Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtsvollzieher. Bürokosten. Kostenabgeltung. Aufwandsentschädigung. Vergütungscharakter. Arbeitsentgelt. Altfall. Rückwirkung. Vertrauensschutz. vorläufige Festsetzung. effektiver Rechtsschutz. Normenkontrollverfahren. mündliche Verhandlung. beamtenrechtliche Streitigkeit. zivilrechtlicher Anspruch. Vorlagepflicht. Rechtsmittelverzicht
Leitsatz (amtlich)
Beamtenrechtliche Streitigkeiten, für die die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes nicht ausgeschlossen worden ist, unterliegen dem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK als zivilrechtlicher Anspruch.
Normenkette
AEUV Art. 157 Abs. 2, Art. 267 Abs. 3; EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1; VwGO § 47 Abs. 5 S. 1; BBesG a.F. § 49 Abs. 3
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 17.12.2012; Aktenzeichen 3 N 08.618) |
Tenor
Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Dezember 2012 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
1. Der Antragsteller steht als Obergerichtsvollzieher im Dienst des Antragsgegners. Sein Normenkontrollantrag richtet sich gegen diejenigen Bestimmungen der bayerischen Verordnung zur Abgeltung der Bürokosten der Gerichtsvollzieher für die Jahre 2001 bis 2003 vom 21. August 2007 (– GVBEntschV 2001-2003 – GVBl S. 630), die eine Rückwirkung auf die noch nicht bestandskräftig festgesetzte Bürokostenentschädigung vorsehen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die angegriffene Rechtsverordnung genüge den Anforderungen für die Rechtmäßigkeit rückwirkender Normen. Zum einen sei eine rechtsbeständige endgültige Festsetzung, die ein Vertrauen der betroffenen Gerichtsvollzieher hätte begründen können, nie erfolgt; vielmehr sei auch nach alter Rechtslage stets eine rückwirkende Festsetzung vorgesehen gewesen. Zum anderen habe die Verordnung keine Rückwirkung für bestandskräftige Festsetzungen vorgesehen. Da diese Regelung denjenigen Gerichtsvollziehern, die Rechtsbehelfe gegen die entsprechenden Festsetzungsbescheide eingelegt hatten, im Vorfeld angekündigt und eine Rücknahmemöglichkeit eingeräumt worden sei, habe damit im Ergebnis für jeden Betroffenen eine Möglichkeit bestanden, die Altfälle unter Vertrauensschutz zu stellen. Dass der Antragsteller – in Kenntnis der damit verbundenen Risiken – hiervon keinen Gebrauch gemacht habe, sei seine eigene Entscheidung gewesen. Auf Vertrauensschutz könne er sich daher nicht berufen.
2. Auf die Beschwerde des Antragstellers ist der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Der Normenkontrollbeschluss beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil der Verwaltungsgerichtshof über den Antrag ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO entschieden hat. Das Normenkontrollgericht hätte aufgrund von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (– EMRK – BGBl 1952 II S. 686) nur nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung über den Normenkontrollantrag des Antragstellers entscheiden dürfen.
Nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht (und damit auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof: § 184 VwGO i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayAGVwGO) durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss. Darüber, ob eine mündliche Verhandlung entbehrlich ist, befindet es nach richterlichem Ermessen (Beschluss vom 20. Dezember 1988 – BVerwG 7 NB 3.88 – BVerwGE 81, 139 ≪143≫). Dieses Verfahrensermessen wird jedoch durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK eingeschränkt (Urteil vom 16. Dezember 1999 – BVerwG 4 CN 9.98 – BVerwGE 110, 203 ≪205 f.≫). Danach hat jedermann ein Recht darauf, dass in Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen öffentlich verhandelt wird.
Es ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geklärt, dass beamtenrechtliche Streitigkeiten dem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK als zivilrechtlicher Anspruch unterliegen, soweit der Konventionsstaat hierfür nicht ausnahmsweise die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes ausgeschlossen hat und ausschließen durfte (grundlegend Urteil vom 19. April 2007 – Nr. 63235/00, Eskelinen u.a./Finnland – Rn. 50 ff., 62 sowie nachfolgend Urteile vom 16. Juli 2009 – Nr. 8453/04, Bayer/Deutschland – NVwZ 2010, 1015 Rn. 37 und vom 13. Januar 2011 – Nr. 32715/06, Köhler/Deutschland – NJW 2011, 3703 Rn. 45; hierzu auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Oktober 2011 – 2 BvR 754/10 – ThürVBl 2012, 51 Rn. 17 sowie BVerwG, Beschluss vom 3. Dezember 2012 – BVerwG 2 B 32.12 – juris Rn. 6). Da dem Antragsteller für sein Begehren die Möglichkeit des Normenkontrollantrags nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO offenstand, ist sein Rechtsstreit daher auch zivilrechtlicher Natur im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Er hat damit Anspruch darauf, dass über sein Begehren öffentlich verhandelt wird.
Eine Ausnahmesituation, in der ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte gerechtfertigt werden können, lag nicht vor. Weder hat der Antragsteller auf eine öffentliche Verhandlung verzichtet noch ist das Rechtsschutzbegehren als offensichtlich unzulässig eingestuft worden. Aus dem Zusammenwirken von § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK folgt daher, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht ohne Durchführung einer öffentlichen Verhandlung hätte entscheiden dürfen.
Auf diesem Fehler kann die angegriffene Entscheidung auch beruhen, ohne dass es darauf ankommt, was der Antragsteller in der öffentlichen Verhandlung noch hätte vortragen wollen und ob dies erheblich gewesen wäre (sog. „absoluter Revisionsgrund”, vgl. hierzu Urteil vom 16. Dezember 1999 – BVerwG 4 CN 9.98 – BVerwGE 110, 203 ≪215≫). Die Sache ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur mündlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
3. Ein (weiterer) Verfahrensfehler liegt nicht darin, dass der Verwaltungsgerichtshof eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) unterlassen hat.
Eine Vorlagepflicht besteht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nur für ein Gericht, dessen Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann. Ein Rechtsmittel in diesem Sinne stellt jedenfalls hinsichtlich revisiblen Rechts auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision dar (stRspr; vgl. Beschluss vom 14. Dezember 1992 – BVerwG 5 B 72.92 – NVwZ 1993, 770 m.w.N.; hierzu auch EuGH, Urteil vom 4. Juni 2002 – C-99/00, Lyckeskog – Slg. 2002, I-4839). Der Verwaltungsgerichtshof war daher bereits formal nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet.
Unabhängig hiervon stellt die Abgeltung der Kosten eines Gerichtsvollzieherbüros auch kein Arbeitsentgelt im Sinne des Art. 157 Abs. 1 AEUV dar. Zwar ist der Begriff des Arbeitsentgelts in der Rechtsprechung des EuGH denkbar weit gefasst worden (vgl. zuletzt etwa Urteil vom 6. Dezember 2012 – C-124/11 u.a., Dittrich u.a. – NVwZ 2013, 132 Rn. 35). Anknüpfungspunkt bleibt gemäß Art. 157 Abs. 2 AEUV indes stets der Vergütungscharakter der gewährten Leistung. Die Abgeltung der Kosten eines Gerichtsvollzieherbüros stellt aber keine Vergütung in diesem Sinne dar (Urteil vom 19. August 2004 – BVerwG 2 C 41.03 – NVwZ-RR 2005, 214 Rn. 12; vgl. zum fehlenden Bezügecharakter auch Beschluss vom 11. Juni 2009 – BVerwG 2 B 82.08 – juris Rn. 5).
Nach § 49 Abs. 3 Satz 1 BBesG in der bis zum 11. Februar 2009 gültigen Fassung waren die Landesregierungen ermächtigt – und nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch verpflichtet (Urteil vom 4. Juli 2002 – BVerwG 2 C 13.01 – Buchholz 240 § 49 BBesG Nr. 2 Rn. 21) –, durch Rechtsverordnung die Abgeltung der den Gerichtsvollziehern für die Verpflichtung zur Einrichtung und Unterhaltung eines Büros entstehenden Kosten zu regeln. Den Gerichtsvollziehern soll nicht zugemutet werden, Kosten selbst zu übernehmen, die ihnen zwangsläufig aufgrund dienstlicher Verpflichtungen entstehen und die andere Beamte gleichen Amtes nicht zu tragen haben. Mit der Kostenabgeltung wird sichergestellt, dass Gerichtsvollzieher ihre Alimentation ungeschmälert erhalten und die zur Bestreitung des Lebensunterhalts gewährten Bezüge nicht zur Deckung ihrer Bürokosten einsetzen müssen. Die Ausgestaltung dieser Aufwandsentschädigung darf indes nicht dazu führen, dass den Gerichtsvollziehern eine zusätzliche Alimentation gewährt wird. Fiktive Aufwandsentschädigungen, denen kein tatsächlich entstandener Aufwand zugrunde liegt, sind vom Bundesverwaltungsgericht daher beanstandet worden (Urteil vom 19. August 2004 a.a.O. Rn. 16). Zur Festlegung der Entschädigung ist der Dienstherr verpflichtet, den jährlichen Sach- und Personalkostenaufwand aktuell und realitätsnah zu ermitteln (Beschluss vom 12. Dezember 2011 – BVerwG 2 B 39.11 – juris Rn. 5). Dadurch ist sichergestellt, dass der Kostenabgeltung kein Vergütungscharakter zukommt. Damit stellt sie auch kein Arbeitsentgelt im Sinne des Art. 157 Abs. 1 AEUV dar.
Da der Antragsteller nicht teilzeitbeschäftigt und von der hierauf bezogenen Rechtsverordnung nicht betroffen ist, sind die diesbezüglich aufgeworfenen Fragen nicht entscheidungserheblich (ebenso bereits Beschluss vom 18. April 2006 – BVerwG 2 BN 1.05 – juris Rn. 9). Im Übrigen sind der Beschwerde weder Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass teilzeitbeschäftigte Gerichtsvollzieher stärker von der Umstellung des Systems der Bürokostenentschädigung belastet sein könnten, noch dass hiervon insbesondere Frauen betroffen wären. Die in § 3 Abs. 1 Satz 2 GVBEntschV 2001-2003 getroffene Regelung, die eine Verminderung des Höchstbetrags an den entsprechenden Beschäftigungsumfang knüpft, dürfte schließlich dem unionsrechtlichen pro-rata-temporis Grundsatz entsprechen (vgl. hierzu etwa zuletzt Urteil vom 24. September 2013 – BVerwG 2 C 52.11 – NVwZ-RR 2014, 274 Rn. 21 ff.).
4. Die Beschwerde hat auch keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass § 49 Abs. 3 BBesG a.F. kein bestimmtes Modell der Kostenabgeltung vorgibt und dem Verordnungsgeber daher grundsätzlich auch die Möglichkeit eröffnet, die Kosten rückwirkend zu ermitteln. Die Zulässigkeit einer rückwirkenden Entschädigungsregelung ist daher nach den allgemeinen von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zum Verbot rückwirkender Regelungen zu beantworten (Beschlüsse vom 4. Dezember 2006 – BVerwG 2 B 23.06 – juris Rn. 8 und vom 13. Dezember 2006 – BVerwG 2 B 70.06 – juris Rn. 4). Der erkennende Senat hat auch bereits klargestellt, dass ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot nicht vorliegt, wenn ein Gerichtsvollzieher mit einer rückwirkenden Änderung der vorläufigen Festsetzung rechnen musste, etwa weil die tatsächlichen Grundlagen für die endgültige Bewertung der Entschädigung erst nach Abschluss des Jahres ermittelt werden können (Urteil vom 26. Januar 2010 – BVerwG 2 C 7.08 – Buchholz 237.21 § 55 BrbgLBG Nr. 1 Rn. 21).
Diese – grundsätzliche – Einordnung stellt die Beschwerde nicht in Frage, sie zeigt insoweit auch keinen neuen Klärungsbedarf auf. Sie wendet sich in der Sache vielmehr gegen die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, Vertrauensschutz habe im vorliegenden Fall wegen der Vorläufigkeit der Festsetzungen trotz des langen Rückwirkungszeitraums von fast sechs Jahren nicht entstehen können; insoweit moniert der Antragsteller insbesondere, die Vorläufigkeit habe sich (in der Praxis) allenfalls auf den Prozentsatz der Entschädigung bezogen, nicht aber auf den Berechnungsmodus. Diese gegen die Richtigkeit der Rechtsanwendung im Einzelfall erhobenen und zudem von einer vom Verwaltungsgerichtshof nicht festgestellten Verwaltungspraxis ausgehenden Einwände vermögen eine Grundsatzrüge nicht zu tragen.
5. Soweit die Beschwerde anführt, dass nach der Rechtslage in Sachsen eine rückwirkende Neufestsetzung der Bürokostenentschädigung der Gerichtsvollzieher nur innerhalb des laufenden Kalenderjahres zulässig ist (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 9. Dezember 2005 – 2 D 7/04 – DGVZ 2006, 8 Rn. 42), ist bereits durch das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass damit eine Zulassung der Revision wegen § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 127 Nr. 1 BBRG (Abweichung der Berufungsentscheidung von der Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts) nicht erreicht werden kann (vgl. Beschlüsse vom 4. Dezember 2006 – BVerwG 2 B 23.06 – Rn. 13 f. und vom 13. Dezember 2006 – BVerwG 2 B 70.06 – Rn. 14 f.).
6. Im Rahmen der erneuten Befassung mit dem Normenkontrollantrag und der nun durchzuführenden mündlichen Verhandlung wird der Verwaltungsgerichtshof indes Gelegenheit haben, sich mit der Argumentation des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts zur (immerhin wohl vergleichbaren) Rechtslage in Sachsen auseinanderzusetzen.
Entsprechendes gilt für den Einwand der Beschwerde, die Gewährung von Vertrauensschutz dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, dass der Betroffene sein Rechtsmittel gegen ergangene Festsetzungsbescheide zur Bürokostenentschädigung zurücknimmt, weil hiermit die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen die Festsetzung auf Basis der alten Rechtslage vereitelt werde; zu der insoweit von der Beschwerde behaupteten Verwaltungspraxis des Antragsgegners fehlt es bislang an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen.
7. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Festsetzung eines Streitwerts bedarf es nicht, weil für eine erfolgreiche Beschwerde über die Nichtzulassung der Revision Gerichtsgebühren nicht anfallen (vgl. § 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5500 ff. des Kostenverzeichnisses Anlage 1 zum GKG).
Unterschriften
Domgörgen, Dr. Kenntner, Dollinger
Fundstellen
Haufe-Index 7215074 |
VR 2014, 431 |