Entscheidungsstichwort (Thema)
Verpflichtung zur Aufnahme einer Höchstfristbestimmung für störungsbedingte Trassensperrungen in Schienennetz-Nutzungsbedingungen
Leitsatz (amtlich)
Der Maßstab der Angemessenheit, der gemäß §§ 10 und 11 ERegG für die Bedingungen gilt, zu denen die Zugangsberechtigten Zugang zu Eisenbahnanlagen, Serviceeinrichtungen und Leistungen haben, ist nicht auf punktuelle Maßnahmen anwendbar, die der Betreiber der Schienenwege nach § 62 ERegG bzw. Art. 54 der Richtlinie 2012/34/EU im Notfall treffen muss, um aus Sicherheitsgründen normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen.
Verfahrensgang
VG Köln (Urteil vom 17.05.2022; Aktenzeichen 18 K 5867/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 17. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 50 000 € festgesetzt.
Gründe
I
Rz. 1
Die Klägerinnen betreiben das größte Schienennetz in Deutschland. Nachdem es auf diesem Schienennetz im Februar 2021 aufgrund winterlicher Witterungsbedingungen zu zahlreichen Einschränkungen des Zugverkehrs gekommen war, verpflichtete die Beklagte die Klägerinnen mit Beschluss vom 22. Oktober 2021 unter Ziffer 1 sie "nach Durchführung eines Stellungnahmeverfahrens über eine Änderung ihrer Nutzungsbedingungen Netz (NBN) zu unterrichten, bei der sie eine Regelung zur Wiederherstellung der Befahrbarkeit von aufgrund winterlicher Witterungsbedingungen gesperrte[n] Strecken aufnehmen, die den [in dem Beschluss] dargelegten Maßgaben genügt und nebst einer unverzüglichen Entstörung eine maximale Entstörfrist von 24 Stunden nach einer Sperrentscheidung vorsieht, es sei denn, eine Wiederherstellung binnen 24 Stunden ist objektiv ausgeschlossen. Wann letzteres der Fall ist, haben die [Klägerinnen] in Form von Regelbeispielen festzuhalten." Für den Fall, dass die Klägerinnen die unter Ziffer 1 genannte Verpflichtung nicht bis zum 28. Oktober 2022 umsetzen, drohte die Beklagte ihnen ein Zwangsgeld in Höhe von 100 000 € an (Ziffer 2 des Beschlusses). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, ohne die Aufnahme einer regelmäßigen maximalen Entstörfrist erwiesen sich die Nutzungsbedingungen im Lichte des Angemessenheitsgebots und unter der vorzunehmenden Abwägung der Interessen der Zugangsberechtigten einerseits mit den Interessen der Klägerinnen andererseits als unzureichend, sodass ein Verstoß gegen §§ 10 und 11 ERegG i. V. m. § 62 ERegG vorliege.
Rz. 2
Auf die Klage der Klägerinnen hat das Verwaltungsgericht Ziffern 1 und 2 des Beschlusses der Beklagten vom 22. Oktober 2021 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Die Beklagte stütze die Fristbestimmung in Ziffer 1 des Beschlusses zu Unrecht auf § 68 Abs. 3 i. V. m. § 66 Abs. 4 Nr. 1 ERegG. Die fehlende Aufnahme einer maximalen Entstörfrist im Zusammenhang mit winterlichen Witterungsbedingungen führe nicht zur Rechtswidrigkeit der NBN. Denn das Gesetz verlange eine derartige Höchstfrist nicht. § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG lasse die Sperrung zugewiesener Zugtrassen ausdrücklich so lange zu, wie es zur Instandsetzung des Systems erforderlich sei. Weder die systematische Auslegung noch die Gesetzesmaterialien oder die Genese der zugrundeliegenden unionsrechtlichen Vorschriften deuteten auf eine gegenteilige Auslegung hin. Gegen eine Höchstfristbestimmung sprächen schließlich auch Sinn und Zweck des § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG. Die Norm verkörpere in erster Linie das Regulierungsziel der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahninfrastruktur (§ 3 Nr. 5 ERegG) und verlange daher nach zeitlicher Flexibilität. Der Betreiber der Schienenwege dürfe keinesfalls dazu angehalten werden, unter Druck zu früh zu entsperren und so gegebenenfalls Gefahren zu verursachen. Die Verpflichtung aus § 62 Abs. 1 Satz 1 ERegG, bei technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen alle erforderlichen Maßnahmen für eine Normalisierung zu treffen, greife bei Eintritt von akuten Störungen und beziehe sich nicht auf das Vorhalten und Einsetzen von Ressourcen dergestalt, dass grundsätzlich eine Entstörung binnen 24 Stunden möglich sei. Die NBN verstießen auch nicht gegen §§ 10 und 11 ERegG und das darin enthaltene Recht auf Zugang zu Eisenbahnanlagen und Leistungen zu angemessenen Bedingungen, da das regulierungsrechtliche Angemessenheitsgebot mit Blick auf Sondermaßnahmen bei Störungen in § 62 ERegG speziell verwirklicht sei.
Rz. 3
Die Revision gegen sein Urteil hat das Verwaltungsgericht nicht zugelassen. Die Beklagte erstrebt mit ihrer Beschwerde die Zulassung der Revision, der die Klägerinnen entgegentreten.
II
Rz. 4
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zur Klärung der von der Beklagten aufgeworfenen Fragen zuzulassen.
Rz. 5
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. November 2019 - 6 B 164.18 - Buchholz 442.066 § 25 TKG Nr. 7 Rn. 10). Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung oder des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig beantwortet werden kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 27. Januar 2015 - 6 B 43.14 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 421 Rn. 8 und vom 9. Juli 2019 - 6 B 2.18 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 31 Rn. 7).
Rz. 6
1. Die von der Beklagten für klärungsbedürftig gehaltene Frage, ob
"es sich bei § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG um eine Vorschrift [handelt], die in erster Linie das Regulierungsziel der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahninfrastruktur (§ 3 Nr. 5 ERegG) verkörpert mit der Folge, dass die übrigen Ziele der Regulierung, insbesondere die in § 3 Nr. 1 ERegG (Steigerung des Anteils des schienengebundenen Personen- und Güterverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen) und § 3 Nr. 2 ERegG (Wahrung der Interessen der Zugangsberechtigten auf dem Gebiet der Eisenbahninfrastruktur sowie die Wahrung der Interessen der Verbraucher), von diesem Ziel derart überlagert werden, dass sie bei der Auslegung der Vorschrift selbst dann keine Berücksichtigung finden, wenn die Sicherheitsbelange gewahrt bleiben?",
ist mangels Entscheidungserheblichkeit im Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Denn das Verwaltungsgericht hat zwar angenommen, dass § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG in erster Linie das Regulierungsziel der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahninfrastruktur (§ 3 Nr. 5 ERegG) verkörpere (UA S. 10). Hieran hat die vorinstanzliche Entscheidung jedoch nicht - wie die Beschwerde unterstellt - den Rechtssatz geknüpft, dass das genannte Ziel die übrigen Ziele der Regulierung, insbesondere die Steigerung des Anteils des schienengebundenen Personen- und Güterverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen (§ 3 Nr. 1 ERegG) und die Wahrung der Interessen der Zugangsberechtigten auf dem Gebiet der Eisenbahninfrastruktur sowie die Wahrung der Interessen der Verbraucher (§ 3 Nr. 2 ERegG) derart überlagert, dass sie bei der Auslegung der Vorschrift selbst dann keine Berücksichtigung finden, wenn die Sicherheitsbelange gewahrt bleiben. Das Verwaltungsgericht hatte keinen Anlass, einen Rechtssatz dieses Inhalts aufzustellen, weil es in tatsächlicher Hinsicht nicht festgestellt hat, dass die Sicherheitsbelange bei einer Höchstfrist der Sperrung zugewiesener Zugtrassen gewahrt bleiben. Es ist im Gegenteil von der tatsächlichen Feststellung ausgegangen, dass eine einschränkende zeitliche Vorgabe für störungsbedingte Trassensperrungen den Betreiber der Schienenwege dazu anhalten kann, unter Druck zu früh zu entsperren und so gegebenenfalls Gefahren zu verursachen (UA S. 11). Diese tatsächliche Feststellung hat die Beschwerde nicht mit Verfahrensrügen angegriffen.
Rz. 7
Die im Schriftsatz vom 21. November 2022 vertretene Ansicht der Beklagten, es handele sich bei der genannten Aussage nicht um eine Tatsachenfeststellung, sondern um eine Wertung des Verwaltungsgerichts, beruht auf einem fehlerhaften Verständnis des Begriffs der tatsächlichen Feststellungen, an die das Revisionsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO grundsätzlich gebunden ist. Diese sind von der Rechtsanwendung abzugrenzen und umfassen grundsätzlich auch die Ergebnisse wertender Einschätzungen der Auswirkungen bestimmter Gegebenheiten in tatsächlicher Hinsicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juli 2006 - 4 C 2.05 - BVerwGE 126, 233 Rn. 17). Die Annahme des Verwaltungsgerichts, eine zeitliche Vorgabe für störungsbedingte Trassensperrungen könne den Betreiber der Schienenwege dazu anhalten, unter Druck zu früh zu entsperren und dadurch Gefahren für den sicheren Betrieb der Eisenbahninfrastruktur verursachen, ist daher nicht Teil der revisionsgerichtlich zu überprüfenden Rechtsanwendung, sondern liegt dieser als Teil der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung voraus.
Rz. 8
Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG in erster Linie das Regulierungsziel der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahninfrastruktur (§ 3 Nr. 5 ERegG) verkörpert, ist darüber hinaus auch deshalb nicht entscheidungserheblich, weil sie lediglich ein unselbstständiges, für sich genommen nicht tragendes Begründungselement im Rahmen der Auslegung des § 62 ERegG betrifft. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die Norm sehe eine Höchstfristbestimmung bei gebotener Auslegung nach sämtlichen gängigen Methoden nicht vor. Der Wortlaut von § 62 ERegG enthalte ausdrücklich keine Höchstfristbestimmung. Auf eine gegenteilige Auslegung der Vorschrift deuteten weder die systematische Auslegung noch die Gesetzesmaterialien oder die Genese der zugrundeliegenden unionsrechtlichen Vorschriften (Art. 54 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2012/34/EU sowie Art. 29 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/14/EG) hin. Gegen eine Höchstfristbestimmung sprächen schließlich auch Sinn und Zweck der Norm des § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG. Selbst wenn sich die der teleologischen Auslegung zugrundeliegende Annahme des Verwaltungsgerichts, § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG verkörpere in erster Linie das Regulierungsziel der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahninfrastruktur (§ 3 Nr. 5 ERegG), als unzutreffend erweisen sollte und die übrigen Ziele der Regulierung gleichrangig zu berücksichtigen wären, würde sich hierdurch nach der Begründungsstruktur des erstinstanzlichen Urteils nichts an dem Auslegungsergebnis ändern, dass § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG die Bestimmung einer Frist für die Entstörung nicht vorsieht. Denn einer abweichenden Auslegung hätte schon der nach Ansicht des Verwaltungsgerichts eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegengestanden.
Rz. 9
2. Als grundsätzlich bedeutsam wirft die Beschwerde weiter die Rechtsfrage auf, ob
"§ 62 Abs. 1 Satz 1 ERegG mit seiner an den Betreiber der Schienenwege gerichteten Verpflichtung, bei technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Situation wieder zu normalisieren, und § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG mit der durch diesen einem Betreiber der Schienenwege eröffneten Möglichkeit der Sperrung von Zugtrassen und der damit verbundenen Einschränkung der zugangsrechtlichen Bereitstellungspflicht eine spezielle und abschließende Verwirklichung des regulierungsrechtlichen Angemessenheitsgebots dar[stellen], die eine Auslegung der genannten Vorschriften unter Rückgriff auf das allgemeine Angemessenheitsgebot nach §§ 10, 11 ERegG ausschließt."
Rz. 10
Diese Frage kann die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht rechtfertigen, weil sie ebenfalls nicht entscheidungserheblich ist. Die Beschwerde legt nicht dar, dass eine Auslegung unter Rückgriff auf das allgemeine Angemessenheitsgebot nach §§ 10 und 11 ERegG zu der von der Auffassung des Verwaltungsgerichts abweichenden Annahme zwingen würde, dass § 62 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 ERegG eine Höchstfristbestimmung enthalten. Da einer dahingehenden Auslegung nach Ansicht des Verwaltungsgerichts schon der Wortlaut von § 62 ERegG entgegensteht, würde sich auch bei einer Berücksichtigung des Angemessenheitsgebots nach §§ 10 und 11 ERegG nichts an dem Ergebnis ändern, dass die fehlende Aufnahme einer Fristbestimmung in Form einer maximalen Entstörfrist im Zusammenhang mit winterlichen Witterungsbedingungen nicht zur Rechtswidrigkeit der NBN führt, weil das Gesetz eine derartige Höchstfrist nicht verlangt (UA S. 7).
Rz. 11
Darüber hinaus kommt die Zulassung der Revision auch deshalb nicht in Betracht, weil die von der Beschwerde aufgeworfene zweite Frage auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig zu bejahen ist. § 62 Abs. 1 Satz 1 ERegG bestimmt, dass der Betreiber der Schienenwege bei technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat, um die Situation wieder zu normalisieren. Gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG können in Notfallsituationen oder sofern dies notwendig ist, weil der Schienenweg wegen einer Betriebsstörung vorübergehend nicht benutzt werden kann, die zugewiesenen Zugtrassen ohne Ankündigung so lange gesperrt werden, wie es zur Instandsetzung des Systems erforderlich ist. In § 10 ERegG ist der Zugangsanspruch zu Eisenbahnanlagen sowie Serviceeinrichtungen und in § 11 ERegG der Zugang zu den dort erbrachten Leistungen des Mindestzugangspakets nach Anlage 2 Nr. 1 ERegG geregelt. Der Zugang muss jeweils zu angemessenen, nicht diskriminierenden und transparenten Bedingungen gewährt werden.
Rz. 12
Weder der Wortlaut des § 62 Abs. 1 Satz 1 ERegG noch derjenige des § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG enthalten einen Anhaltspunkt dafür, dass dem in §§ 10 und 11 ERegG mehrfach genannten Begriff der Angemessenheit der Bedingungen, zu denen die Zugangsberechtigten Zugang zu Eisenbahnanlagen, Serviceeinrichtungen und Leistungen haben, Bedeutung für die Auslegung von § 62 Abs. 1 ERegG zukommt. Welche Maßnahmen des Betreibers der Schienenwege erforderlich sind, um bei technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen die Situation wieder zu normalisieren, bestimmt sich nach § 62 Abs. 1 Satz 1 ERegG allein am Maßstab der Erforderlichkeit. Dementsprechend ist auch für die Dauer einer gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 ERegG in Notfallsituationen oder bei bestimmten Betriebsstörungen zulässigen Sperrung allein maßgeblich, ob die Sperrung zur Instandsetzung des Systems erforderlich ist.
Rz. 13
Dies entspricht dem Zweck der Regelung, die der Umsetzung des Art. 54 der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (sog. Recast-Richtlinie) dient. In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, dass Art. 29 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung, der wortgleich in Art. 54 der Richtlinie 2012/34/EU übernommen wurde, Sondermaßnahmen betrifft, die im Fall der Störung des Zugverkehrs erlassen werden müssen, um aus Sicherheitsgründen normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen, und dass es sich hierbei um punktuelle Maßnahmen handelt, die im Notfall getroffen werden müssen, um einer besonderen Situation Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass die Rechte auf Fahrwegkapazität in Form von Zugtrassen vom Begünstigten im Einklang mit dem Netzfahrplan tatsächlich wahrgenommen werden können (EuGH, Urteil vom 28. Februar 2013 - C-473/10 [ECLI:EU:C:2013:113], Kommission/Ungarn - Rn. 59). Auf derartige punktuelle Maßnahmen, die der Betreiber der Schienenwege nach § 62 ERegG bzw. Art. 54 der Richtlinie 2012/34/EU im Notfall treffen muss, um aus Sicherheitsgründen normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen, ist der Maßstab der Angemessenheit nicht anwendbar, der gemäß §§ 10 und 11 ERegG für die Bedingungen gilt, zu denen die Zugangsberechtigten Zugang zu Eisenbahnanlagen, Serviceeinrichtungen und Leistungen haben.
Rz. 14
Der Begriff der Erforderlichkeit in § 62 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 ERegG verlangt zwar, dass der mit der Sperrung von Zugtrassen verbundene Eingriff in die in §§ 10 und 11 ERegG geregelten Zugangsrechte durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt bleibt (vgl. Grün, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, 2020, § 62 ERegG Rn. 14). Eine darüber hinaus gehende Prüfung der Angemessenheit der Notfallmaßnahmen ist hiervon indes nicht umfasst. Die Interessen der Zugangsberechtigten können vielmehr nur zur Geltung kommen, soweit den vom EuGH hervorgehobenen Sicherheitsgründen Rechnung getragen und das Ziel der Beseitigung der Betriebsstörung nicht gefährdet wird. Deshalb kann auch der genaue Inhalt des in der Rechtsprechung des Senats bisher nicht abschließend geklärten Begriffs der Angemessenheit im Sinne von §§ 10 und 11 ERegG dahinstehen. Selbst wenn mit der Angemessenheit nicht nur das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang in der Ausformung, die es durch die bisherige Rechtsprechung erhalten hat, im Sinne der Verhältnismäßigkeit näher umschrieben wird (vgl. Gerstner, N&R 2016, 211 ≪215≫), sondern darüber hinaus eine Abwägung der Interessen des Eisenbahninfrastrukturunternehmens einerseits und der Zugangsberechtigten andererseits vorzunehmen ist (vgl. Maas/ter Steeg, in: Kühling/Otte, AEG/ERegG, 2020, § 10 ERegG Rn. 63), können die Zugangsberechtigten aufgrund des Angemessenheitsgebots nach §§ 10 und 11 ERegG jedenfalls nicht beanspruchen, dass Maßnahmen unterbleiben, die zur Beseitigung einer notfallbedingten Betriebsstörung aus Sicherheitsgründen objektiv notwendig sind.
Rz. 15
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
Rz. 16
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.
Fundstellen
NVwZ-RR 2023, 1027 |
NVwZ-RR 2023, 5 |
JZ 2023, 538 |
UPR 2023, 399 |
N&R 2023, 268 |