) Geht man von dieser Praxis, die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum überwiegend Zustimmung gefunden hat (vgl. Seifert, aaO, S. 407; Rechenberg in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 41 ≪Zweitbearbeitung 1978≫ Rn. 22; ferner: Hüfler, Wahlfehler und ihre materielle Würdigung, Diss., 1979, S. 223 ff.), aus, liegt eine sittenwidrige, das Wahlergebnis beeinflussende Handlung im Sinne von Art. 78 Abs. 2 HV dann vor, wenn staatliche Stellen im Vorfeld einer Wahl in mehr als nur unerheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwillens eingewirkt haben, wenn private Dritte, einschließlich Parteien und einzelnen Kandidaten, mit Mitteln des Zwangs oder Drucks die Wahlentscheidung beeinflusst haben oder wenn in ähnlich schwer wiegender Art und Weise auf die Wählerwillensbildung eingewirkt worden ist, ohne dass eine hinreichende Möglichkeit der Abwehr, z.B. mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei, oder des Ausgleichs, etwa mit Mitteln des Wahlwettbewerbs, bestanden hätte. Außerhalb dieses Bereichs erheblicher Verletzungen der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl stellt ein Einwirken von Parteien, einzelnen Wahlbewerbern, gesellschaftlichen Gruppen oder sonstigen Dritten auf die Bildung des Wählerwillens kein Verhalten dar, das den zur Prüfung gestellten Wahlfehlertatbestand erfüllte, selbst wenn es als unlauter zu werten sein und gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen sollte. Ein Gesetzesverstoß ist für die Annahme einer sittenwidrigen Wahlbeeinflussung im Sinne von Art. 78 Abs. 2 HV weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung.
e) Dass der Begriff der sittenwidrigen Handlung in dieser Weise einschränkend auszulegen ist, wird durch den Regelungszusammenhang der zur Prüfung gestellten Vorschrift bestätigt.
Art. 78 Abs. 2 HV stellt unlautere, die Wahl beeinflussende Verhaltensweisen, „Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren”, d.h. Verletzungen von Wahlvorschriften, die die Wahlvorbereitung, den Wahlakt und die Feststellung des Wahlergebnisses betreffen (vgl. Rupp-von Brünneck/Konow, aaO, Art. 78 Erl. 7a), und „strafbare Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen”, d.h. Verstöße gegen die §§ 107 ff. StGB, einander gleich. Daraus ist zu schließen, dass eine sittenwidrige Wahlbeeinflussung nach Art und Gewicht zumindest ebenso bedeutsam sein muss wie die von Art. 78 Abs. 2 HV im Übrigen erfassten Handlungen, namentlich diejenigen strafrechtlicher Natur.
Hinzu kommt: Art. 78 Abs. 2 HV lässt die Ungültigerklärung einer Wahl wegen sittenwidriger Handlungen, wie dargelegt, nur unter der Voraussetzung zu, dass diese Handlungen „das Wahlergebnis beeinflussen”. Er stellt damit erhöhte Anforderungen an die Annahme eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer unlauteren Einflussnahme auf die Willensbildung des Wählers und dessen Stimmabgabe.
f) Nur eine einschränkende Auslegung des Begriffs „sittenwidrige Handlungen” wird auch dem Sinn und Zweck von Art. 78 Abs. 2 HV gerecht.
Als eine in der Überlieferung der materiell-rechtlichen Wahlprüfungspraxis stehende Vorschrift will Art. 78 Abs. 2 HV die richtige, mit dem Wählerwillen in Einklang stehende Zusammensetzung des Parlaments gewährleisten und damit der Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze, insbesondere der Wahlfreiheit und Wahlgleichheit als konstituierenden Elementen einer demokratischen Wahl dienen. Das Parlament soll indessen durch die Wahlprüfung in der Wahrnehmung seiner Aufgaben, insbesondere der Gesetzgebung und der Kontrolle der – von ihm als funktionsfähiges Organ erst hervorzubringenden – Regierung möglichst nicht beeinträchtigt werden. Dieser Rechtsgedanke liegt den wahlprüfungsrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Grunde (vgl. BVerfGE 89, 243 ≪253≫) und ist in der wahlprüfungsrechtlichen Rechtsprechung der Länder allgemein anerkannt (vgl. OVG Schleswig, NVwZ 1994, S. 179; Niedersächsischer Staatsgerichtshof, DVBl 2000, S. 627). In der zur Prüfung gestellten Regelung kommt er darin zum Ausdruck, dass die Ungültigerklärung einer Wahl nur insoweit zugelassen wird, als das in Rede stehende Verhalten das Wahlergebnis beeinflusst hat und diese Beeinflussung für den Ausgang der Wahl erheblich war (vgl. Rupp-von Brünneck/Konow, aaO, Art. 78 Erl. 5b und 8). Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setzt einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene.
2. In der unter 1. näher dargelegten Auslegung ist die zur Prüfung gestellte Regelung mit dem als bundesverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab allein in Betracht kommenden Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG vereinbar.
a) Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG bindet die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern an die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates. Er gibt den Ländern kraft des Demokratiegebots auf, ein Verfahren zur Prüfung ihrer Parlamentswahlen einzurichten; auch hierfür sind die in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG aufgeführten Wahlrechtsgrundsätze verbindlich (vgl. BVerfGE 85, 148 ≪158≫; 99, 1 ≪11≫). Innerhalb dieses Rahmens genießen die Länder Autonomie. Einem Land, das sich entschließt, das materielle Wahlprüfungsrecht gesetzlich zu regeln, steht dementsprechend eine umfangreiche Gestaltungsfreiheit zu (vgl. BVerfGE 90, 60 ≪84 f.≫; 98, 145 ≪157≫; 99, 1 ≪11 f.≫). Deren Grenzen wären allerdings dann überschritten, wenn schwer wiegende Verstöße gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl wie fortlaufende gravierende Verletzungen des Verbots der amtlichen Wahlbeeinflussung oder massive, unter erheblichem Zwang oder Druck ausgeübte Einflüsse privater Dritter auf die Wählerwillensbildung als mögliche Wahlfehler von vornherein außer Betracht blieben. Andererseits schließt das Erfordernis des Bestandsschutzes einer gewählten Volksvertretung (vgl. BVerfGE 89, 243 ≪253≫), das seine rechtliche Grundlage im Demokratiegebot findet, es zumindest aus, Wahlbeeinflussungen einfacher Art und ohne jedes Gewicht schlechthin zum Wahlungültigkeitsgrund zu erheben. Der Eingriff in die Zusammensetzung einer gewählten Volksvertretung durch eine wahlprüfungsrechtliche Entscheidung muss vor diesem Bestandserhaltungsinteresse gerechtfertigt werden. Je tiefer und weiter die Wirkungen eines solchen Eingriffs reichen, desto schwerer muss der Wahlfehler wiegen, auf den dieser Eingriff gestützt wird. Einer genaueren Bestimmung der Schranken, denen die Länder hiernach unterliegen, bedarf es indessen nicht. Denn in der dargestellten Auslegung hält sich die zur Prüfung gestellte Regelung ersichtlich innerhalb des Kernbereichs der den Ländern bei der Ausgestaltung ihres Wahlprüfungsrechts zustehenden Freiheit.
b) Art. 78 Abs. 2, dritte Fallgestaltung HV verstößt auch nicht gegen den Grundsatz der Bestimmtheit gesetzlicher Vorschriften, der aus dem in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip folgt. Das Bestimmtheitsgebot erlegt den Ländern die Verpflichtung auf, gesetzliche Tatbestände so zu fassen, dass die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können. Welcher Grad an Bestimmtheit geboten ist, lässt sich indes nicht generell und abstrakt festlegen, sondern hängt von der Eigenart des Regelungsgegenstandes und dem Zweck der betreffenden Norm ab (vgl. BVerfGE 89, 69 ≪84≫; stRspr).
Hieran gemessen ist der Verweis auf den Maßstab der „guten Sitten” in Art. 78 Abs. 2 HV nicht zu beanstanden. Sein Inhalt ist, wie gezeigt, mit Hilfe der in der Rechtswissenschaft allgemein anerkannten Auslegungsregeln nach Maßgabe des Sachzusammenhangs bestimmbar. Einer normativen Konkretisierung bedarf es schon in Anbetracht der unüberschaubaren Vielfalt möglicher Quellen, Erscheinungsformen und Zielrichtungen wahlbeeinflussender Verhaltensweisen nicht. Dementsprechend hat es das Bundesverfassungsgericht in seiner wahlprüfungsrechtlichen Rechtsprechung nicht beanstandet, dass es im Bund an einer gesetzlichen Regelung des materiellen Wahlprüfungsrechts nahezu vollständig fehlt.
II.
Der Antrag zu 2. ist teilweise begründet. Die in § 17 WahlPrüfG enthaltene Regelung über die mit der Verkündung eintretende Rechtskraft des Urteils des Wahlprüfungsgerichts hält der verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Demgegenüber stehen die Vorschriften über die Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts in Art. 78 Abs. 3 HV und §§ 1, 2 WahlPrüfG mit dem Grundgesetz in Einklang.
1. Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Art. 78 Abs. 3 HV und der §§ 1, 2 und 17 WahlPrüfG ist Art. 92 GG, der unmittelbar auch für die Länder gilt.
a) Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Ihre Ausübung ist den Gerichten des Bundes und der Länder vorbehalten. Der Gesetzgeber, auch der Landesgesetzgeber, darf deshalb eine Angelegenheit, die Rechtsprechung im Sinne von Art. 92 erster Halbsatz GG ist, nicht anderen Stellen als Gerichten zuweisen (vgl. Heyde in: Benda/Maihofer/Vogel ≪Hrsg.≫, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, § 33 Rn. 12; Bettermann in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl., 1996, § 73 Rn. 4).
b) Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt ist durch die Verfassungsrechtsprechung nicht abschließend geklärt. Ob die Wahrnehmung einer Aufgabe als Rechtsprechung im Sinne von Art. 92 GG anzusehen ist, hängt wesentlich von verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie von traditionellen oder durch den Gesetzgeber vorgenommenen Qualifizierungen ab (vgl. BVerfGE 22, 49 ≪76 ff.≫; 64, 175 ≪179≫; 76, 100 ≪106≫). Von der Ausübung rechtsprechender Gewalt kann – in allein organisationsrechtlicher Betrachtung – nicht schon dann gesprochen werden, wenn ein staatliches Gremium mit unabhängigen Richtern im Sinne der Art. 92 ff. GG besetzt ist. Sinn und Zweck des IX. Abschnitts des Grundgesetzes, der für den Bereich der Rechtsprechung eine besondere Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Willensbildung im System der Gewaltenteilung gewährleisten will (vgl. BVerfGE 22, 49 ≪75≫), entspräche es nicht, allein aus der Besetzung eines staatlichen Gremiums mit unabhängigen Richtern auf die Ausübung rechtsprechender Gewalt zu schließen.
Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt wird vielmehr maßgeblich von der konkreten sachlichen Tätigkeit her, somit materiell bestimmt. Um Rechtsprechung in einem materiellen Sinn handelt es sich, wenn bestimmte hoheitsrechtliche Befugnisse bereits durch die Verfassung Richtern zugewiesen sind oder es sich von der Sache her um einen traditionellen Kernbereich der Rechtsprechung handelt (vgl. BVerfGE 22, 49 ≪76 f.≫). Daneben ist rechtsprechende Gewalt im Sinne des Art. 92 GG auch dann gegeben, wenn der Gesetzgeber für einen Sachbereich, der nicht schon materiell dem Rechtsprechungsbegriff unterfällt, eine Ausgestaltung wählt, die bei funktioneller Betrachtung nur der rechtsprechenden Gewalt zukommen kann. In funktioneller Hinsicht handelt es sich – ungeachtet des jeweiligen sachlichen Gegenstandes – um Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können. Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der Rechtsprechung in diesem Sinne gehört das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist (vgl. BVerfGE 7, 183 ≪188 f.≫; 31, 43 ≪46≫; 60, 253 ≪269 f.≫). Nach Art. 92 GG ist es Aufgabe der Gerichte, Rechtssachen mit verbindlicher Wirkung zu entscheiden, und zwar in Verfahren, in denen durch Gesetz die erforderlichen prozessualen Sicherungen gewährleistet sind und der verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf rechtliches Gehör besteht (vgl. BVerfGE 4, 358 ≪363≫). Kennzeichen rechtsprechender Tätigkeit ist daher typischerweise die letztverbindliche Klärung der Rechtslage in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren.
2. Nach diesen Maßstäben ist die Prüfung der Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag in funktioneller Hinsicht nur teilweise als rechtsprechende Tätigkeit ausgeformt.
a) Zwar spricht Art. 78 HV von einem „Wahlprüfungsgericht” und überträgt ihm allein die Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl und über die Frage, ob ein Abgeordneter seinen Sitz verloren hat (Art. 78 Abs. 1 HV). Doch weder aus der Bezeichnung als Gericht noch aus der Übertragung der Aufgabe der Wahlprüfung kann für sich genommen auf das Vorliegen rechtsprechender Gewalt im funktionellen Sinne geschlossen werden. Dies gilt selbst dann, wenn man zusätzlich die Ausgestaltung des Wahlprüfungsverfahrens durch das Wahlprüfungsgesetz des Landes Hessen heranzieht. Auch hier wird zwar die Terminologie der Landesverfassung aufgenommen und zusätzlich noch von der Entscheidungsform des „Urteils” gesprochen (§§ 9, 15, 16, 17 WahlPrüfG); jedoch begründen im Fall der Wahlprüfung auch diese für sich genommen gewichtigen Anhaltspunkte ebenso wenig wie eine überwiegend gerichtsförmige Verfahrensgestaltung eine sichere Zuordnung zur rechtsprechenden Gewalt im funktionellen Sinne.
b) Bei der Beurteilung der angegriffenen Vorschriften ist sowohl die nur durch Art. 28 Abs. 1 GG begrenzte Autonomie der Länder zu wahren als auch auf die Besonderheiten der Wahlprüfung zu achten. Die Wahlprüfung befand sich unter der Weimarer Reichsverfassung in einer Position zwischen unabhängiger Rechtsprechung und parlamentarischer Selbstkontrolle. Den Schritt zur vollen Übertragung der Wahlprüfung auf unabhängige staatliche Gerichte wollte man seinerzeit angesichts historischer Erfahrungen mit der monarchischen Staatsorganisation nicht wagen, strebte jedoch eine Annäherung an das gerichtsförmige Verfahren unter Beibehaltung parlamentarischen Einflusses an. Diese schon vom damaligen Reichsminister des Innern, Hugo Preuss, als „mittleres Verfahren” (Verfassungsgebende Nationalversammlung, Stenografische Berichte, Bd. 326, S. 291 B) gekennzeichnete Struktur hat die hessische Landesverfassung im Jahre 1946 im Wesentlichen übernommen. Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung am Maßstab des Art. 92 GG ist auf diese Besonderheit der Wahlprüfung und auf die Gestaltungsfreiheit der Länder besondere Rücksicht zu nehmen.
c) In § 17 WahlPrüfG ist jedoch auch bei einer der Autonomie der Länder und den Besonderheiten der Wahlprüfung angemessenen Auslegung des Landesrechts die Ausübung rechtsprechender Gewalt im Sinne des Art. 92 GG geregelt. Dort ist bestimmt, dass das Urteil des Wahlprüfungsgerichts „mit seiner Verkündung rechtskräftig” wird. Damit wird der Entscheidung des Wahlprüfungsgremiums eine Rechtswirkung zugemessen, die nur von unabhängigen staatlichen Gerichten im Sinne des IX. Abschnitts des Grundgesetzes herbeigeführt werden kann, nämlich eine letztverbindliche Entscheidung darüber zu treffen, was im konkreten Fall rechtens ist. Rechtskraft ist im juristischen Sprachgebrauch ein Institut, das allein gerichtlichen Entscheidungen vorbehalten ist. Es macht erkennbar, dass jede weitere gerichtliche Kontrolle mit Ausnahme außerordentlicher Rechtsbehelfe wie der Verfassungsbeschwerde unstatthaft ist (formelle Rechtskraft) und in persönlicher, sachlicher sowie zeitlicher Hinsicht eine Bindungswirkung hinsichtlich der festgestellten Rechtsfolge besteht (materielle Rechtskraft, vgl. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl., 1974, S. 484 f.). Gerade die Verbindung der Begriffe „Urteil” und „rechtskräftig” erlaubt unter Beachtung juristischer Auslegungsregeln nicht, den Begriff der Rechtskraft im Sinne verwaltungsrechtlicher Bestandskraft zu deuten. Die Anordnung der gerichtlich nicht weiter überprüfbaren Rechtswirksamkeit einer Entscheidung, die streitige Rechtsverhältnisse regelt, ist von Verfassungs wegen nur als Teil der rechtsprechenden Gewalt im Sinne von Art. 92 GG zulässig.
d) Nach Art. 92 GG darf eine Entscheidung mit einer solchen Rechtswirkung im Wahlprüfungsverfahren nicht durch ein gemischtes Gremium wie das Wahlprüfungsgericht getroffen werden, weil niemand in eigener Sache Richter sein kann (vgl. BVerfGE 3, 377 ≪381≫) und ein zur Streitentscheidung berufenes Gericht nicht zugleich Partei in einem von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit sein darf (BVerfGE 60, 175 ≪202 f.≫; 67, 65 ≪68≫).
aa) Zum Wesen der richterlichen Tätigkeit nach dem Grundgesetz gehört es, dass sie durch einen nichtbeteiligten Dritten in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird (BVerfGE 4, 331 ≪346≫; 27, 312 ≪322≫; 87, 68 ≪85≫; stRspr). Die richterliche Tätigkeit setzt aber nicht nur Weisungsfreiheit und persönliche Unabhängigkeit voraus. Wesentlich ist darüber hinaus, dass sie von einem nichtbeteiligten Dritten ausgeübt wird (vgl. BVerfGE 3, 377 ≪381≫; 48, 300 ≪316≫; 87, 68 ≪85≫). Diese Vorstellung ist mit den Begriffen von „Richter” und „Gericht” untrennbar verknüpft (vgl. BVerfGE 4, 331 ≪346≫; 60, 175 ≪214≫). Die richterliche Tätigkeit erfordert daher Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten (BVerfGE 21, 139 ≪146≫).
bb) Nach diesen Grundsätzen fehlt den drei gewählten Abgeordneten des Landtags, die nach Art. 78 Abs. 3 HV i.V.m. § 1 WahlPrüfG Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts sind, die für das Richteramt erforderliche Neutralität und Distanz zum Gegenstand des wahlprüfungsgerichtlichen Verfahrens. Das Wahlprüfungsgericht entscheidet nach Art. 78 Abs. 1 Satz 1 HV i.V.m. § 17 WahlPrüfG mit verbindlicher Wirkung über die Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag. Es befindet damit abschließend darüber, ob die Wahl der einzelnen Abgeordneten wirksam ist. Wird die Landtagswahl durch das Wahlprüfungsgericht insgesamt für ungültig erklärt, steht fest, dass allen aus dieser Wahl hervorgegangenen Mitgliedern des Parlaments die Legitimation fehlt und sie ihre Mandate verlieren. Die dem Wahlprüfungsgericht angehörenden Landtagsabgeordneten können daher in ihrer Stellung als Mitglieder des Parlaments unmittelbar von einem wahlprüfungsgerichtlichen Urteil betroffen sein. Da sie Mitglieder des Organs sind, über dessen wirksame Bestellung und Zusammensetzung im Wahlprüfungsverfahren entschieden wird, sind sie der Natur der Sache nach selbst Partei.
e) Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob die Prüfung der Gültigkeit einer Parlamentswahl materiell zur rechtsprechenden Gewalt gehört und damit darüber von Verfassungs wegen letztverbindlich von einem Gericht im Sinne der Art. 92 ff. GG entschieden werden muss. Denn jedenfalls steht mit dem Staatsgerichtshof des Landes Hessen eine gerichtliche Kontrollinstanz zur Verfügung, die einen den Erfordernissen der Wahlprüfung genügenden Rechtsschutz (vgl. BVerfGE 85, 148 ≪158≫) gewährleisten kann.
3. Die Anordnung der sofortigen Rechtskraft eines Urteils des Wahlprüfungsgerichts ohne die erforderliche Gewährleistung der Neutralität und Unparteilichkeit der parlamentarischen Mitglieder diese Gremiums hat zur Folge, dass § 17 WahlPrüfG mit Art. 92 GG unvereinbar und damit nichtig ist. Würde diese Vorschrift als rechtsgültig angesehen, müsste die Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts verfassungsrechtlich beanstandet werden, weil sie nicht den Anforderungen des Art. 92 GG entspricht. Da die Länder im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art. 28 Abs. 1 GG im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie genießen, müssen ihre staatsorganisatorischen Entscheidungen möglichst unangetastet bleiben und Eingriffe in ihren Verfassungsraum auf das geringstmögliche Maß beschränkt werden. Demgemäß ist allein § 17 WahlPrüfG für nichtig zu erklären. Dem Landesgesetzgeber steht es frei, die Frage der Wirksamkeit der abschließenden Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts nach Maßgabe der aufgezeigten Grundsätze neu zu regeln oder ein zweistufiges Verfahren nach dem Vorbild des Art. 41 GG oder eine personelle Zusammensetzung des Wahlprüfungsgremiums zu wählen, die den Anforderungen der Art. 92 ff. GG entspricht.
D.
Die Nichtigkeit des § 17 WahlPrüfG schafft eine Regelungslücke und macht angesichts des beim Wahlprüfungsgericht anhängigen Verfahrens eine Übergangsregelung erforderlich. Zwar kann – wie ausgeführt – das Wahlprüfungsgericht im Rahmen des § 15 WahlPrüfG weiter über die Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag befinden. Infolge der Nichtigerklärung des § 17 WahlPrüfG ist es jedoch geboten, im Wege einer Anordnung nach § 35 BVerfGG übergangsweise unter größtmöglicher Schonung der den Ländern zustehenden staatsorganisatorischen Gestaltungsfreiheit im Bereich des Wahlprüfungsrechts eine Regelung hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen der Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts zu treffen, die der gesetzgeberischen Konzeption des Wahlprüfungsverfahrens im Wahlprüfungsgesetz des Landes Hessen genügt. Dem entspricht es anzuordnen, dass das Urteil des Wahlprüfungsgerichts nach § 15 WahlPrüfG nicht vor Ablauf eines Monats nach seiner Verkündung, innerhalb dessen beim Staatsgerichtshof des Landes Hessen um Rechtsschutz nachgesucht werden kann, Wirksamkeit erlangt.
E.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Unterschriften
Limbach, Sommer, Jentsch, Hassemer, Broß, Osterloh, Di Fabio
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 08.02.2001 durch Frik Regierungsangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 557512 |
BVerfGE, 111 |
EuGRZ 2001, 141 |
EuGRZ 2001, 141-150 |
BGBl I 2001, 341 |
NVwZ 2001, 551 |
JA 2001, 839 |
JZ 2001, 870 |
JuS 2001, 704 |
VR 2001, 136 |
VR 2001, 136-139 |
BayVBl. 2001, 467 |
DVBl. 2001, 463 |
DVBl. 2001, 888 |
BGBl. I 2001, 341 |
Blätter 2001, 371 |
FSt 2002, 168 |
Hess.GVBl. I 2001, 168 |
JURAtelegramm 2002, 102 |
www.judicialis.de 2001 |