Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Urteil vom 08.09.2003; Aktenzeichen 9 B 01.30379) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Beteiligten wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. September 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
Die Beschwerde hat mit Verfahrensrügen Erfolg (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das angefochtene Urteil verletzt die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) und die Begründungspflicht (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Wegen dieser Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung beruht, weist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zurück.
Die angefochtene Entscheidung weicht allerdings nicht – wie die Beschwerde meint – von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative ab. Gegen eine Abweichung spricht schon, dass sich das Berufungsgericht maßstabsbildend auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Juli 2002 – BVerwG 1 B 128.02 – (Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326) bezieht (UA S. 12). Aber auch sonst liegt keine ausdrückliche oder stillschweigende Divergenz vor. Zwar weist die Beschwerde zutreffend darauf hin, dass die angefochtene Entscheidung den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts unvollständig zitiert, indem sie bei der Unzumutbarkeit eines Lebens, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, das Merkmal “auf Dauer” weglässt. Missverständliche Formulierungen verwendet die angefochtene Entscheidung auch bei der Subsumtion unter den in Bezug genommenen Maßstab des Bundesverwaltungsgerichts. Denn sie stellt darauf ab, dass den Klägern “auf absehbare Zeit” ein ihnen nicht zumutbares Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums drohe (UA S. 16), während es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darauf ankommt, dass ein solches Dahinvegetieren auf nicht absehbare Zeit droht und auch nicht durch Überwindung von Anfangsschwierigkeiten behoben werden kann (vgl. Urteile vom 30. April 1991 – BVerwG 9 C 105.90 = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 145, vom 16. Juni 1988 – BVerwG 9 C 1.88 = InfAuslR 1989, 107 und vom 6. Oktober 1987 – BVerwG 9 C 13.87 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 72). Daraus lässt sich indes ein grundsätzlicher Widerspruch zu den zitierten Entscheidungen nicht ableiten. Der Sache nach geht nämlich auch das angefochtene Urteil ersichtlich davon aus, dass den Klägern nicht nur für eine absehbare Übergangszeit, sondern für eine nicht absehbare Zeit ein unzumutbares Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums droht, weil sie “angesichts der besonders ungünstigen Voraussetzungen der Kläger” nicht hoffen könnten, das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige durch Zuwendungen oder durch eigene Arbeit zu erlangen, und dadurch in eine “ausweglose Lage” gerieten (UA S. 15 f.). Der Senat weist ferner darauf hin, dass ein verfolgungssicherer Ort nur dann als inländische Fluchtalternative ausscheidet, wenn den Klägern dort die näher beschriebenen existenziellen Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Es reicht nicht aus, dass die Gefahr nur im Bereich des Möglichen liegt (Urteil vom 5. Oktober 1999 – BVerwG 9 C 15.99 – BVerwGE 109, 353 ≪355 f.≫; Beschluss vom 3. August 1989 – BVerwG 9 B 266.89 – Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 12).
Zu Recht sieht die Beschwerde aber eine Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) darin, dass das Berufungsgericht ohne jegliche Bezugnahme auf ihm vorliegende Erkenntnisquellen die Feststellung getroffen hat, den Klägern drohe an ihrem Herkunftsort in Aserbaidschan keine vergleichbare existenzielle Gefährdung, wie sie das Gericht für die Fluchtalternative in Berg-Karabach festgestellt habe. Das angefochtene Urteil stellt hierzu fest, dass es zwar ungewiss sei, ob die Kläger wieder in dem früher von ihnen bewohnten Haus in T. (Aserbaidschan) wohnen könnten. Ihnen käme aber zugute, dass sie bei der Suche nach Obdach und Arbeit generell mit der Hilfe und Unterstützung von Freunden und Verwandten oder auch früherer Arbeitgeber der Klägerin rechnen könnten. Zumindest sei zu erwarten, dass die Klägerin – wie vor ihrer Flucht im Juni 2000 – mehr als das zum Leben Nötigste durch die Aufnahme einer nicht legalen Arbeit verdienen könne und mit ihrem Sohn nicht nur am Rande des Existenzminimums dahinvegetieren müsse (UA S. 16). Es ist vom Berufungsgericht weder näher dargelegt noch sonst ersichtlich, dass es über die erforderliche Sachkunde verfügt, ohne Rückgriff auf ihm vorliegende oder noch einzuholende Erkenntnismittel die Lebensbedingungen für die Klägerin als armenische Volkszugehörige und ihren Sohn an deren Herkunftsort in Aserbaidschan beurteilen zu können (zur Notwendigkeit des Belegs eigener Sachkunde des Tatsachengerichts vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Juli 2002 – 1 B 128.02 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326; Beschluss vom 27. Februar 2001 – BVerwG 1 B 206.00 – ≪juris≫; Beschluss vom 27. März 2000 – BVerwG 9 B 518.99 – InfAuslR 2000, 412; jeweils m.w.N.). Der angefochtene Beschluss enthält auch sonst keine hinreichende Begründung für die Prognose, dass die für Berg-Karabach angenommene Gefährdung am Herkunftsort der Kläger so nicht bestünde (zu den Anforderungen an eine derartige Prognoseentscheidung vgl. Urteil vom 20. November 1990 – BVerwG 9 C 72.90 – BVerwGE 87, 141 ≪149 ff.≫). Darin liegt hier zugleich ein Begründungsmangel gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO, wie die Beklagte der Sache nach zu Recht zusätzlich rügt.
Unterschriften
Eckertz-Höfer, Hund, Prof. Dr. Dörig
Fundstellen