Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwaltungsgerichtliche Kontrolle einer Ausweisung. Erkenntnisse des Verfassungsschutzes. Verpflichtung zur Aktenvorlage. Sperrerklärung der obersten Aufsichtsbehörde. Ausübung des Vorlageermessens. Zuständigkeit des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts. Wahrung des rechtlichen Gehörs. Verwertung von als geheim bezeichneten Behördenschriftsätzen
Leitsatz (amtlich)
Zuständig für die Überprüfung der Sperrerklärung, die in einem Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht von einer obersten Aufsichtsbehörde abgegeben wird, ist der Fachsenat des im Instanzenzug übergeordneten Oberverwaltungsgerichts. Ob es sich um die oberste Aufsichtsbehörde eines anderen Bundeslandes handelt, ist für die Zuständigkeit des Fachsenats ohne Bedeutung.
Die Berücksichtigung von Schriftsätzen einer Behörde, die von ihr als geheimhaltungsbedürftig bezeichnet und nur zur Kenntnisnahme für das Gericht übersandt werden, verstößt gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs, das auch im Zwischenverfahren nach § 99 Abs 2 VwGO gilt. Solche Schriftsätze gehören weder zu den Gerichtsakten, auf die sich das Einsichtsrecht des Klägers erstreckt, noch zu den Verwaltungsakten, deren Vorlage mit der Sperrerklärung verweigert wird. Sie müssen mit Eingang an die Behörde zurückgesandt werden.
Normenkette
VwGO § 99
Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 17.06.2009; Aktenzeichen 95 A 7.08) |
Tenor
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 17. Juni 2009 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Verweigerung der Aktenvorlage durch die Beigeladene rechtswidrig ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Zwischenverfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Tatbestand
I
Rz. 1
Der Kläger wendet sich mit der diesem Zwischenverfahren zugrunde liegenden Klage gegen seine auf § 55 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG gestützte Ausweisung, die der Beklagte mit Erkenntnissen über den Inhalt von Predigten des Klägers in Rostock und Berlin begründet hat. Diese Erkenntnisse waren der Ausländerbehörde des Beklagten von der beigeladenen Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz, des Beklagten mitgeteilt worden. Soweit es die Vorgänge in Rostock betrifft, war die Beigeladene hierüber durch die Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns informiert worden. Das Gericht der Hauptsache gab dem Beklagten mit Anordnung des Berichterstatters vom 20. Juli 2007 auf, die Verwaltungsvorgänge vorzulegen, aus denen sich die von der Beigeladenen mitgeteilten Informationen ergeben. Die Beigeladene verweigerte die Aktenvorlage mit Sperrerklärung vom 25. September 2007 im Wesentlichen aus Gründen des Quellenschutzes und legte ein an die Ausländerbehörde gerichtetes “Behördenzeugnis” vom 4. September 2007 sowie ein “Behördenzeugnis” vom 31. August 2007 des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern vor, in denen die Richtigkeit der über den Kläger mitgeteilten Informationen und der Geheimhaltungsgründe erklärt wird. Das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern reichte unter Bezugnahme auf die gerichtliche Anordnung vom 20. Juli 2007 ebenfalls eine Sperrerklärung zu den Gerichtsakten. Nachdem der Kläger am 21. November 2007 einen Antrag nach § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO gestellt und am 2. Juli 2008 um Bearbeitung gebeten hatte, erließ das Gericht der Hauptsache am 18. August 2008 einen Beschluss, wonach über die dem Kläger vorgeworfenen Äußerungen durch Einsichtnahme in die betreffenden Akten der Beigeladenen und der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns Beweis erhoben werden soll; sodann legte es die Sache dem Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts vor. Im Zwischenverfahren reichte die Beigeladene bei dem Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts die geheim gehaltene Akte mit den von ihr über den Kläger gewonnenen Erkenntnissen ein, außerdem weitere ebenfalls als geheimhaltungsbedürftig bezeichnete Schriftstücke – unter anderem einen Vermerk vom 28. Oktober 2008 –, mit denen für den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts die Geheimhaltungsbedürftigkeit der gesperrten Akte und die Ermessensbetätigung bei Abgabe der Sperrerklärung dokumentiert werden sollten. Der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts nahm diese weiteren Unterlagen zu der geheim gehaltenen Akte. Mit Beschluss vom 17. Juni 2009 stellte er fest, dass die Verweigerung der Aktenvorlage durch die Beigeladene rechtmäßig sei. Es könne dahinstehen, ob der Antrag auch hinsichtlich der nicht der alleinigen Verfügungsbefugnis der Beigeladenen unterliegenden Akten der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns zulässig wäre; denn er erfasse diese Akten nicht, sondern nehme Bezug auf die Anordnung des Hauptsachegerichts vom 20. Juli 2007, die ausschließlich die dem Beklagten von der Beigeladenen mitgeteilten Umstände betreffe. Die Vorlageverweigerung sei aus den von der Beigeladenen angeführten Geheimhaltungsgründen rechtmäßig. Das Ermessen sei ausweislich der Sperrerklärung und des Vermerks vom 28. Oktober 2008 ordnungsgemäß ausgeübt worden. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Klägers, die er nicht näher begründet hat.
Entscheidungsgründe
II
Rz. 2
Die Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses sowie der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verweigerung der Aktenvorlage durch die Beigeladene.
Rz. 3
1. Gegenstand der Überprüfung im Zwischenverfahren ist nur die Verweigerung der Aktenvorlage durch die Beigeladene, nicht hingegen die von der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns zu den Akten gereichte Sperrerklärung. Zwar stünde einer Überprüfung dieser Sperrerklärung durch den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts nicht entgegen, dass sie von der Behörde eines anderen Bundeslandes stammt. Dieser Umstand begründete nicht etwa – wie allerdings der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts noch in seiner Eingangsverfügung angenommen hat – die Zuständigkeit des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts jenes Bundeslandes. Mit dem Oberverwaltungsgericht im Sinne des § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist, soweit die Hauptsache vor einem Verwaltungsgericht anhängig ist, stets das im Instanzenzug übergeordnete Oberverwaltungsgericht gemeint, und zwar unabhängig davon, welche Behörde vom Hauptsachegericht zu einer Aktenvorlage verpflichtet wird und welche oberste Aufsichtsbehörde die Aktenvorlage verweigert (sofern es sich nicht um einen Fall des § 99 Abs. 2 Satz 2 VwGO handelt). Da die Verpflichtung zur Vorlage von Akten nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht nur die Behörden betrifft, die dem am Verfahren beteiligten Rechtsträger angehören oder die selbst am Verfahren beteiligt sind, sondern alle Behörden von Bund, Ländern und Gemeinden sowie sonstiger Rechtsträger des öffentlichen Rechts, kann es sich ergeben, dass der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts die Sperrerklärung der obersten Aufsichtsbehörde eines anderes Bundeslandes zu überprüfen hat.
Rz. 4
Gleichwohl ist die Sperrerklärung der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns im vorliegenden Zwischenverfahren nicht Gegenstand der Überprüfung. Denn diese Sperrerklärung ist nicht auf eine gerichtliche Aktenanforderung hin, sondern ersichtlich nur vorsorglich und – wie sich aus dem Schreiben des Beklagten vom 20. August 2007 ergibt – auf Betreiben des Beklagten anlässlich der allein an ihn und nicht zugleich auch an die Verfassungsschutzbehörde eines anderen Landes gerichteten Anordnung vom 20. Juli 2007 abgegeben worden. Unter diesen Umständen ist es nicht zu beanstanden, dass der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts davon ausgegangen ist, dass sich der Antrag des Klägers nach § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO nur auf die von dem Gericht der Hauptsache mit Anordnung vom 20. Juli 2007 getroffene Aufforderung an den Beklagten zur Vorlage der den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beigeladenen und deren daraufhin ergangene Sperrerklärung vom 25. September 2007 bezieht, und dass er davon abgesehen hat, das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern beizuladen. Es kann danach dahinstehen, ob der später gefasste Beweisbeschluss, in dem das Hauptsachegericht neben der Beigeladenen auch die Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns aufgefordert hat, die den Kläger betreffenden Akten vorzulegen, überhaupt dieser Behörde gegenüber wirksam geworden ist; nach Aktenlage ist ihr der Beschluss bislang nicht mitgeteilt worden.
Rz. 5
2. Die Verweigerung der Aktenvorlage durch die Beigeladene ist rechtswidrig.
Rz. 6
Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden oder Akten und zu Auskünften an das Gericht verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden des Inhalts dieser Urkunden, Akten oder Auskünfte dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der Urkunden oder Akten oder die Erteilung der Auskünfte verweigern (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die Sperrerklärung der Beigeladenen vom 25. September 2007 genügt den sich hieraus ergebenden Anforderungen an eine Entscheidung über die Verweigerung der Aktenvorlage nicht.
Rz. 7
a) Unschädlich ist allerdings, dass die Beigeladene die Sperrerklärung bereits vor Erlass des Beweisbeschlusses vom 18. August 2008 – auf die gerichtliche Anordnung des Berichterstatters vom 20. Juli 2007 hin – abgegeben hat. Zwar genügt eine vor förmlicher Klärung der Entscheidungserheblichkeit des Akteninhalts durch das gesamte Hauptsachegericht ergangene Ermessensentscheidung der obersten Aufsichtsbehörde grundsätzlich nicht den Anforderungen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Das Erfordernis der förmlichen Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit vor Abgabe an den Fachsenat gewährleistet, dass die oberste Aufsichtsbehörde auf dieser Grundlage in die gesetzlich geforderte Ermessensabwägung eintreten kann (Beschluss vom 24. August 2009 – BVerwG 20 F 2.09 – juris Rn. 3). Das Gericht der Hauptsache hatte hier jedoch bereits mit der durch den Beweisbeschluss bestätigten Anordnung vom 20. Juli 2007 deutlich gemacht, dass es die angeforderten Unterlagen für entscheidungserheblich hält. Daher ist nicht zu beanstanden, dass es die Beigeladene nach Erlass des Beweisbeschlusses nicht erneut zur Abgabe einer Sperrerklärung aufgefordert, sondern die Sache dem Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts vorgelegt hat. Abgesehen davon ist eine förmliche Äußerung des Hauptsachegerichts zur Klärung der Entscheidungserheblichkeit des Akteninhalts ausnahmsweise entbehrlich, wenn die zurückgehaltenen Unterlagen zweifelsfrei rechtserheblich sind (stRspr, vgl. nur Beschluss vom 24. August 2009 a.a.O. Rn. 4 m.w.N.). Wie der Senat bereits entschieden hat, ist eine förmliche Äußerung zur Entscheidungserheblichkeit in Streitigkeiten um eine Einbürgerung entbehrlich, weil es offensichtlich ist, dass nur mit Hilfe der zurückgehaltenen Unterlagen geklärt werden kann, ob die Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörde die darauf gestützte Ablehnung der Einbürgerung rechtfertigen (Beschlüsse vom 4. Mai 2006 – BVerwG 20 F 3.05 – und vom 3. März 2009 – BVerwG 20 F 9.08 – juris Rn. 6). Für eine auf Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörde gestützte Ausweisung gilt nichts anderes.
Rz. 8
b) Die Sperrerklärung der Beigeladenen leidet bereits daran, dass sie die Berechtigung der geltend gemachten Geheimhaltungsgründe nicht hinreichend erkennen lässt.
Rz. 9
Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem Wohl des betroffenen Landes oder dem Bund Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1999 – 1 BvR 385/90 – BVerfGE 101, 106 ≪127 f.≫; BVerwG, Beschluss vom 7. November 2002 – BVerwG 2 AV 2.02 – NVwZ 2003, 347 ≪348≫), das eine Verweigerung der Vorlage gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen kann. Ein Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (Beschlüsse vom 29. Juli 2002 – BVerwG 2 AV 1.02 – BVerwGE 117, 8 = Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 27, vom 25. Februar 2008 – BVerwG 20 F 43.07 – juris Rn. 10, vom 5. Februar 2009 – BVerwG 20 F 24.08 – juris Rn. 4, vom 3. März 2009 a.a.O. Rn. 7 und vom 2. Juli 2009 – BVerwG 20 F 4.09 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 54 Rn. 8).
Rz. 10
Der Senat vermag auf der Grundlage der Sperrerklärung nicht zu erkennen, dass diese Geheimhaltungsgründe eine generelle Verweigerung der Aktenvorlage rechtfertigen können. Die Beigeladene hat ohne nähere Differenzierung darauf abgestellt, dass der gesamte Akteninhalt zurückgehalten werden müsse, weil es sich um Erkenntnisse handele, die ausschließlich auf Quellenangaben beruhten und nur einem sehr eng begrenzten Personenkreis bekannt seien; eine Offenlegung begründe eine beträchtliche Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit der Quellen und ihrer Angehörigen. Diese Begründung vermag eine den gesamten Akteninhalt erfassende Vorlageverweigerung nicht zu erklären. Die Akte enthält Quellenberichte über verschiedene Äußerungen des Klägers in einer muslimischen Versammlungsstätte in Berlin. Diese Umstände hat die Beigeladene bereits gegenüber dem Beklagten – konkretisiert nach Datum und Inhalt der Äußerungen – offenbart; sie hat deren Richtigkeit ferner in dem vorgelegten Behördenzeugnis bestätigt. Es ist also ohnehin offenkundig, dass die Erkenntnisse der Beigeladenen mittelbar oder unmittelbar von einer oder mehreren Quellen stammen, die an diesen Versammlungen teilgenommen haben. Zu deren Schutz wäre eine vollständige Zurückhaltung der Berichte nur dann erforderlich, wenn die Art und Weise der Berichterstattung weitergehende Rückschlüsse auf die Identität zuließen. Dafür fehlt jedoch jede Begründung in der Sperrerklärung. Sie ergibt sich nach dem Inhalt der Berichte auch keineswegs von selbst, zumal an den Versammlungen offenbar jeweils eine größere Zahl von Personen, mitunter mehrere hundert, teilgenommen haben sollen. Bislang fehlt somit eine tragfähige Begründung dafür, warum dem Hauptsachegericht die Akte nicht zumindest in den Teilen zugänglich gemacht werden kann, die diejenigen Passagen der Berichte betreffen, deren Inhalt eine Überprüfung der Tatsachenbehauptungen erlauben, auf die der Beklagte die Ausweisung stützt.
Rz. 11
c) Die Sperrerklärung der Beigeladenen leidet zudem an einem Ermessensdefizit.
Rz. 12
Durch die Ermessenseinräumung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO wird der obersten Aufsichtsbehörde die Möglichkeit eröffnet, dem öffentlichen Interesse und dem individuellen Interesse der Prozessparteien an der Wahrheitsfindung in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess den Vorrang vor dem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftstücke zu geben (Beschlüsse vom 19. August 1964 – BVerwG 6 B 15.62 – BVerwGE 19, 179 ≪186≫, vom 15. August 2003 – BVerwG 20 F 8.03 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 34, vom 13. Juni 2006 – BVerwG 20 F 5.05 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 42 und vom 1. August 2007 – BVerwG 20 F 10.06 – juris Rn. 5 f.). § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO regelt die Auskunftserteilung und Aktenvorlage im Verhältnis der mit geheimhaltungsbedürftigen Vorgängen befassten Behörde(n) zum Verwaltungsgericht, das in einem schwebenden Prozess für eine sachgerechte Entscheidung auf die Kenntnis der Akten angewiesen ist. In diesem Verhältnis stellt das Gesetz die Auskunftserteilung und Aktenvorlage in das Ermessen der Behörde, lässt dieser also die Wahl, ob sie die Akten oder die Auskunft wegen ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit zurückhält oder ob sie davon um des effektiven Rechtsschutzes willen absieht. Da die Sperrerklärung als Erklärung des Prozessrechts auf die Prozesslage abgestimmt sein muss, in der sie abgegeben wird, genügt es grundsätzlich nicht, in ihr lediglich auf die die Sachentscheidung tragenden Gründe des – je nach Fachgesetz im Einzelnen normierten – Geheimnisschutzes zu verweisen. Die oberste Aufsichtsbehörde ist vielmehr im Rahmen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gefordert, in besonderer Weise in den Blick zu nehmen, welche rechtsschutzverkürzende Wirkung die Verweigerung der Aktenvorlage im Prozess für den Betroffenen haben kann. Darin liegt die Besonderheit ihrer Ermessensausübung nach dieser Verfahrensbestimmung. Dementsprechend ist der obersten Aufsichtsbehörde auch in den Fällen Ermessen zugebilligt, in denen das Fachgesetz der zuständigen Fachbehörde kein Ermessen einräumt (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom 1. August 2007 a.a.O. Rn. 5 und vom 21. Februar 2008 – BVerwG 20 F 2.07 – BVerwGE 130, 236 = Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 46, jeweils Rn. 19). Maßstab ist dabei neben dem privaten Interesse an effektivem Rechtsschutz und dem – je nach Fallkonstellation – öffentlichen oder privaten Interesse an Geheimnisschutz auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung (BVerfG, Beschluss vom 14. März 2006 – 1 BvR 2087/03, 1 BvR 2111/03 – BVerfGE 115, 205 ≪241≫). Die oberste Aufsichtsbehörde muss in ihrer Sperrerklärung in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, dass sie gemessen an diesem Maßstab die Folgen der Verweigerung mit Blick auf den Prozessausgang gewichtet hat.
Rz. 13
Diesen Anforderungen genügt die Sperrerklärung der Beigeladenen nicht. Ihr mangelt es an einer dokumentierten Berücksichtigung des Interesses des Klägers an effektivem Rechtsschutz. Die Beigeladene hat sich darauf beschränkt, Geheimhaltungsgründe anzuführen und sie – zudem formelhaft – höher zu gewichten als das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung. Dass sie das Interesse des Klägers an effektivem Rechtsschutz nicht hinreichend in die Abwägung einbezogen hat, zeigt auch der Umstand, dass sie in ihrer Sperrerklärung auf eine nähere Differenzierung und Präzisierung nach der Art des Akteninhalts verzichtet und das gesamte Aktenkonvolut als geheimhaltungsbedürftig angesehen hat, anstatt zu prüfen, ob nicht eine teilweise Schwärzung ausreicht, um den Geheimhaltungsinteressen in Abwägung mit dem Interesse des Klägers hinreichend Rechnung zu tragen (vgl. zur Sichtung und Ordnung nach verschiedenen Geheimhaltungsinteressen Beschluss vom 1. August 2007 a.a.O. juris Rn. 6 f.). Die Beigeladene hat somit keine erkennbaren Erwägungen dazu angestellt, ob das Aufklärungsinteresse des Klägers es möglicherweise rechtfertigt, zumindest bestimmte Teile, zumal solche, deren behaupteten Inhalt sie ohnehin bereits offenbart hat, offenlegen zu können, ohne die Quellen zu gefährden. Namentlich erschließt sich aus der Sperrerklärung nicht, warum die Quellenberichte über die in Rede stehenden Versammlungen und die dort getätigten Äußerungen des Klägers nicht wenigstens auszugsweise freigegeben werden könnten, um das Gericht der Hauptsache in die Lage zu versetzen, die von dem Beklagten angeführten Ausweisungsgründe auf dieser Grundlage zu überprüfen und um dem Kläger Gelegenheit zu geben, sich damit in konkreter Weise auseinanderzusetzen.
Rz. 14
d) Ein weiterer Mangel der Sperrerklärung der Beigeladenen ergibt sich daraus, dass sie nicht alle vom Gericht der Hauptsache angeforderten Unterlagen erfasst. Die Beigeladene ist ersichtlich davon ausgegangen, dem Hauptsachegericht nur diejenigen Unterlagen vorlegen zu müssen, die die von ihr selbst ermittelten Informationen über den Kläger enthalten, also nur die Unterlagen über die dem Kläger vorgeworfenen Äußerungen anlässlich von Predigten in Berlin. Demgemäß hat sie auch im Zwischenverfahren nur diese Unterlagen vorgelegt. Das Gericht der Hauptsache hat aber nicht nur die Vorlage der von der Beigeladenen selbst ermittelten Erkenntnisse verlangt, sondern die Verwaltungsvorgänge mit denjenigen Informationen über den Kläger, die die Beigeladene der Ausländerbehörde des Beklagten mitgeteilt hat. Die Beigeladene hat der Ausländerbehörde ausweislich der Ausländerakte mit Schreiben vom 31. Mai 2006 auch die Erkenntnisse über Äußerungen des Klägers bei Predigten in Rostock mitgeteilt, die, wie sie im Schreiben an die Ausländerbehörde vom 16. März 2007 ausführt, auf Meldungen aus nachrichtendienstlichem Informationsaufkommen aus Mecklenburg-Vorpommern beruhen. Diese Erkenntnisse sind der Ausländerbehörde nach Aktenlage also nicht – wie allerdings der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts angenommen hat – von der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns mitgeteilt worden. Die vom Hauptsachegericht angeforderten Verwaltungsvorgänge der Beigeladenen mit denjenigen Informationen über den Kläger, die sie der Ausländerbehörde mitgeteilt hat, umfasst deshalb auch die in ihren Akten befindlichen Meldungen der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns.
Rz. 15
Demgegenüber kann sich die Beigeladene nicht auf die – auch vom Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts angeführte – Regelung in § 31 Abs. 1 Satz 2 des Verfassungsschutzgesetzes Berlin stützen, wonach sich die Auskunftsverpflichtung nicht auf Informationen erstreckt, die nicht der alleinigen Verfügungsbefugnis der Verfassungsschutzbehörde unterliegen. Denn diese Vorschrift beschränkt allein den fachgesetzlichen Auskunftsanspruch des Betroffenen gegenüber der Verfassungsschutzbehörde. Darum geht es hier jedoch nicht. Gegenstand des Zwischenverfahrens ist vielmehr ein auf § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO gestütztes Begehren des Hauptsachegerichts, die den Kläger betreffenden Akten vorzulegen, um die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung überprüfen zu können. Bei der Entscheidung über eine Verweigerung der Aktenvorlage hat die Beigeladene die besondere vom Prozessrecht geforderte Abwägung nach den dargestellten Maßstäben des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorzunehmen, die eine Aktenvorlage nach Ermessen zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes und des öffentlichen Interesses an der Wahrheitsfindung auch dann ermöglichen, wenn das Fachrecht kein Ermessen einräumt.
Rz. 16
e) Der vom Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts verwertete und dem Kläger nicht zugänglich gemachte Vermerk der Beigeladenen vom 28. Oktober 2008, mit dem sie die Tragfähigkeit ihrer Ermessensausübung näher erläutern wollte, muss bei der Überprüfung außer Betracht bleiben. Der Kläger hat als Beteiligter unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs auch im Zwischenverfahren einen Anspruch darauf, sich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten schriftlichen Stellungnahme der Gegenseite zu äußern. Davon sieht § 99 Abs. 2 VwGO keine Ausnahme vor. Einer Behörde steht es nicht zu, durch Erklärung, dass ein an das Gericht gerichteter Schriftsatz als Verschlusssache einzustufen sei, die dem Gericht in Ausübung seiner Rechtsprechungsgewalt zustehende Verfügungsbefugnis über den Schriftsatz zu verkürzen. Denn das Recht und die Pflicht des Gerichts, den Beteiligten nach dem auch im “in-camera”-Verfahren geltenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs grundsätzlich alle prozessrelevanten Äußerungen im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zur Kenntnis zu geben, steht nicht zur Disposition der Behörde. Eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs bei der Ausgestaltung des “in-camera”-Verfahrens ist auch nicht erforderlich, um den Geheimnisschutz zu sichern. Ebenso wie die Entscheidungsgründe des Fachsenats Art und Inhalt der geheim gehaltenen Urkunden oder Akten nicht erkennen lassen dürfen, kann die über die Aktenvorlage entscheidende Behörde ihre Äußerungen gegenüber dem Gericht so abfassen, dass der von ihr begehrte Geheimnisschutz auch dann gewahrt bleibt, wenn der Schriftsatz prozessordnungsgemäß dem Gegner zugestellt wird (Beschlüsse vom 6. November 2008 – BVerwG 20 F 7.08 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 51 Rn. 17, vom 5. Februar 2009 a.a.O. Rn. 16 und vom 24. August 2009 a.a.O. Rn. 14).
Rz. 17
Die entscheidungserhebliche Berücksichtigung des Vermerks der Beigeladenen vom 28. Oktober 2008 durch den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts verletzte deshalb den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die von der Beigeladenen als geheimhaltungsbedürftig eingestuften und deshalb nur für das Gericht übersandten Schriftstücke gehörten weder zu den Gerichtsakten, auf die sich das Einsichtsrecht des Klägers erstreckt, noch zu den Verwaltungsakten, deren Vorlage die Beigeladene mit der Sperrerklärung verweigert hat. Sie hätten deshalb mit Eingang an die Beigeladene zurückgesandt werden müssen (vgl. Beschlüsse vom 17. November 2003 – BVerwG 20 F 16.03 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 35, vom 5. Februar 2009 a.a.O. Rn. 17 f. und vom 24. August 2009 a.a.O. Rn. 15). Dies ist nunmehr im Beschwerdeverfahren geschehen.
Rz. 18
3. Die Feststellung des beschließenden Senats, dass die Sperrerklärung rechtswidrig ist, hindert die Beigeladene nicht, erneut eine Sperrerklärung abzugeben und dann bei der Einstufung als geheimhaltungsbedürftig und bei der Ermessensausübung näher zwischen den einzelnen Teilen der Akte unter Berücksichtigung des Interesses des Klägers an effektivem Rechtsschutz zu differenzieren. Ferner muss sich eine erneute Sperrerklärung – wie ausgeführt – auch zu den Aktenbestandteilen verhalten, die die vom Verwaltungsgericht ebenfalls angeforderten Mitteilungen der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns betreffen, über die die Beigeladene die Ausländerbehörde informiert hat.
Rz. 19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Unterschriften
Dr. Bardenhewer, Dr. Bumke, Buchheister
Fundstellen