Verfahrensgang
VG Chemnitz (Urteil vom 18.10.2001; Aktenzeichen 9 K 1870/98) |
Tenor
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 18. Oktober 2001 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 204 516,75 € festgesetzt.
Gründe
Die Klägerin begehrt die vermögensrechtliche Rückübertragung eines Grundstücks, auf das ihre Rechtsvorgängerin mit Erklärung vom 14. Mai 1965 verzichtet hatte. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, weil der Schädigungstatbestand des § 1 Abs. 2 VermG nicht vorgelegen habe; die Revision gegen sein Urteil hat es nicht zugelassen.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Zwar kommt der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu (1). Es liegt aber der geltend gemachte Verfahrensfehler vor (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann (2).
1. Die von der Klägerin aufgeworfenen Rechtsfragen haben keine grundsätzliche Bedeutung:
a) Die Klägerin möchte geklärt wissen, ob “Kosten wegen altersbedingten und/oder auch infolge von Kriegseinwirkung nicht vollständig behobener Bausubstanzschäden Verbindlichkeiten im Sinne von ‘Altbelastungen’ darstellen, die vom Anwendungsbereich der Rechtsnorm des § 1 Abs. 2 VermG (und damit) einer ‘unmittelbar bevorstehenden Überschuldung’ abzugrenzen seien”. Diese Frage lässt sich anhand der Vorschrift des § 1 Abs. 2 VermG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantworten, ohne dass es zu ihrer Klärung der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf.
Die von der Klägerin aufgeworfene Frage betrifft die Ursächlichkeit der Niedrigmieten in der DDR für die Überschuldung des Grundstücks zum Zeitpunkt des Eigentumsverzichts. Ein Ursachenzusammenhang ist auch dann zu bejahen, wenn es sich um Gebäudeschäden handelte, die bereits bei Gründung der DDR bestanden, die der Eigentümer aber wegen der nicht kostendeckenden Mieten in der DDR nicht beheben konnte. Insoweit besteht keine Veranlassung, auf den – häufig nur schwer zu ermittelnden – Zeitpunkt abzustellen, wann die Schäden entstanden sind. Zweifel daran, dass der Ursachenbeitrag der Niedrigmieten für die Überschuldung wesentlich war, sind aber dann begründet, wenn der Eigentumsverlust so früh eingetreten ist, dass die Niedrigmieten sich noch nicht nennenswert ausgewirkt haben können, oder wenn der Wert des Grundstücks durch den bei Gründung der DDR Bestehenden Instandsetzungsbedarf für Altschäden bereits weitgehend erschöpft war (Urteil vom 11. Februar 1999 – BVerwG 7 C 4.98 – BVerwGE 108, 281 ≪288≫ zu Altverbindlichkeiten).
Ein Ursachenzusammenhang zwischen Überschuldung und den Niedrigmieten entfällt, wenn wegen der genannten Altschäden bei Gründung der DDR ein unabweisbarer Instandsetzungsbedarf bestand, der den Zeitwert des Grundstücks überstieg und damit die Überschuldung des Grundstücks bereits zu diesem Zeitpunkt begründete. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für Altbelastungen geklärt, dass eine (Mit-)Ursächlichkeit der Niedrigmieten ausscheidet, wenn der Anteil der Belastungen des Grundstücks mit Grundpfandrechten zur Zeit der Gründung der DDR so hoch war, dass das Grundstück bereits bei der Gründung der DDR überschuldet war; denn unter dieser Voraussetzung ist es ausgeschlossen, dass die Überschuldung auf der Niedrigmietenpolitik der DDR beruht (Urteil vom 11. Februar 1999 – BVerwG 7 C 4.98 – BVerwGE 108, 281 ≪288≫). Entsprechendes gilt für eine bereits bei Gründung der DDR bestehende Überschuldung wegen vorhandener Altschäden (vgl. auch Urteil vom 24. Oktober 2002 – BVerwG 7 C 11.02 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Hat der Eigentümer auf der anderen Seite das Grundstück unter den Verhältnissen der DDR noch lange Zeit in gebrauchsfähigem Zustand erhalten, musste er, wenn die Mieten die Kosten nicht deckten, zwangsläufig erhebliche Mittel investiert haben, so dass in solchen Fällen selbst in Ansehung von Altschulden keine Veranlassung besteht, der Wesentlichkeit des Ursachenbeitrags der Niedrigmietenpolitik näher nachzugehen (BVerwGE 108, 288). Ebenso ist ein Eigentümer schutzwürdig, der trotz eines entsprechenden Instandsetzungsbedarfs bereits bei Gründung der DDR das Wohnhaus etwa durch notdürftige Reparaturen noch lange Zeit in gebrauchsfähigem Zustand erhalten hat, aber wegen der Niedrigmieten nicht zu der erforderlichen umfassenden Instandsetzung in der Lage war. Wenn es deshalb dann zu größeren Sachschäden kam, die eine aus den Mieten nicht zu finanzierende umfassende Instandsetzung erforderte, besteht kein Anlass, an der (Mit-)Ursächlichkeit der nicht kostendeckenden Mieten zu zweifeln.
b) Als klärungsbedürftig sieht die Klägerin ferner die Frage an, ob Kosten für die Instandsetzung der genannten Altschäden nur dann “für die Beurteilung des Überschuldungstatbestandes im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG wegen nicht kostendeckender Mieten von der Anwendung der Rechtsnorm erfasst werden, wenn die Instandsetzung nicht schon vor In-Kraft-Treten der Niedrigmietenpolitik (1955) vernachlässigt worden wäre”. Diese Frage kann anhand der Rechtsprechung zu § 1 Abs. 2 VermG ohne weiteres beantwortet werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann im Regelfall von der Überschuldung des Grundstücks (im Zeitpunkt des Eigentumsverzichts) auf deren Verursachung durch nicht kostendeckende Mieten geschlossen werden. Diese Vermutung ist allerdings erschüttert, wenn in der Vergangenheit erforderliche Instandsetzungsarbeiten trotz vorhandener finanzieller Deckung unterblieben waren und es daher zu größeren Schäden oder einem Reparaturstau gekommen war (Urteil vom 16. März 1995 – BVerwG 7 C 39.93 – BVerwGE 98, 87 ≪99≫; Urteil vom 11. Februar 1999 – BVerwG 7 C 4.98 – BVerwGE 108, 281 ≪285 f.≫). Dies bezieht sich allein auf den Ursachenbeitrag der Niedrigmieten in der DDR. Auf die Gründe, worauf ein bereits bei Gründung der DDR bestehender Instandsetzungsbedarf, für den die Niedrigmietenpolitik der DDR nicht ursächlich gewesen sein kann, zurückzuführen ist, kommt es dagegen nicht an.
2. Dagegen hat die Rüge der Klägerin Erfolg, dass das Verwaltungsgericht seine Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat und das angefochtene Urteil deshalb an einem Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO leidet.
a) Die Klägerin macht geltend, dass das Verwaltungsgericht für den Zeitpunkt des Beginns der Niedrigmietenpolitik der DDR Bausubstanzschäden des Gebäudes in einem die Überschuldung begründenden Umfang angenommen habe, ohne die hierzu erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Insbesondere habe das Gericht es unterlassen, die Zeugin H.… zu vernehmen, die seit Anfang der 50er Jahre in dem Mietwohnhaus wohne. Die Zeugin war zur mündlichen Verhandlung geladen worden; eine Vernehmung der präsenten Zeugin unterblieb aber.
Das Verwaltungsgericht hat unterstellt, dass unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin zum Zustand des Gebäudes und des unabweisbar anstehenden Reparaturbedarfs eine unmittelbar bevorstehende Überschuldung des Grundstücks zu bejahen sei. Allerdings fehle es an der erforderlichen Kausalität der Niedrigmieten, da die geltend gemachten Schäden “im Wesentlichen” bereits zum Zeitpunkt des Beginns der Niedrigmietenpolitik der DDR vorgelegen hätten. Diese Annahme hat das Verwaltungsgericht auf einen Erfahrungssatz des Inhalts gestützt, dass die geltend gemachten Schäden nicht in dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von ca. 9 bzw. 10 Jahren seit Beginn der Niedrigmietenpolitik, den das Verwaltungsgericht auf das Jahr 1955 datiert, entstanden sein können. Vor der Heranziehung eines allgemeinen Erfahrungssatzes, den das Verwaltungsgericht zudem in keiner Weise belegt hat (vgl. hierzu auch Urteil vom 30. Mai 1996 – BVerwG 7 C 49.95 – Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 79), hätte sich dem Gericht die Vernehmung der Zeugin aufdrängen müssen, die nach den Angaben der Klägerin bereits seit Anfang der 50er Jahre in dem Haus wohnt und von der damit zu dem damaligen Zustand des Hauses Angaben zu erwarten waren.
b) Das Verwaltungsgericht hat als weitere selbständige Begründung für eine fehlende Kausalität der Niedrigmieten darauf abgestellt, dass gerade in den drei Jahren vor dem Eigentumsverzicht erhebliche Mietüberschüsse erzielt worden seien. So habe die Alteigentümerin in ihrem Schreiben an den Rat der Stadt vom 6. Juli 1964 jährliche Überschüsse in Höhe von 789,66 M, 408,68 M und 1 351 M angegeben. Die Klägerin beanstandet, dass das Verwaltungsgericht die Zeugin nicht “über den Zustand des Grundstücks und seiner baulichen Anlagen vor dem Eigentumsverzicht” vernommen habe, zu dem diese ebenfalls hätte Auskunft gegen können. Diese Rüge hat Bedeutung auch für die Begründung der fehlenden Kausalität unter Hinweis auf Mietüberschüsse. Wenn die Klägerin als mögliche Erkenntnis aus einer Beweisaufnahme anführt, dass solche Schäden vorlagen, die auf der Preisbasis 1965 einen Investitionsbedarf in Höhe von 22 246 M erfordert hätten, macht sie damit sinngemäß auch geltend, dass etwaige Mietüberschüsse in den drei Jahren vor dem Eigentumsverzicht an der Überschuldung im Zeitpunkt des Eigentumsverzichts nichts geändert hätten, auch wenn sie für Instandsetzungen verwendet worden wären.
3. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, wegen des Verfahrensfehlers die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Für die erneute Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass der Beginn der Niedrigmietenpolitik der DDR nicht auf das Jahr 1955 datiert werden kann. Mit der Anordnung über die Forderung und Gewährung preisrechtlich zulässiger Preise vom 6. Mai 1955 (GBl DDR I S. 330; Preisanordnung Nr. 415) sind bei den Mieten für Wohnraum und Gewerberaum lediglich die “Stopp-Preise” festgeschrieben worden, die bereits zuvor galten. Der Senat hat deshalb für Altbelastungen – Entsprechendes gilt für Altschäden – auf den Zeitpunkt der Gründung der DDR abgestellt (vgl. Urteil vom 22. Februar 2001 – BVerwG 7 C 17.00 – Buchholz 428 § 1 Abs. 2 VermG Nr. 15).
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Sailer, Gödel, Neumann
Fundstellen