Verfahrensgang
Hessischer VGH (Beschluss vom 25.01.2012; Aktenzeichen 1 A 2548/10) |
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Januar 2012 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 1 905 € festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hat keinen Erfolg.
Rz. 2
1. Die 1951 geborene Klägerin war beamtete Lehrerin im Dienste des beklagten Landes. Sie wurde mit Wirkung vom 1. August 2004 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Bei der Festsetzung ihres Ruhegehalts nahm der Beklagte den Versorgungsabschlag wegen Teilzeitbeschäftigung nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG a.F. vor, so dass sich ein entsprechend abgesenkter Ruhegehaltssatz ergab. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) stellte mit Urteil vom 23. Oktober 2003 – Rs. C-4/02 und C-5/02 Schönheit und Becker – (Slg. 2003 I-12575) fest, dass der Versorgungsabschlag gegen das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot verstößt. Die Klägerin beantragte im November 2007 u.a. im Hinblick auf dieses Urteil das Wiederaufgreifen des Verfahrens mit dem Ziel der Erhöhung ihres Ruhegehaltssatzes. Ihre Klage war in beiden Instanzen weitgehend erfolgreich.
Rz. 3
Der Verwaltungsgerichtshof hat im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe einen Anspruch auf Festsetzung des Ruhegehaltssatzes ohne Versorgungsabschlag. Mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG am 5. Oktober 2005 sei eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz eingetreten. Art. 3 und 6 der Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG entfalteten unmittelbare Wirkung, denn sie seien hinreichend bestimmt. Im Übrigen sei ihr Inhalt durch das erwähnte Urteil des EuGH und das unter Beachtung dieser Rechtsprechung des EuGH ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2005 – BVerwG 2 C 6.04 – (Buchholz 239.1 § 14 BeamtVG Nr. 10) vor Ablauf der Umsetzungsfrist weiter konkretisiert worden.
Rz. 4
2. Die Beschwerde des Beklagten sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in der Frage:
“Ist die Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl EG vom 5. Oktober 2002 L 269 S. 15 ff.) hinreichend genau bestimmt, um bei Nichtumsetzung durch den nationalen Gesetzgeber nach Ablauf ihrer Umsetzungsfrist unmittelbar Anwendung zu finden und dadurch eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HVwVfG herbeizuführen?”
Rz. 5
Der Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass die Rechtssache eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die bislang höchstrichterlich nicht geklärt ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf (Beschluss vom 2. Oktober 1961 – BVerwG 8 B 78.61 – BVerwGE 13, 90 ≪91≫ = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18; Beschluss vom 2. Februar 2011 – BVerwG 6 B 37.10 – Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 173 = NVwZ 2011, 507; stRspr).
Rz. 6
Der Senat hat in einem parallel gelagerten Fall mit Beschluss vom 12. Dezember 2012 (BVerwG 2 B 90.11, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung Buchholz vorgesehen) ausgeführt:
“a) Zwar steht der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage nicht entgegen, dass die Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG inzwischen durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 (BGBl I S. 1897) umgesetzt worden ist. Allerdings ist § 85 Abs. 4 Satz 2 BeamtVG, wonach der Ruhegehaltssatz denjenigen Ruhegehaltssatz nicht übersteigen darf, der sich nach dem bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Recht – und damit unter Berücksichtigung des Versorgungsabschlags – ergäbe, nicht an die unionsrechtliche Lage angepasst worden. Mangels vollständiger Umsetzung handelt es sich insoweit nicht um ausgelaufenes Recht, das die Zulassung der Revision nur ausnahmsweise rechtfertigen kann, nämlich dann, wenn es noch Bedeutung hat für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft (Beschlüsse vom 9. Dezember 1994 – BVerwG 11 PKH 28.94 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4 und vom 20. Dezember 1995 – BVerwG 6 B 35.95 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO Nr. 9 m.w.N.). Abgesehen davon läge ein solcher Ausnahmefall hier im Hinblick auf die hohe Zahl Betroffener auch vor.
b) Auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juni 2008 zur Nichtigerklärung des § 85 Abs. 4 Satz 2 BeamtVG i.V.m. § 14 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 und 3 BeamtVG a.F. wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (– 2 BvL 6/07 – BVerfGE 121, 241) lässt die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage nicht entfallen. Der Ausspruch der Nichtigkeit der Regelung über den Versorgungsabschlag führt zu einem Anspruch auf Erhöhung des Ruhegehaltssatzes nämlich erst ab dem auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts folgenden Monat, also ab dem 1. Juli 2008 (Urteil vom 25. Oktober 2012 – BVerwG 2 C 59.11 – ≪zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE und Buchholz vorgesehen≫), nicht aber ab dem vom Berufungsgericht angenommenen 5. Oktober 2005 als dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG.
c) Allerdings genügt die Beschwerde nicht den Darlegungserfordernissen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Die nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderliche Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine konkrete Frage des revisiblen Rechts bezeichnet und aufzeigt, dass diese Frage sowohl im konkreten Fall entscheidungserheblich als auch allgemein klärungsbedürftig ist. Aus der Beschwerdebegründung muss sich ergeben, dass eine die Berufungsentscheidung tragende rechtliche Erwägung des Berufungsgerichts im Interesse der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung der Nachprüfung in einem Revisionsverfahren bedarf. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn eine von der Beschwerde aufgeworfene Frage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann (stRspr; vgl. zuletzt Beschluss vom 6. Januar 2012 – BVerwG 2 B 113.11 – DÖD 2012, 104).
Die Beschwerdeschrift enthält keinerlei Ausführungen zu der als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Frage der für eine unmittelbare Anwendung erforderlichen hinreichenden Bestimmtheit der Richtlinie, insbesondere keine Auseinandersetzung mit den entsprechenden Ausführungen des Berufungsgerichts unter Darstellung der Rechtsprechung des EuGH. Das Berufungsgericht hat die in der ständigen Rechtsprechung des EuGH insoweit angelegten Maßstäbe herangezogen und die unmittelbare Anwendung der Richtlinie mit nachvollziehbaren Ausführungen bejaht. Die Beschwerdebegründung setzt sich damit nicht auseinander, sondern stellt lediglich das Ergebnis ohne Begründung in Frage. Das genügt nicht für die Zulassung der Revision.
d) Unabhängig davon bedarf es zur Klärung der von der Beschwerde aufgeworfenen Frage aber auch nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, weil sie sich so im Revisionsverfahren nicht stellen würde. Das Urteil des Berufungsgerichts stellt sich im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Deshalb kommt es nicht darauf an, ob die Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG hinreichend bestimmt war, um nach Ablauf der Umsetzungsfrist unmittelbar Anwendung zu finden, und ob dadurch eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HVwVfG herbeigeführt worden ist:
Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH können sich die Betroffenen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor dem nationalen Gericht gegenüber dem Staat gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unrichtig in nationales Recht umgesetzt hat. Eine Gemeinschaftsbestimmung ist unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung begründet, die weder an eine Bedingung geknüpft ist noch zu ihrer Erfüllung und Wirksamkeit einer Maßnahme der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf. Eine Bestimmung ist außerdem hinreichend genau, um von einem Betroffenen herangezogen und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet (EuGH, Urteile vom 19. Januar 1982 – Rs. C-8/81 Becker – Slg. 1982, 53 und vom 23. Februar 1994 – Rs. C-236/92 – Slg. 1994, 483 m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987 – 2 BvR 687/85 – BVerfGE 75, 223, 237 ff.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwiderlaufen, aufgehoben werden. Diese Regelung ist hinreichend genau und begründet eine unzweideutige Verpflichtung, § 14 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 und 3 BeamtVG a.F. i.V.m. § 85 Abs. 4 Satz 2 BeamtVG als diskriminierende Regelungen aufzuheben. Dies galt jedenfalls im Hinblick auf die Urteile des EuGH vom 23. Oktober 2003 (a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2005 – BVerwG 2 C 6.04 – (a.a.O.) und – BVerwG 2 C 14.04 – (Buchholz 239.1 § 14 BeamtVG Nr. 11).
Mit dem Urteil vom 23. Oktober 2003 (a.a.O.) hat der EuGH entschieden, dass eine Regelung, die wie der Versorgungsabschlag gemäß § 85 BeamtVG i.V.m. § 14 BeamtVG a.F. zu einer Minderung des Ruhegehalts derjenigen Beamten führen kann, die ihren Dienst zumindest während eines Teils ihrer Laufbahn als Teilzeitbeschäftigte ausgeübt haben, dann gegen den Grundsatz der Entgeltgleichheit verstößt, wenn diese Gruppe von Beamten erheblich mehr Frauen als Männer umfasst. Unter Beachtung dieser Rechtsprechung des EuGH hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteilen vom 25. Mai 2005 (a.a.O.) entschieden, dass aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots der Versorgungsabschlag für Zeiten ab dem 17. Mai 1990 bei der Anwendung der degressiven Ruhegehaltstabelle auf teilzeitbeschäftigte Beamte entfällt. Dabei hat es u.a. ausgeführt, dass ein Widerspruch zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht durch die mangelhafte Umsetzung einer Richtlinie dazu führe, dass sich der Betroffene gegenüber den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar auf die Richtlinie berufen könne, sofern diese klar und unbedingt sei und zu ihrer Anwendung keines Ausführungsaktes mehr bedürfe. Mit diesen Urteilen des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts war der Inhalt der Umsetzungsverpflichtung, nämlich die Aufhebung der Regelung über den Versorgungsabschlag in § 14 BeamtVG, eindeutig bestimmt.
Bei dieser Sachlage war in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG am 5. Oktober 2005 das behördliche Ermessen nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 HVwVfG bei Wiederaufgreifensanträgen auf Neufestsetzung eines Ruhegehaltssatzes ohne Versorgungsabschlag zugunsten der dies beantragenden Beamten auf Null reduziert. Das von § 48 Abs. 1 HVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen musste sich für den Zeitraum ab dem 5. Oktober 2005 nach den eindeutigen Urteilen des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts an der Rechtslage orientieren, die sich aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ergab. Dementsprechend hat der Senat im Urteil vom 25. Oktober 2012 – BVerwG 2 C 59.11 – (≪zur Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen BVerwGE und Buchholz vorgesehen≫) entschieden, dass die Urteile des EuGH vom 23. Oktober 2003 (a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2005 (a.a.O.) Anlass für die Prüfung geben mussten, ob die Ruhegehaltssätze der Beamten mit Teilzeitbeschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 an die unionsrechtliche Lage anzupassen, d.h. zu erhöhen, waren.
Es ließe sich nicht mit dem Grundsatz der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts vereinbaren, wenn unter Berufung auf die Unanfechtbarkeit des Versorgungsfestsetzungsbescheids der Anwendungsvorrang des Unionsrechts auf Dauer unberücksichtigt bliebe. Dem steht bereits entgegen, dass der Versorgungsanspruch des Ruhestandsbeamten den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 33 Abs. 5 GG genießt, weil er in der aktiven Dienstzeit erdient worden ist (Urteile vom 27. Januar 2011 – BVerwG 2 C 25.09 – Buchholz 449. § 55b SVG Nr. 1 Rn. 22 und vom 25. Oktober 2012 a.a.O. Rn. 29). Insoweit gelten für den Zeitraum ab Geltung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nach Ablauf einer Umsetzungsfrist für eine entsprechende Richtlinie dieselben Grundsätze wie ab dem Zeitpunkt der Nichtigerklärung der Vorschriften über den Versorgungsabschlag durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. zu Letzterem ausführlich: Urteil vom 25. Oktober 2012 a.a.O. Rn. 20 ff.).”
Rz. 7
Diese Ausführungen gelten in gleicher Weise für die Beschwerde in diesem Verfahren.
Rz. 8
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Domgörgen, Dr. von der Weiden, Thomsen
Fundstellen