Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 20.01.2023; Aktenzeichen 2 LB 212/21) |
VG Osnabrück (Entscheidung vom 21.06.2019; Aktenzeichen 7 A 456/16) |
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. Januar 2023 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I
Rz. 1
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung - wie sich aus den nachstehenden Gründen ergibt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO).
II
Rz. 2
Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) (1.) und auf Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) (2.) gestützte Beschwerde war zu verwerfen, weil ihre Begründung nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entspricht. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob die Nichtzulassungsbeschwerde auch deshalb unzulässig ist, weil der Kläger keine Wiedereinsetzung in die versäumte gesetzliche Frist für die Begründung der Beschwerde verlangen kann oder ob ihm eine solche Wiedereinsetzung zu gewähren wäre (§ 60 Abs. 1 VwGO vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Mai 2018 - 6 B 48.18 - juris Rn. 1).
Rz. 3
1. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Rz. 4
1.1 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n. F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.).
Rz. 5
1.2 Nach diesen Grundsätzen ist die Revision nicht wegen der Frage zuzulassen,
"Erreichen offenbar irreguläre, körperlich stark fordernde Arbeitsaufträge über mehrere Stunden, die von Soldaten an Jugendliche mutmaßlich anderer Religionszugehörigkeit gerade wegen dieser Abweichung erteilt werden, die Schwelle einer Verfolgungshandlung iSd. § 3a AsylG mit der Folge, dass in einem solchen Fall eine Vorverfolgung vor der Ausreise anzunehmen ist?"
Rz. 6
Denn die Frage zielt auf den konkreten Einzelfall, eine abstrakte Rechtsfrage von fallübergreifender Bedeutung wird nicht dargelegt. Die Beschwerde greift vielmehr lediglich die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts an, nach der der vom Kläger geschilderten zweimaligen Heranziehung zur körperlichen Arbeit - dem Tragen von Steinen und Sandsäcken über ein paar Stunden - für sich genommen kein entsprechendes Gewicht für eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG zukomme (BA S. 9). Im Übrigen ist auch die Entscheidungserheblichkeit der Frage nicht dargetan. Denn das Berufungsgericht weist ausdrücklich darauf hin, dass die Ausstellung eines Reisepasses im Oktober 2015, mit dem dem Kläger im Dezember 2015 die Ausreise in den Libanon auf legalem Weg gelungen sei, bestätige, dass er nicht im Fokus der syrischen Sicherheitsbehörden gestanden habe (BA S. 9).
Rz. 7
1.3 Die Revision ist auch nicht wegen der Rechtsfragen zuzulassen,
"Welche Anforderungen sind an die Annahme einer 'starken Vermutung' [vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19] für eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU (§ 3a Abs. 3 i.V.m. § 3b AsylG) genannten Verfolgungsgründe - sowie deren Widerlegung - zu stellen und welche Bedeutung kommt einer solchen 'starken Vermutung' im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zu?
bzw.
Ist im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 19.11.2020 - C-238/19 - mit einer starken Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU an einen der Verfolgungsgründe aus Art. 10 RL 2011/95/EU anknüpfen entweder hinsichtlich der Überzeugungsbildung gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder hinsichtlich der Verteilung der Beweislast im Bereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ein von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG schutzorientiert ein abweichender Maßstab dahingehend anzuwenden, dass eine Versagung der Flüchtlingseigenschaft gegen diese 'starke Vermutung' nur möglich ist, wenn diese nach Überzeugung des Tatrichters vollständig widerlegt ist, verbleibende Zweifel also zur Schutzgewährung führen ('benefit of doubt') bzw. die Last der Nichterweislichkeit oder eines Non-liquet der Beklagten zufällt und ist dieser für den Schutzsuchenden günstigere Maßstab neben der Feststellung der Konnexität auch bei der Feststellung der Gefahr der Verfolgungshandlung und des Bestehens des Verfolgungsgrundes anzulegen?",
weil deren Entscheidungserheblichkeit schon nicht dargelegt ist (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
Rz. 8
Ist die vorinstanzliche Entscheidung - wie hier - auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und vorliegt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Januar 2013 - 4 BN 18.12 - juris Rn. 2 und vom 17. September 2019 - 1 B 41.19, 1 PKH 20.19 - juris Rn. 7). Die Beschwerde setzt sich indessen nicht substantiiert damit auseinander, dass das Berufungsgericht seine Auffassung, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung liege auch unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor, nicht allein auf die fehlende Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund stützt. Vielmehr führt das Berufungsgericht ausdrücklich aus (BA S. 10), die Voraussetzungen seien "in zweifacher Hinsicht" nicht erfüllt, da der Senat "[z]um einen" - und insoweit selbstständig tragend - bereits nicht davon ausgehe, dass der Wehr- bzw. Reservedienst in der syrischen Armee Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fielen.
Rz. 9
Zur näheren Begründung seiner Einschätzung nimmt das Berufungsgericht zudem vollumfänglich Bezug unter anderem auf seine Urteile vom 22. April 2021 (- 2 LB 147/18 und 408/20 -). Nach den dortigen Ausführungen liegt eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor, weil nach dem aktuellen Stand des Konflikt- bzw. Kriegsgeschehens die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG im Falle des Wehr- bzw. Reservedienstes in der syrischen Armee nicht (mehr) als erfüllt anzusehen seien (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - S. 30 bis 34 bzw. juris Rn. 72 ff., ebenfalls unter ausdrücklichem Hinweis, dass die Anforderungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG "in zweifacher, die Entscheidung jeweils selbstständig tragender Weise" nicht als erfüllt anzusehen sind).
Rz. 10
Entgegen der Auffassung der Beschwerde bezieht sich die vom Gerichtshof der Europäischen Union postulierte "starke Vermutung" nicht auf die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG als solche; dass der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, ist deshalb unabhängig von einer Vermutung festzustellen.
Rz. 11
Die aufgeworfene Grundsatzfrage setzt indes das - vom Berufungsgericht gerade verneinte - Vorliegen einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG als gegeben voraus und bezieht sich allein auf die weitere, die Entscheidung ebenfalls selbstständig tragende ("Zum anderen", BA S. 10), Erwägung der fehlenden Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund (vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - S. 34 bzw. juris Rn. 80 "Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen [...]"). Entgegen der Annahme der Beschwerdebegründung lassen die Entscheidungsgründe des Berufungsbeschlusses nicht erkennen, dass das Oberverwaltungsgericht die Anforderungen an die nötige Überzeugungsgewissheit hinsichtlich der Verneinung des Vorliegens einer Verfolgungshandlung verfehlt.
Rz. 12
Unabhängig davon fehlt es auch insoweit an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit, weil das Berufungsgericht die (geänderten) tatsächlichen Verhältnisse (im Ergebnis abweichend von der Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - 3 B 109.18 - juris) dahin gewürdigt hat, dass die vom Gerichtshof der Europäischen Union postulierte "starke Vermutung" eines Konnexes von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund als widerlegt anzusehen sei (BA S. 11).
Rz. 13
Hierzu ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2023 - 1 C 22.21 - juris Rn. 46 ff.) geklärt, dass unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten "starken Vermutung" (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 [ECLI:EU:C:2020:945] - Rn. 57) dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 RL 2011/95/EU genannten Gründe in Zusammenhang steht, es bei einer Militärdienstverweigerung unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen hiernach im Sinne eines tatsächlichen Erfahrungssatzes naheliegt, dass die Militärdienstverweigerung mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht, insbesondere weil dem Antragsteller in dieser Situation durch den Verfolger eine oppositionelle Gesinnung zugeschrieben wird. Ob die Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art. 10 RL 2011/95/EU genannten Gründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU plausibel ist, steht aber unter dem Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung durch die nationalen Behörden und Gerichte in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände. Dem Unionsrecht und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lässt sich gerade nicht - schon gar nicht unabhängig von einer auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse sich ergebenen Veränderung der tatsächlichen Verfolgungslage - entnehmen, dass Personen, die den Militärdienst verweigern, allein deswegen bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu besorgen haben. Der Gerichtshof hat vielmehr lediglich die rechtlichen Maßstäbe entfaltet, nach denen die Gefahr von Verfolgungshandlungen sowie die Verknüpfung mit flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgründen zu prüfen und zu beurteilen sind. Diese Maßstäbe rechtfertigen es nicht, bei einem auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichteten Begehren und der dabei gebotenen tatsächlichen Prüfung aller relevanten Umstände mit Blick auf § 3a Abs. 3 AsylG vom Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugungsgewissheit nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO abzuweichen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2023 - 1 C 22.21 - juris Rn. 47 ff.).
Rz. 14
2. Ein Verfahrensfehler, der zur Zulassung der Revision führt (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), ist ebenfalls nicht im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet.
Rz. 15
2.1 Dies gilt zunächst, soweit die Beschwerde einen Verfahrensmangel in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) darin sieht, dass das Berufungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Beschlussverfahren gemäß § 130a VwGO entschieden hat.
Rz. 16
Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 11 m. w. N.). Mit dem Grad der Schwierigkeit der Rechtssache wächst auch das Gewicht der Gründe, die gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechen. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 12 m. w. N.). Stellt sich in einem Berufungsverfahren eine Vielzahl von ungeklärten Rechtsfragen und damit ein vielschichtiger Streitstoff, über den erstmalig zu befinden ist, spricht das für eine außergewöhnlich große Schwierigkeit. In einem Asylprozess kann sich die besondere Komplexität des Streitstoffs in tatsächlicher Hinsicht auch daraus ergeben, dass aufgrund veränderter Umstände erstmals eine neue Beurteilung der allgemeinen Lage im Heimatstaat des Betroffenen geboten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - NVwZ 2011, 629 ≪631≫).
Rz. 17
Daran gemessen ist nicht dargelegt, dass die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO hier ermessensfehlerhaft gewesen sei.
Rz. 18
a) Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a VwGO zulasten des Klägers zu entscheiden, mit Verfügung vom 24. August 2022 vorab gehört. Dabei hat es auf seine Rechtsprechung, insbesondere auf seine im April 2021 ergangenen Urteile sowie auf einen im Mai 2022 ergangenen Senatsbeschluss, Bezug genommen, nach denen syrischen Staatsangehörigen, die sich als Rekruten oder Reservisten durch Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, nicht aufgrund einer deshalb unterstellten oppositionellen Gesinnung politische Verfolgung durch den syrischen Staat drohe. Ebenso wenig sei mit der Ableistung des Wehrdienstes in der syrischen Armee für nach Syrien zurückkehrende Wehrpflichtige in der Regel eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an Kriegsverbrechen verbunden. An dieser Rechtsprechung halte das Berufungsgericht auch im Hinblick auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 23. März 2022 - 1 LB 484/21 - fest. Das Gericht hat zudem ausdrücklich mitgeteilt, es sei beabsichtigt, dem Berufungsbegehren der Beklagten zu entsprechen. Der Kläger ist mit Schriftsatz vom 16. September 2022 der Absicht des Berufungsgerichts, durch Beschluss nach § 130a VwGO zu entscheiden, zwar entgegengetreten, es bestand für das Berufungsgericht aber auch hiernach kein Anlass, von einer Entscheidung nach § 130a VwGO abzusehen oder seine Ermessensentscheidung zu ergänzen. Etwas anderes folgt insbesondere nicht daraus, dass die Beschwerde nunmehr geltend macht, das Berufungsgericht habe den Sachvortrag des Klägers zu seiner zweimaligen Heranziehung zu körperlicher Arbeit verkürzt und damit entstellend ausgelegt.
Rz. 19
Das Berufungsgericht hat den Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht nur in der oben erwähnten Verfügung vom 24. August 2022, sondern bereits zuvor mit Verfügung vom 22. April 2022 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass vom Kläger bislang zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht worden sei, dieser wolle weitere Fluchtgründe vortragen. Der Kläger habe bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt zudem erklärt, sonst keine Probleme gehabt zu haben; auch sei er legal unter Verwendung seines eigenen Reisepasses aus Syrien ausgereist. Eine Reaktion auf diese Hinweise ist nicht erfolgt. Auch der klägerische Schriftsatz vom 16. September 2022 enthält keine Ankündigung eines insofern beabsichtigten weiteren oder ergänzenden Vorbringens. Der allgemeine Hinweis, der Kläger habe auch im erstinstanzlichen Verfahren keine Gelegenheit gehabt, seine Sache persönlich vorzutragen, genügt hierfür nicht (vgl. hierzu auch unter d)). Vor diesem Hintergrund ist nicht dargelegt, dass das Berufungsgericht den Sachvortrag des Klägers verkürzt und entstellend ausgelegt habe, vielmehr hat es diesen ausdrücklich in seine tatrichterliche Würdigung einbezogen.
Rz. 20
Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss keine mündliche Verhandlung durchgeführt werden, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:EU:C:2017:591], Moussa Sacko - Rn. 47 m. w. N.). Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 - Nr. 22/1990/213/275, Helmers - NJW 1992, 1813).
Rz. 21
b) Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 15 m. w. N.). Davon unberührt bleibt, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen bei konventionskonformer Anwendung im Rahmen der Ermessensausübung nach § 130a VwGO vom Berufungsgericht - wie hier geschehen - zu berücksichtigen sind.
Rz. 22
c) Das nach nationalem Recht in konventionskonformer Auslegung eröffnete Ermessen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, war hier auch nicht mit Blick auf Unionsrecht eingeschränkt oder ausgeschlossen.
Rz. 23
Weder Art. 46 RL 2013/32/EU noch Art. 47 Abs. 1 und 2 GRC oder eine andere Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sehen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht zwingend vor. Jedenfalls dann, wenn das Gericht der Auffassung ist, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden ex-nunc-Prüfung des Rechtsbehelfs nach Art. 46 Abs. 3 RL 2013/32/EU allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen kann, kann es die Entscheidung treffen, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 16 m. w. N.). Davon ausgehend hat die Beschwerde keine Gründe aufgezeigt, aus denen das Berufungsgericht unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet gewesen wäre, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Rz. 24
d) Das Ermessen des Berufungsgerichts, im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO zu entscheiden, war auch nicht dadurch eingeschränkt, dass bereits die Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Zustimmung der Beteiligten (und damit ohne den Beteiligten die Möglichkeit des persönlichen Vortrages zu nehmen) ohne mündliche Verhandlung ergangen ist.
Rz. 25
Zwar verlangt die bei der Ermessensausübung zu beachtende Regelung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Wenn die Beteiligten in der ersten Instanz Gelegenheit zu einer mündlichen Verhandlung hatten und sie freiwillig und ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), steht dem Berufungsgericht die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO aber grundsätzlich offen. Auf die Gründe, aus denen ein Beteiligter von der ihm in erster Instanz jedenfalls eröffneten Möglichkeit, in einer mündlichen Verhandlung persönlich zur Sache vorzutragen, keinen Gebrauch gemacht hat, kommt es dabei nicht an (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 19 m. w. N.).
Rz. 26
e) Allein aus dem Hinweis des Klägers, dass eine schwierige, volatile und unklare Sach- und Rechtslage bestehe und daher vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tagesaktuelle Erkenntnisse heranzuziehen seien, folgt nicht die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Dass das Berufungsgericht von einer nicht hinreichend aktuellen Erkenntnislage ausgegangen sei, legt die Beschwerde nicht dar.
Rz. 27
2.2 Auch die Rüge, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO sei verletzt, weil die richterliche Überzeugungsbildung einschließlich der Sachverhalts- und Beweiswürdigung in nicht unionsrechtskonformer Weise erfolgt sei, legt einen Verfahrensfehler nicht dar.
Rz. 28
Denn Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind in aller Regel revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 ≪272≫ und Beschluss vom 4. Mai 2020 - 1 B 17.20 - juris Rn. 4). Ein einen Verfahrensfehler begründender Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung ("Überzeugungsgrundsatz") im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann ausnahmsweise insbesondere dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (BVerwG, Beschluss vom 25. April 2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 3 m. w. N.; ferner BVerwG, Beschlüsse vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 58 Rn. 20 und vom 5. Oktober 2021 - 1 B 63.21 - juris Rn. 9). Dies wird mit der der Sache nach allein erhobenen Rüge eines unzutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstabes nicht hinreichend geltend gemacht (vgl. zum Ganzen auch bereits BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 95.21 - juris Rn. 21 ff.).
Rz. 29
Unabhängig davon bezöge sich dieser Verfahrensfehler - seine im Übrigen hinreichend substantiierte Bezeichnung unterstellt - ebenfalls auf die Frage eines Zusammenhanges von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund und nicht auf die selbstständig tragende Verneinung einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.
Rz. 30
2.3 Soweit die Beschwerde darüber hinaus eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) und des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 Abs. 1 VwGO) geltend macht, weil der Kläger persönlich anzuhören gewesen wäre, um seine Beweggründe für die Entziehung von der Wehrpflicht zu ermitteln, verfehlt sie ebenfalls die Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Rz. 31
Die Beschwerde legt schon nicht dar, weshalb die aus ihrer Sicht aufklärungsbedürftige Motivation des Klägers für seine Wehrdienstentziehung nach der insoweit allein maßgeblichen materiell-rechtlichen Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblich sein und damit der angefochtene Beschluss im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auf dem vermeintlichen Verfahrensfehler beruhen könnte.
Rz. 32
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Dokument-Index HI15853082 |