Entscheidungsstichwort (Thema)
Vereinfachtes Berufungsverfahren. Anhörungsmitteilung ohne Äußerungsfrist. gerichtliche Sachaufklärungspflicht. Ermittlung ausländischen Rechts. ausländische Rechtslage und Rechtspraxis. “eigene Rechtskunde” des Gerichts
Leitsatz (amtlich)
Verfügt das Gericht eine Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO ohne ausdrückliche Befristung, so muss es einen angemessenen Zeitraum für eine Stellungnahme der Beteiligten abwarten, bevor es ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheidet. Auch muss es vor einer Entscheidung einen Antrag auf Einräumung einer bestimmten Äußerungsfrist bescheiden.
Normenkette
VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 108 Abs. 2, § 125 Abs. 2 S. 3, § 130a
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 24.11.2003; Aktenzeichen 13 LB 179/03) |
VG Hannover (Entscheidung vom 18.03.1999; Aktenzeichen 14 A 3803/98) |
Tenor
Den Klägern wird für das Beschwerdeverfahren gegen Zahlung monatlicher Raten von 15 € an die Staatskasse Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt … beigeordnet.
Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24. November 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor (§ 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO). Die Kläger haben aufgrund der vorgelegten Einkommensnachweise Monatsraten in Höhe von 15 € an die zuständige Gerichtskasse zu zahlen (§ 166 VwGO i.V.m. § 115 Abs. 1 ZPO, § 120 Abs. 1 und 2 ZPO).
Die Beschwerde ist mit der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs und der Aufklärungspflicht (Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) begründet. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses erneut an das Berufungsgericht zurück.
Die Beschwerde rügt zu Recht eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs, weil das Berufungsgericht wiederum im sog. vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO entschieden hat, ohne die Anforderungen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs der Beteiligten einzuhalten. Das Berufungsgericht hat zwar auf das nach der ersten Anhörung gemäß § 130a VwGO mit Schriftsatz vom 17. November 2003 erfolgte umfangreiche Vorbringen mit Beweisanträgen ansatzweise zu Recht damit reagiert, dass es den Klägern mitgeteilt hat, an der angekündigten Absicht (einer Stattgabe der Berufung durch Beschluss nach § 130a VwGO) werde festgehalten. Die danach – auch vom Berufungsgericht für erforderlich und nicht ausnahmsweise für entbehrlich gehaltene (vgl. etwa Beschluss vom 18. Juni 1996 – BVerwG 9 B 140.96 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 16) – zweite Anhörungsmitteilung vom 20. November 2003 hätte jedoch nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO eine den Umständen entsprechend angemessene Äußerungsfrist einräumen (vgl. Beschluss vom 20. April 1999 – BVerwG 9 B 97.99 – ≪juris≫) und einhalten (vgl. etwa Urteil vom 10. März 2000 – BVerwG 9 C 40.99 – Buchholz 310 § 139 Abs. 3 VwGO Nr. 7) müssen. Das ist hier nicht geschehen. Vielmehr hat das Berufungsgericht trotz des Antrags im Schriftsatz der Kläger vom 24. November 2003, eine Frist zur abschließenden Äußerung bis zum 16. Dezember 2003 zu gewähren und eine Entscheidung hierüber mitzuteilen, noch am selben Tag den angegriffenen Beschluss gefasst und hierbei den Schriftsatz der Kläger verwertet (BA S. 9), ohne zuvor über den darin enthaltenen Antrag zu entscheiden. Diese Verfahrensweise verletzt das rechtliche Gehör. Zwar musste das Gericht entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht von sich aus eine zeitlich bestimmte Äußerungsfrist setzen, wie es allerdings üblich und zur Vermeidung von Unsicherheiten sinnvoll ist (vgl. Meyer-Ladewig in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 130a Rn. 11). Verfügt das Gericht eine Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO ohne ausdrückliche Befristung, so muss es jedoch (erst recht) einen auf jeden Fall angemessenen Zeitraum für eine Stellungnahme der Beteiligten abwarten, bevor es durch Beschluss entscheidet, und jede Äußerung berücksichtigen, die bis zur Herausgabe seiner Entscheidung zur Versendung an die Beteiligten eingeht (vgl. Beschluss vom 7. April 1999 – BVerwG 9 B 999.98 – Buchholz 11 Art. 103 Abs. 1 GG Nr. 55). Auch muss es einen Antrag auf Einräumung einer bestimmten Äußerungsfrist – ebenso wie einen Verlängerungsantrag im Falle einer befristeten Anhörungsmitteilung – bescheiden, bevor es zur Sache entscheidet (vgl. zum Fristverlängerungsantrag Beschluss vom 30. Oktober 2000 – BVerwG 9 B 393.00 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 52 und Beschluss vom 23. Oktober 2000 – BVerwG 1 B 51.00 – Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 69).
Das Berufungsgericht hat seine Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs und Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen ferner auch dadurch verletzt, dass es die Frage der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit der Kläger nur anhand der zitierten ausländischen Rechtsvorschriften “aus eigener Rechtskunde” (BA S. 9) beurteilt hat, ohne die ausländische Rechtslage und Rechtspraxis zu ermitteln (vgl. Beschluss vom 25. Juni 2004 – BVerwG 1 B 230.03 – ≪juris≫; Beschluss vom 29. Juni 2001 – BVerwG 1 B 131.00 – Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 63 = NVwZ-RR 2002, 311; Beschluss vom 29. März 2000 – BVerwG 9 B 128.00 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 233; Beschluss vom 4. Oktober 1995 – BVerwG 1 B 138.95 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 172 = InfAuslR 1996, 21; Beschluss vom 18. Dezember 1991 – BVerwG 1 B 139.91 – Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 41). Darin liegt hier zugleich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil das Berufungsgericht einzelnen Beweisanträgen (auf Einholung von Auskünften des Auswärtigen Amtes und von Sachverständigengutachten) zu Fragen der tatsächlichen und rechtlichen Handhabung des aserbaidschanischen Rechts ohne tragende Begründung nicht nachgegangen ist. Der pauschale Hinweis auf eine eigene “Rechtskunde” des Gerichts, die sich offensichtlich nur auf die Kenntnis einschlägiger ausländischer Gesetzestexte und allgemeine Rechtskenntnisse beziehen soll und nicht auf spezielles richterliches Erfahrungswissen beispielsweise aus Gutachten und eigener Befassung mit dem ausländischen Recht (vgl. etwa Beschluss vom 18. Dezember 1991 a.a.O.; Beschluss vom 28. Juni 1990 – BVerwG 9 B 15.90 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 127 = NVwZ-RR 1990, 652 und allg. Beschluss vom 19. September 2001 – BVerwG 1 B 158.01 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 315; Beschluss vom 27. Februar 2001 – BVerwG 1 B 206.00 – Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 46), reicht zur prozessordnungsgemäßen Ablehnung eines substantiierten Beweisantrags zur Rechtslage und Rechtspraxis in Aserbaidschan nicht aus.
Auf die zusätzlichen Rügen der Kläger kommt es danach nicht mehr an. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Hund, Richter
Fundstellen