Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 28.11.2013; Aktenzeichen 15 A 1114/11) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. November 2013 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 58 974,01 EUR festgesetzt.
Gründe
Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde kann keinen Erfolg haben.
1. Verfahrensrügen, die zur Zulassung nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO führen können, ergeben sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht.
a) Die Beschwerde meint, das Oberverwaltungsgericht habe seine Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verletzt, weil es für die zentrale und entscheidungserhebliche Frage, ob der nördliche Teil des Verteilgebietes dem Innen- oder Außenbereich angehöre, keinen Ortstermin durchgeführt habe. Das Vorbringen der Beschwerde lässt jedoch nicht erkennen, dass die dem Oberverwaltungsgericht vorliegenden Erkenntnisquellen für die bei der Abgrenzung von Innen- und Außenbereich vorzunehmende Bewertung der örtlichen Gegebenheiten nicht ausgereicht haben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt auch bei der Entscheidung über die Zugehörigkeit eines Grundstücks zum Innen- oder Außenbereich der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht Umfang und Art der Tatsachenermittlung nach pflichtgemäßen Ermessen bestimmt. Die Durchführung einer Ortsbesichtigung ist daher dann nicht notwendig, wenn für das Gericht aufgrund von Kartenmaterial, Fotos, Luftbildern oder auch von Schilderungen ortskundiger Verfahrensbeteiligter eine hinreichend sichere Beurteilungsgrundlage existiert (Urteil vom 14. November 1991 – BVerwG 4 C 1.91 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 236 S. 64 f., Beschluss vom 3. Dezember 2008 – BVerwG 4 BN 26.08 – BauR 2009, 617 Rn. 3, jeweils m.w.N). Ein mit Baustreitigkeiten erfahrenes Gericht wird regelmäßig in der Lage sein, die örtlichen Gegebenheiten allein mit Hilfe von Karten- und Bildmaterial beurteilen zu können (Beschluss vom 25. März 1992 – BVerwG 4 B 30.92 – juris Rn. 3). Gemessen hieran hat das Berufungsgericht seine Untersuchungspflicht nicht verletzt.
Ihm lag der Abrechnungsgebietsplan im Maßstab von 1: 625 vor, aus dem sich Lage und Größe der im Gebiet befindlichen Grundstücke ergeben. Ferner enthielt die Karte für jedes abgerechnete Grundstück Angaben darüber, ob und gegebenenfalls wie es bebaut ist (eingeschossig oder zweigeschossig). Schließlich konnte das Gericht auf ein Luftbild zurückgreifen, das das im nördlichen Teil des Verteilgebiets liegende Grundstück der Klägerin im Parallelverfahren BVerwG 9 B 11.14 und einen Teil der daran angrenzenden Grundstücke zeigte. Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht auf der Grundlage desselben Karten- und Fotomaterials zu einer anderen rechtlichen Einschätzung des Gebietscharakters gekommen ist, musste das Berufungsgericht nicht veranlassen, eine Ortsbesichtigung durchzuführen. Unterschiedliche Bewertungen der örtlichen Gegebenheiten durch zwei Tatsachengerichte lassen für sich genommen nicht den Schluss auf eine mangelnde Eignung der Beurteilungsgrundlagen zu. Dass die zweite Instanz auf der Grundlage des identischen Erkenntnismaterials zu einer anderen Einschätzung kommen kann als die Vorinstanz, liegt in der Natur eines mehrstufigen Rechtsschutzsystems; auch nach Durchführung eines Augenscheins in jeder Instanz kann eine abweichende Bewertung der örtlichen Gegebenheiten nicht ausgeschlossen werden. Um aus einer unterschiedlichen Einschätzung des Gebietscharakters durch zwei Tatsachengerichte auf einen Aufklärungsmangel zu schließen, müssen daher Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass – etwa wegen besonderer topographischer Verhältnisse oder Besonderheiten der vorhandenen Bebauung – ein zutreffender Eindruck der örtlichen Gegebenheiten ohne eine Augenscheinnahme vor Ort nicht gewonnen werden konnte. Dass hier solche Umstände gegeben sind, wird von der Beschwerde nicht dargetan und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der bloße Hinweis der Beschwerde auf eine Aussage einer Baulandkammer des Landgerichts Düsseldorf, der sich unmittelbar nichts für die Frage der Gebietseinordnung des hier interessierenden örtlichen Bereichs ergibt, stellt einen solchen Anhaltspunkt nicht dar.
b) Dahinstehen kann, ob das Berufungsgericht gehalten gewesen wäre, die Beteiligten hinsichtlich der beabsichtigten Entscheidung im Beschlussverfahren erneut anzuhören (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO), nachdem die Beklagte im Anschluss an die erste Anhörung vom 18. Oktober 2013 schriftsätzlich eine Beweisaufnahme durch Ortsbesichtigung beantragt hatte (Schriftsatz vom 4. November 2013, S. 5). Soweit in dem Unterlassen des Hinweises, dass das Oberverwaltungsgericht weiterhin im Beschlussweg zu entscheiden, mithin eine Beweiserhebung nicht durchzuführen beabsichtigte, ein Gehörsverstoß liegen sollte (vgl. Beschlüsse vom 2. März 2010 – BVerwG 6 B 72.09 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 80 Rn. 7 und vom 6. September 2011 – BVerwG 9 B 48.11 – Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 69 Rn. 10), hat die Beschwerde den darin liegenden Verfahrensfehler nicht gerügt. Unbeschadet dessen hätte im Übrigen das Oberverwaltungsgericht, wie sich aus der oben zu 1 a) zitierten Rechtsprechung ergibt, auch einen förmlichen Beweisantrag unter den dort genannten Voraussetzungen ablehnen können.
2. Die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) kommt der Rechtssache nicht zu.
Die Frage
„Ist ein Berufungsgericht bei der aus Anlass der Abgrenzung des Innenbereichs vom Außenbereich vorzunehmenden Wertung und Bewertung der örtlichen Gegebenheiten nach § 86 Abs. 1 VwGO jedenfalls dann zur Durchführung einer Ortsbesichtigung verpflichtet, wenn es in Erwägung zieht, die in Auswertung identischen Aktenmaterials ergangene diesbezügliche Einschätzung eines erstinstanzlichen Kollegialgerichts zu ändern?”
lässt sich aus den oben genannten Gründen unter Heranziehung der bereits bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens verneinend beantworten.
Die Frage
„Stellt es im Rahmen des § 125 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 1 Abs. 7 BauGB einen erheblichen Abwägungsmangel dar, wenn dem zuständigen Gemeindeorgan, das sich mit der Notwendigkeit eines Lärmschutzwalls und dem Schutzbedürfnis der Umgebung befasst hat, mit einem erheblichen zeitlichen Abstand von vielen Jahren im Nachhinein vorgehalten wird, es habe die – erstmals im Berufungsrechtszug vom Gericht entdeckte – Außenbereichslage eines Teils des Erschließungsgebietes nicht in seine Überlegungen einbezogen?”
rechtfertigt die Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung schon deswegen nicht, weil sie sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen würde. Die Frage betrifft nur eine von mehreren jeweils selbständig tragenden Begründungen, mit denen das Oberverwaltungsgericht eine den Anforderungen des § 1 Abs. 7 BauGB genügende Abwägung der öffentlichen und privaten Belange verneint hat. Denn das Oberverwaltungsgericht hat nicht nur darauf abgestellt, dass den Ratsmitgliedern nicht bewusst gewesen sei, dass es sich in dem Bereich unmittelbar südlich der Autobahn um eine Außenbereichslage handelt, sondern es hat unabhängig davon eine Lärmschutzanlage zum Schutz des Außenbereichs als unangemessen und deswegen abwägungsfehlerhaft angesehen. Danach wäre auch dann, wenn die Ratsmitglieder die Außenbereichslage in ihre Überlegungen einbezogen hätten, die Abwägungsentscheidung fehlerhaft gewesen. Bei einer solchen alternativen Begründung kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder der Begründungen ein Revisionsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (stRspr; vgl. etwa Beschluss vom 19. August 1997 – BVerwG 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26 S. 15). Das ist nicht der Fall, da die gegen die Bewertung als Außenbereichslage vorgebrachte Verfahrensrüge keinen Erfolg hat und der Rechtssache auch die insoweit geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung nicht zukommt.
Die Frage,
„auf welchen Zeitpunkt es für die Entstehung der (erschließungsbeitragsrechtlichen) Beitragspflicht ankommt, wenn ein Bebauungsplan für unwirksam erklärt wird und das Gebiet in nennenswertem Umfang zeitlich später auf der Grundlage von nach § 34 BauGB erteilten Genehmigungen bebaut wird”,
würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Das Oberverwaltungsgericht hat selbständig tragend das Fehlen einer Erschließungsbeitragspflicht für das Grundstück der Klägerin auch darauf gestützt, dass die Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 233 und das Nichtwiederaufleben des Bebauungsplans Nr. 232/II dazu führt, dass das Grundstück „aufgrund seiner Lage im Außenbereich” nicht zu Erschließungsbeiträgen herangezogen werden kann (Beschlussabdruck S. 14). Eine Einschränkung, dass sich die das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) zu der vorhandenen Bebauung nur auf das Jahr 2005 beziehen, ist dem Beschluss nicht zu entnehmen. Ausweislich der Wiedergabe des Vorbringens des Beklagten in den Beschlussgründen, hat dieser selbst eingeräumt, dass nur der südliche Teil des Verteilgebietes „nahezu geschlossen bebaut” sei, während im mittleren und vor allem im nördlichen Bereich noch „größere Teile unbebaut” seien (Beschlussabdruck S. 4). Feststellungen, die die Behauptung der Beschwerde stützen, dass das Gebiet inzwischen im hier allein interessierenden nördlichen Teil „vollgelaufen” sei, enthält das angegriffene Urteil nicht. Rechtsfragen, die sich in einem Revisionsverfahren erst auf der Grundlage von Tatsachen stellen könnten, welche von der Vorinstanz nicht festgestellt wurden, können grundsätzlich – und auch hier – die Zulassung der Revision nicht rechtfertigen (stRspr, vgl. nur Beschluss vom 17. März 2000 – BVerwG 8 B 287.99 – BVerwGE 111, 61 ≪62≫ = Buchholz 428 § 30a VermG Nr. 14).
Die Frage,
„ob überhaupt und bis zu welchem Zeitpunkt die nach § 125 Abs. 2 BauGB anstehende Abwägungsentscheidung der Gemeinde – unabhängig von der kommunalrechtlichen und damit landesrechtlichen Problematik der gemeindeinternen Zuständigkeit – noch nachgeholt werden kann”,
stellt sich ebenfalls nicht, da nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts die Gemeinde keine Abwägungsentscheidung nachgeholt hat und eine solche im Übrigen nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts angesichts der Außenbereichslage abwägungsfehlerhaft wäre.
Auch die Frage,
„ob bei Zugrundelegung eines erheblichen Abwägungsmangels (im Zusammenhang mit § 125 Abs. 2 BauGB) dieser Mangel wegen Zeitablaufs gemäß § 215 Abs. 1 Nr. 2 BauGB als unbeachtlich anzusehen wäre”,
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Sie lässt sich ohne Weiteres anhand des Gesetzeswortlauts beantworten. Danach sind die in der Vorschrift genannten Fehler unbeachtlich, wenn sie „nicht innerhalb eines Jahres seit Bekanntmachung des Flächennutzungsplans oder der Satzung” geltend gemacht werden. Damit knüpft die Vorschrift für den Beginn des Fristablaufs daran an, dass ein förmliches Planungsverfahren zum Abschluss gekommen und dies durch eine öffentliche Bekanntmachung für jedermann bekannt gegeben worden ist. Weder die eine noch die andere Voraussetzung muss bei § 125 Abs. 2 BauGB erfüllt sein.
3. Auch die Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) greift nicht durch.
Soweit die Beschwerde geltend macht, das Oberverwaltungsgericht weiche bezüglich der Anforderungen an eine Abwägungsentscheidung vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. November 2003 – BVerwG 9 C 2.03 – (Buchholz 406.11 § 125 BauGB Nr. 38) ab, erfüllt sie schon nicht die Anforderungen, die § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an die Darlegung eines solchen Zulassungsgrundes stellt. Denn eine Divergenz ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Vorschrift widersprochen hat. Dagegen genügt es nicht, eine bloß fehlerhafte oder unterbliebene Anwendung derartiger Rechtssätze des Bundesverwaltungsgerichts aufzuzeigen (stRspr; vgl. etwa Beschluss vom 19. August 1997 a.a.O. S. 14). Hierauf beschränkt sich die Beschwerde jedoch, wenn sie ausdrücklich und auch in der Sache selbst lediglich geltend macht, das Oberverwaltungsgericht habe die genannte Entscheidung zwar gesehen und sei von den dort niedergelegten Grundsätzen ausgegangen, habe diese jedoch nicht richtig angewandt bzw. falsch verstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Dr. Bier, Prof. Dr. Korbmacher, Dr. Bick
Fundstellen