Entscheidungsstichwort (Thema)
Irak. Verletzung der Aufklärungspflicht. grundsätzliche Pflicht der Tatsachengerichte zur Berücksichtigung neuer Lageberichte
Leitsatz (amtlich)
Bei den regelmäßig erstellten Lageberichten des Auswärtigen Amtes, die für die richterliche Aufklärung der maßgeblichen politischen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten von zentraler Bedeutung sind, sind die mit Asylsachen befassten Verwaltungsgerichte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu vergewissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhältnisse in dem betreffenden Land beschreibt.
Normenkette
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 08.04.2002; Aktenzeichen 20 B 00.32502) |
VG Ansbach (Entscheidung vom 27.11.2000; Aktenzeichen 20 K 00.32259) |
Tenor
Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Markus N.…, …, als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. April 2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Kläger beruht auf § 166 VwGO i.V.m. den §§ 114 f. und § 121 ZPO. Sie ist dem Kläger nach dessen glaubhaft gemachten Einkommensverhältnissen ohne Ratenzahlung zu gewähren.
Die Beschwerde der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Beklagte rügt der Sache nach zu Recht, dass das Berufungsgericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO). Denn das Berufungsgericht, das seine Entscheidung im Beschlussverfahren gemäß § 130a VwGO am 8. April 2002 getroffen hat, hat für seine Überzeugungsbildung den ihm mit Anschreiben des Bundesministeriums der Justiz vom 26. März 2002 übersandten Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak vom 20. März 2002 nicht herangezogen. Die Beklagte braucht sich in diesem Zusammenhang nicht darauf verweisen zu lassen, dass sie das Berufungsgericht von sich aus auf den neuen Lagebericht hätte aufmerksam machen müssen. Bei den regelmäßig erstellten Lageberichten des Auswärtigen Amtes, die für die richterliche Aufklärung der maßgeblichen politischen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten von zentraler Bedeutung sind, sind die mit Asylsachen befassten Verwaltungsgerichte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu vergewissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhältnisse in dem betreffenden Land beschreibt.
Die von der Beschwerde angefochtene Berufungsentscheidung kann auch auf der Nichtheranziehung des Lageberichts beruhen. Die Beklagte trägt zutreffend vor, dass der Bericht neue Erkenntnisse des UNHCR Bagdad und des IKRK über die Anwendung des “Amnestie-Dekrets” Nr. 110 vom 28. Juni 1999 enthält, die zu einer anderen Beurteilung der Verfolgungsgefahr wegen illegaler Ausreise und Asylantragstellung auch für aus Europa zurückkehrende Asylbewerber, zumindest aber zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen hätten führen können. Wegen dieses Verfahrensfehlers verweist der Senat die Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung – unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses – an das Berufungsgericht zurück.
Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachten Revisionszulassungsgründe kommt es deshalb nicht mehr entscheidend an.
Der Senat bemerkt hierzu gleichwohl Folgendes: Die Rüge, das Berufungsgericht habe gegen die Verfahrensgarantien des § 130a VwGO verstoßen und gleichzeitig den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil es erst etwa sechs Monate nach Ablauf der den Beteiligten gesetzten Äußerungsfrist zum vereinfachten Berufungsverfahren entschieden habe, ist unbegründet (vgl. hierzu z.B. Beschluss vom 16. Februar 1999 – BVerwG 9 B 1011.98 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 34 sowie Beschluss vom 30. Oktober 2000 – BVerwG 9 B 393.00 – a.a.O., Nr. 52 jeweils m.w.N.). Soweit die Beschwerde ihre Verfahrensrüge in diesem Zusammenhang auf § 77 Abs. 1 AsylVfG bezieht, macht sie keine fehlerhafte Anwendung von verwaltungsprozessualen Vorschriften im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend, sondern behauptet einen Rechtsverstoß, der revisionsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen ist. Die Rüge der Beschwerde, das Berufungsgericht sei hinsichtlich des Prognosemaßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit inzident von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen, greift mangels eines abweichenden Rechtssatzes in der Berufungsentscheidung ebenfalls nicht durch. Möglicherweise berechtigt ist dagegen der Vorwurf der Beschwerde, das Berufungsgericht habe sich verfahrensfehlerhaft nicht mit der Auffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zur Frage der Sippenhaft auseinander gesetzt. Zwar ist ein derartiger Fehler bei der Beweiswürdigung regelmäßig als materiellrechtlicher Mangel und nicht als Verfahrensmangel zu beurteilen (vgl. Beschluss vom 20. Februar 2003 – BVerwG 1 B 184.02 –). Hier könnte in der fehlenden Erörterung der Problematik der Sippenhaft aber zugleich ein Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorliegen. Angesichts der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Problematik im erstinstanzlichen Urteil hätte es zur Darlegung der tragenden Entscheidungsgründe wohl näherer Begründung durch das Berufungsgericht bedurft (vgl. Beschluss vom 1. September 1997 – 8 B 144.97 – Buchholz 406.11 § 128 BauGB Nr. 50).
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Richter, Beck
Fundstellen