Verfahrensgang
OVG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 28.10.2020; Aktenzeichen 7 A 10783/18.OVG) |
VG Trier (Entscheidung vom 18.09.2017; Aktenzeichen 7 K 1626/17.TR) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. Oktober 2020 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Rz. 1
Die Beschwerde, mit der allein eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht wird, hat keinen Erfolg.
Rz. 2
I. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14). Daran gemessen kommt die Zulassung der Revision vorliegend nicht in Betracht.
Rz. 3
1. Die Beschwerde hält zunächst für klärungsbedürftig,
"inwieweit eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchstabe 1 der Verfahrensrichtlinie, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, auch ohne persönliche Anhörung ergehen darf, wie umfangreich die Anhörung sein muss und ob im Anschluss an die Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Staates eine weitere Anhörung zu den Verhältnissen in dem Staat, der Schutz gewährt hat und zu dem persönlichen Schutzbedarf erfolgen muss, wenn, wie in den allermeisten Fällen, das BAMF erst nach der Befragung zur Bestimmung des zuständigen Staates Kenntnis von dem bereits zuerkannten Schutzstatus erlangt hat."
Rz. 4
Damit ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache auch unter Berücksichtigung der zugehörigen Beschwerdebegründung nicht dargelegt.
Rz. 5
Die Frage, inwieweit eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. 1 RL 2013/32/EU, § 29 Abs. 2 Nr. 2 AsylG, auch ohne persönliche Anhörung ergehen darf, ist in der angefochtenen Entscheidung bereits nicht (allein) entscheidungserheblich. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Entscheidung zur formellen Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung vielmehr auf zwei selbstständig tragende Erwägungen gestützt. Primär ist es davon ausgegangen, dass im Unterschied zu dem dem Urteil "Addis" des Gerichtshofs der Europäischen Union zugrundeliegenden Sachverhalt im Streitfall schon kein Anhörungsmangel vorliege (BA S. 5 unter II. A. 2.). Unabhängig davon war es der Auffassung, dass sich der Kläger auf den Gesichtspunkt der fehlenden persönlichen Anhörung nicht berufen könne, da er im weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens darauf verzichtet habe. Im Falle einer Mehrfachbegründung kommt die Zulassung der Revision aber nur in Betracht, wenn hinsichtlich jeder Begründung ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. Januar 2021 - 6 B 23.20 - juris Rn. 6 und vom 8. Februar 2021 - 3 B 36.19 - juris Rn. 29).
Rz. 6
Hinsichtlich der selbstständig tragenden, sinngemäßen Erwägung des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger sei hinreichend angehört worden, zeigt das Beschwerdevorbringen indes eine grundsätzliche Bedeutung nicht auf. Die Fragen, "wie umfangreich die Anhörung sein muss und ob im Anschluss an die Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Staates eine weitere Anhörung zu den Verhältnissen in dem Staat, der Schutz gewährt hat und zu dem persönlichen Schutzbedarf erfolgen muss", sind, soweit sie entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich sind, in der Rechtsprechung des Senats geklärt, ohne dass die Beschwerde einen weitergehenden abstrakten Klärungsbedarf darlegt.
Rz. 7
Nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG hat das Bundesamt den Ausländer zu den Gründen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b bis Nr. 4 AsylG persönlich anzuhören, bevor es über die Zulässigkeit eines Asylantrags entscheidet. Diese Regelung setzt Art. 34 Abs. 1 Richtlinie 2013/32/EU um, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Antragstellern Gelegenheit zu geben, sich zu der Anwendung der Gründe nach Art. 33 der Richtlinie in ihrem besonderen Fall zu äußern, bevor die Asylbehörde über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz entscheidet. Danach ist erforderlich, dass das Bundesamt dem Antragsteller im Rahmen einer gesonderten persönlichen Anhörung Gelegenheit gibt, zu den für die spätere Unzulässigkeitsentscheidung maßgeblichen Umständen Stellung zu nehmen. Die maßgeblichen Umstände sind bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Tatsache der Schutzzuerkennung in einem anderen Mitgliedstaat sowie mögliche Gründe, die ausnahmsweise einer Rückkehr dorthin entgegenstehen könnten, weil den Antragsteller dort Lebensverhältnisse erwarten, die einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC gleichkommen. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass im Einzelfall auch bereits in der Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eine diesen Anforderungen genügende Anhörung zu einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 - InfAuslR 2020, 402 Rn. 21). Das gilt namentlich dann, wenn der Antragsteller im Rahmen dieser Anhörung selbst angibt, in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz erhalten zu haben und ihm auch Gelegenheit zur Angabe von Gründen gegeben worden ist, die einer Prüfung seines Antrags in diesem Staat entgegenstehen. Mit dem bloßen Einwand, dies überzeuge nicht, legt die Beschwerde einen weitergehenden Klärungsbedarf nicht dar.
Rz. 8
Ob abweichend davon im Anschluss an die Befragung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vor Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine weitere Anhörung erforderlich ist, wenn das Bundesamt erst im Anschluss an die Dublin-Befragung Kenntnis von dem bereits zuerkannten Schutzstatus erlangt hat, ist im Streitfall bereits nicht entscheidungserheblich. Denn nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts, die auch die Beschwerde bestätigt, hat der Kläger bereits bei der Befragung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats selbst angegeben, dass ihm in Bulgarien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. Dessen ungeachtet ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass die Pflicht zur persönlichen Anhörung nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht erfordert, dass das Bundesamt nach Erhalt entsprechender Belege oder Indizien für eine Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat noch einmal ausdrücklich Gelegenheit gibt, zu diesen und der aufgrund dessen beabsichtigten Unzulässigkeitsentscheidung Stellung zu nehmen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. August 2017 - 1 C 37.16 - juris Rn. 31; Urteil vom 21. November 2017 - 1 C 39.16 - BVerwGE 161, 1 Rn. 34). Dieser vom Senat auch in einem Vorlagebeschluss vertretenen Rechtsauffassung hat der Gerichtshof in seiner darauf ergangenen Vorabentscheidung nicht widersprochen (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed und Omar -).
Rz. 9
Weitergehenden grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde mit dem Hinweis auf die Entscheidung des Gerichtshofs zum Anhörungserfordernis vor Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17 [ECLI:EU:C:2020:579], Addis -) nicht auf; sie legt insbesondere nicht dar, aus welchen Ausführungen des Gerichtshofs sich weitergehende Anforderungen an eine Anhörung ergeben sollen.
Rz. 10
2. Die Revision legt auch keinen abstrakten rechtlichen Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage dar,
"ob in vergleichbaren Verfahren eine Bezugnahme auf eine ältere Entscheidung zulässig ist, gerade auch vor dem Hintergrund, dass in allen Mitgliedstaaten aufgrund der Corona-Pandemie gravierende Veränderungen eingetreten sind".
Rz. 11
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist grundsätzlich geklärt, dass die Verwaltungsgerichte ihre Entscheidung in asylrechtlichen Verfahren - namentlich bei der Beurteilung der Frage, ob einem Antragsteller in einem Land, in das er abgeschoben werden soll, Gefahren oder Lebensbedingungen drohen, die einer Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC gleichkommen - auf möglichst aktuelle, gegebenenfalls auch "tagesaktuelle" Tatsachengrundlagen stützen müssen (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 27. März 2017 - 2 BvR 681/17 - juris Rn. 12 und vom 9. Februar 2021 - 2 BvQ 8/21 - juris Rn. 7; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 17. September 2019 - 1 B 43.19 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 120 Rn. 45).
Rz. 12
Unionsrecht gebietet ebenfalls, dass bei der Entscheidung über einen Asylantrag genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen wie etwa EASO und UNHCR sowie von einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen eingeholt werden, die Aufschluss geben über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller (Art. 10 Abs. 3 Buchst. b RL 2013/32/EU; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim - juris Rn. 88; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a., Hamed und Omar - juris Rn. 38 und Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - juris Rn. 52). All dies ändert aber nichts daran, dass die Frage, ob das Tatsachengericht die Einholung neuer Erkenntnisse für erforderlich erachtet, seiner auch revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren fachgerichtlichen Einschätzung unterliegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. September 2019 - 1 B 43.19 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 120 Rn. 45).
Rz. 13
Einen weitergehenden fallübergreifenden Klärungsbedarf zeigt die Beschwerde auch mit dem Hinweis auf gravierende Veränderungen in allen Mitgliedstaaten aufgrund der Corona-Pandemie nicht auf. Eine auf den konkreten Fall bezogene Aufklärungsrüge hat der Kläger nicht erhoben.
Rz. 14
3. Die Beschwerde hält weiter für klärungsbedürftig,
"ob die Zuständigkeit für den Kläger inzwischen nach Art. 2 Abs. 4 und Art. 4 des Europäischen Übereinkommens zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge auf Deutschland oder nach Art. 28 der Genfer Konvention (GK) in Verbindung mit § 11 Anhang GK auf Deutschland übergegangen ist",
"ob zum einen für den Eintritt der Wirkungen aus dem EATRR beide beteiligten Staaten Vertragsstaaten sein müssen oder es ausreicht, wenn der Staat, in dem der Flüchtling sich mit Billigung der Behörden seit mehr als 2 Jahren oder über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten nach Ablauf des von dem anderen Staat ausgestellten Aufenthaltstitels aufhält, Vertragsstaat ist" und
"ob auch in diesem Fall § 11 des Anhangs zur GK einschlägig und zu einer Verpflichtung der deutschen Behörden führt, dem Kläger nunmehr ohne Durchführung eines - weiteren - Asylverfahrens eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 1. Alt. zu erteilen."
Rz. 15
Diese Fragen führen schon deshalb nicht zur Zulassung der Revision, weil die Beschwerde deren Entscheidungserheblichkeit nicht hinreichend darlegt. Hinsichtlich der - vom Oberverwaltungsgericht nicht geprüften - Frage eines "Übergangs der Zuständigkeit für den Kläger" nach Art. 2 Abs. 4 und Art. 4 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge fehlt es an jeglichen Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit.
Rz. 16
Zu dem hilfsweise als klärungsbedürftig erachteten Verantwortungsübergang nach Art. 28 GK i.V.m. § 11 Anhang GK räumt der Kläger selbst ein, dass ein solcher Übergang auf die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids "möglicherweise" keine Auswirkungen hätte; Gründe, warum dies dennoch die Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung begründen könnte, werden nicht benannt. Hinsichtlich der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides beschränkt sich die Begründung der Entscheidungserheblichkeit auf die Behauptung, diese wären im Falle eines Übergangs der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises nach Art. 28 GK i.V.m. § 11 Anhang GK aufzuheben, weil dem Kläger dann eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Alt. 1 AufenthG zu erteilen sei. Warum die Abschiebungsandrohung durch einen solchen Verantwortungsübergang rechtswidrig werden soll, hätte indes näherer Darlegung bedurft. Denn in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wird verbreitet die Auffassung vertreten, die Frage der rechtlichen (Un)Möglichkeit einer Abschiebung wegen Übergangs der Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach Art. 2 des o.g. Übereinkommens sei im asylrechtlichen Verfahren - auch bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung - nicht zu prüfen, weil es sich insoweit allenfalls um ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis handele (vgl. etwa VGH München, Beschluss vom 3. Dezember 2019 - 10 ZB 19.34074 - juris Rn. 6; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. August 2018 - 8 ME 42/18 - juris Rn. 25; VG Gießen, Urteil vom 28. Januar 2021 - 8 K 6487/17.GI.A - juris Rn. 43; a.A. VG Gießen, Urteil vom 19. August 2020 - 6 K 9437/17.GI.A - juris Rn. 25). Damit setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.
Rz. 17
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Dokument-Index HI15100496 |